Haubfleisch, Dietmar: Adolf-Reichwein-Archiv jetzt in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin. Marburg 1997: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1997/0015.html - U.d.T. "Adolf-Reichwein-Archiv jetzt in Berlin" auch in: Rundbrief der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Jg. 6 (1997), Brief 2: November 1997, S. 57-59.


Dietmar Haubfleisch

Adolf-Reichwein-Archiv jetzt in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin

Adolf Reichwein, geb. am 03.10.1898 in Bad Ems, war in der Zeit der Weimarer Republik Leiter der Volkshochschule in Jena (1923-1929), persönlicher Referent des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker in Berlin (1929/30) und Professor an der Pädagogischen Akademie in Halle/Saale (1930-1933). Von den Nationalsozialisten aus seinem Hochschulamt entfernt, ging er im Herbst 1933 als Lehrer an die einklassige Landschule in Tiefensee/Kreis Oberbarnim, wo er ein Muster moderner Landschulpädagogik entwickelte. Nach 1939 als Museumspädagoge am Volkskundemuseum in Berlin tätig, führte ihn sein aktiver Widerstand gegen das NS-Regime in den "Kreisauer Kreis". Am 20.10.1944 wurde Adolf Reichwein zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Bereits seit 1946 bemühten sich Freunde Adolf Reichweins, die Dokumente seines Wirkens für die Nachwelt zu sammeln und zu bewahren. Durch das Sammeln von Briefen, Fotos und Zeitzeugen-Berichten legten sie den Grundstock für das heutige "Adolf-Reichwein-Archiv". Dieses Archiv wurde bis 1976 von Prof. Hans Bohnenkamp an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück verwaltet und nach dessen Tod von Prof. Wilfried Huber an der Pädagogischen Hochschule Münster weitergeführt. Nach dessen frühzeitigem Tod 1986 übernahm es zunächst Prof. Roland Reichwein in Münster. 1989 kam das Archiv als Depositum in die Universitätsbibliothek Marburg, da man in Marburg die Möglichkeit sah, daß hier tätige, an der Reichwein-Forschung interessierte Wissenschaftler das Archiv für ihre Arbeiten nutzen, verwalten und aufbereiten würden [Anm. 1]. Im Mai dieses Jahres fand das Archiv nun seinen dauerhaften Standort in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin [Anm. 2].

Die Verlagerung geschah auf Bitten des Adolf-Reichwein-Vereins, der Eigentümer des Archivs ist. Der Verein erwartet sich von der Verlagerung des Archivs, daß das rege wissenschaftliche und kulturelle Leben in der Hauptstadt Berlin, in deren Stadtgebiet und Umland fünf Universitäten und Hochschulen und zahlreiche wissenschaftliche Institutionen liegen, die Erschließung und Nutzung des Archivs wesentlich befruchten wird. Motiviert wurde der Umzug auch durch die Tatsache, daß Berlin die letzte Wirkungsstätte Adolf Reichweins war. Schließlich erschien die BBF als adäquater Aufbewahrungsort für das Archiv. In der 682.000 Bände umfassenden zweitgrößten pädagogischen Spezialbibliothek Europas findet sich ein einmaliger Quellenbestand zur Bildungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Das Archiv der BBF enthält bereits zahlreiche Nachlässe von Pädagoginnen und Pädagogen, so u.a. die von Friedrich Fröbel und Adolf Diesterweg.

An der feierlichen Übergabe des Archivs nahm - neben anderen Persönlichkeiten - auch die Witwe Adolf Reichweins teil, die in Berlin wohnt und sich befriedigt über das neue Domizil des Archivs äußerte. Die Ansprachen von Prof. Dr. Joachim Bodag, Prof. Dr. Roland Reichwein und dem Leiter der BBF, Christian Ritzi, widmeten sich Adolf Reichwein, der Geschichte des Adolf-Reichwein-Archivs und der Geschichte der BBF [Anm. 3]. Die über 60 Gäste der Veranstaltung konnten sich bei einer Besichtigung des Archivs von der angemessenen Unterbringung in den klimatisierten Räumlichkeiten überzeugen.

Inhaltlich umfaßt das Archiv heute u.a. 800 Briefe Adolf Reichweins aus den Jahren 1914 bis 1944 (zum größten Teil im Original), außerdem Dokumente und Aktennamterial in Abschriften und Kopien aus verschiedenen Archiven in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR; darunter Reichweins Personalakte und die Schulakten von Tiefensee. Es enthält fast vollständig die knapp 300 Titel zählende Primärliteratur und eine große Auswahl der ständig wachsenden Zahl von Sekundarschriften; ferner verwahrt das Archiv eine Sammlung von rund 60 hand- oder maschinengeschriebenen Freundeserinnerungen und eine reichhaltige Bildsammlung, ergänzt durch eine breitgestreute Sammlung zeitgeschichtlicher Hintergrundliteratur. Schließlich befinden sich im Archiv zwei Ausstellungen zu Leben und Werk Adolf Reichweins, die als Wanderausstellungen konzipiert sind und beim Adolf-Reichwein-Verein angefordert werden können.

27. Juni 1997


Anmerkungen:

[Anm. 1:]
Bereits 1984 (03.-21.10.) wurde in der Universitätsbibliothek Marburg eine Adolf-Reichwein-Ausstellung gezeigt; s. dazu die Presseerklärung der UB Marburg vom 01.10.1984: http://archiv.ub.uni-marburg.de/presse/1984/1984-01.html -

In den 'Marburger Jahren' des Archivs entstanden zahlreiche Publikationen über Adolf Reichwein, von denen insbesondere die zahlreichen Arbeiten Ullrich Amlungs und hier vor allem dessen zweibändige Reichwein-Biographie hervorzuheben sind: Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers (=Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 12 und 13), Frankfurt 1991. -

Was die Publikationstätigkeit der UB Marburg anbelangt, so sei darauf hingewiesen, daß die Vorträge, in denen Marburger Wissenschaftler in einer akademischen Feierstunde anläßlich des Umzuges des Reichwein-Archis nach Marburg an das Leben und Werk des Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandkämpfers erinnerten, in Bd. 50 der "Schriften der Universitätsbibliothek Marburg" abgedruckt wurden; und daß als Bd. 54 der "Schriften" die von Ullrich Amlung erarbeitete "Personalbibliographie" Adolf Reichweins, eine überarbeitete Fassung der in Amlungs Dissertation veröffentlichten Bibliographie, erschienen ist: Adolf Reichwein 1898-1944. Reformpädagoge, Volkskundler, Widerstandskämpfer. Vorträge im Rahmen einer Akademischen Feierstunde anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs am 1. Dezember 1989 (=Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 50), Marburg 1990. - Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Eine Personalbibliographie (=Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 54), Marburg 1991. - S. zu beiden Veröffentlichungen: Dietmar Haubfleisch: [Rezension zu:] Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Eine Personalbibliographie (=Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 54), Marburg 1991. - Adolf Reichwein 1898-1944. Reformpädagoge, Volkskundler, Widerstandskämpfer. Vorträge im Rahmen einer Akademischen Feierstunde anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs 1. Dezember 1989. Red. Ullrich Amlung und Walter Wagner (=Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 50), Marburg 1990. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Jg. 41 (1991), S. 374-376. - Auch: Marburg 1997: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1997/0003.html -

Darüber hinaus wurde in den "Hausmitteilungen" der Universitätsbibliothek Marburg, dem "Vorgänger" der "Marburger Bibliotheksinformationen", in einer eigenen Rubrik mehrfach "Aus dem Adolf-Reichwein-Archiv" berichtet: [Anm. 2:]
Die drei Reden, die bei der feierlichen Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die BBF gehaltenen wurden, sind in den "Marburger Bibliotheksinformationen" abgedruckt und zudem im elektronischen Textarchiv der Universitätsbibliothek Marburg verfügbar: Die beiden ersten Reden enthalten eine Reihe von Informationen und Sichtweisen zu Geschichte und Bedeutung des Adolf-Reichwein-Archivs sowie zum Selbstverständnis des Adolf-Reichwein-Vereins . Die letzte Rede handelt weniger von Adolf Reichwein, als von der Geschichte der BBF. In ihr wird auf der Basis einer spannenden, neu entdeckten Quelle über ein Kapitel Bibliotheksgeschichte berichtet, wie es in der Literatur bislang selten dargestellt wurde.

[Anm. 3:]
Siehe Anm. 2.