Christian Ritzi: Bombendrohung und Bestandsverlagerung. Die einstige Deutsche Lehrerbücherei (heute: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung) im 2. Weltkrieg. Vortrag anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997.
In: Marburger Bibliotheksinformationen. Mitteilungen für das Bibliothekssystem der Philipps-Universität .
Marburg. Jg. 3 (1997), Heft 2: Juli, S. 17-20. -
http://archiv.ub.uni-marburg.de/mbi/1997/m03-2-04.html
Christian Ritzi
Bombendrohung und Bestandsverlagerung
Die einstige Deutsche Lehrerbücherei (heute: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung) im 2. Weltkrieg. Vortrag anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997 [Anm. 1]
Als Adolf Reichwein 1944 zusammen mit anderen
Widerstandskämpfern ermordet wurde, war wohl die letzte
Chance vertan, um die endgültige Katastrophe abzuwenden. Von
der Katastrophe waren zunächst und vor allem Menschen in
unterschiedlichem Maß betroffen. Darüber hinaus wurden
jedoch, das ist gerade hier in Berlin sehr schmerzlich
bewußt, viele Sachwerte, Gebäude und vor allem
kulturelle Werte zerstört. Ein besonders tragisches Beispiel
aus dem pädagogischen Bereich stellt die nahezu
vollständige Vernichtung des Buchbestandes der Leipziger
Comenius-Bücherei dar. Etwa 350.000 Bände verbrannten
infolge eines Bombenangriffs am 4. Dez. 1943.
Wie erlebte und erlitt die zum Deutschen Institut für
Internationale Pädagogische Forschung gehörige
Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung bzw. ihre
Vorgängereinrichtung, die Deutsche Lehrerbücherei, die
Kriegsjahre - jene schrecklichsten Jahre des Hitlerregimes?
Der Bestand der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche
Forschung geht auf die Sammlung der Deutschen Lehrerbücherei
zurück, die 1875 in Berlin vom Deutschen Lehrerverein
gegründet wurde. Die Aufgabenstellung der Deutschen
Lehrerbücherei umfaßte zunächst die Unterstützung von Aus- und Weiterbildungsbedürfnissen
der Volksschullehrer. Darüber hinaus war der Aufbau einer
Bibliothek konzipiert worden, die erziehungswissenschaftlichen
Forschungszwecken zu genügen hatte. Deshalb sollten
Schulbücher und schulpraktische Schriften ebenso gesammelt
werden wie erziehungswissenschaftliche Literatur und
pädagogische Quellenschriften. Die Ausstrahlung der
Bibliothek sollte nicht nur auf die engere Region beschränkt
bleiben, sondern sich - entsprechend ihrer Namensgebung - auf das
ganze Deutsche Reich ausdehnen. Die Realisation dieser Zielsetzung
wird durch den regen Fernleihverkehr dokumentiert.
1908 konnte die Bibliothek mit ihrem bis dahin erworbenen Bestand
von rund 40.000 Bänden in den Gebäudekomplex des Deutschen Lehrervereinshauses umziehen, in dem sie bis 1945 verblieb.
Die Bibliothek umfaßte zu diesem Zeitpunkt einen Bestand von
rund 200.000 Bänden. Von großem Wert war die Sammlung
alter Drucke, die bis zur Inkunabelzeit zurückreichte. Neben
Büchern enthielt die Bibliothek eine einmalige Sammlung an
Handschriften, Bildern und Münzen mit pädagogischem Bezug.
Im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung
befindet sich ein einmaliges Dokument, das von der Endphase des
Hitlerregimes einen Eindruck vermittelt, in welcher Weise die Bibliothek vom Krieg bedroht und betroffen war. Es handelt sich um
ein Bibliothekstagebuch, das vom 1. Januar 1942 bis zum November
1944 geführt wurde. Das Tagebuch wurde vom damaligen Bibliotheksleiter Hanns Beckmann geschrieben, der im Januar 1942 die
Leitung der Deutschen Lehrerbücherei übernommen hatte.
Beckmann war, dies geht unmißverständlich aus seinem
Lebenslauf und dem Tagebuch hervor, ein überzeugter Nationalsozialist. Ohne eine solche Einstellung wäre er wohl auch
nicht zum Leiter einer so bedeutenden Bibliothek ernannt worden,
wie sie die Deutsche Lehrerbücherei darstellte.
Die folgenden Passagen stellen Auszüge aus dem Tagebuch dar.
Eine vollständige Publikation ist für die nächste
Zeit geplant.
16. Januar 42:
Mittag von 12.35 bis 13.15 Uhr Luftalarm.
1. August 42:
Der Büchereinkauf geht immer mehr zurück.
Die Beschränkung der Buchproduktion und die
Papierkontingentierung wirken sich doch sehr aus. Einige Zeitschriften haben ihr Erscheinen eingestellt.
20. September 42:
Bisher im Laufe des Monats 2 Fliegeralarme.
.... März 43:
Der NS-Lehrerbund wird mit allen seinen
Dienststellen im ganzen Reich stillgelegt, was einer
Auflösung nahekommt. Gründe für die Stillegung sind
nicht angegeben worden. Vermutlich, um Personal freizumachen
für den totalen Krieg [Anm. 2]. Nicht zur Stillegung kommen
die sozialen Einrichtungen, wozu auch die Deutsche Lehrerbücherei gehört.
5. März 43:
Der Besuch des Lesesaals nimmt zu, da Bücher
kaum noch im Handel zu haben sind.
April - Mai 43:
Der Bucheingang ging in beiden Monaten weiter
zurück. Gemäß einer Anordnung müssen alle
Buchhändler Leihabteilungen einrichten, um so das Schrifttum
allen Volksgenossen zugänglich zu machen.
30. Juli 43:
Gestern erreichte die Bücherei eine Anordnung
der Parteikanzlei, wonach die wertvollen Bücherbestände
zu sichern sind, die verbleibenden Bücher derartig luftschutzmäßig unterzubringen, um möglichst geringe
Verluste bei einem Schadensfalle zu haben. Der Luftterrorkrieg der
Anglo-Amerikaner zwingt zu weitgehenden Sicherungen des
Kulturguts. Der Leiter der Bücherei setzte sich mit mehreren
Lehrerbildungsanstalten in Verbindung, um dort Sicherungsunterkunft erlangen zu können.
28. August 43:
Der Gauschulungsleiter des Gaues Berlin der NSDAP
Pg. Dr. Saberschinski besuchte heute die Bücherei, um sich
über Umfang, Arbeitsweise usw. der Bücherei zu
informieren. Der Gauschulungsleiter war begleitet vom
Gaubeauftragten für das Schrifttum Pg. Uterhardt.
Es wurde vom Gauschulungsleiter (als dem neuen Chef der
Bücherei) verfügt, daß alle alten Drucke auf jeden
Fall sichergestellt werden. Der Gau besorgt für die Sicherung
der Bücherei 200 - 300 Kisten, die dann mit der Bahn
befördert werden.
Mein Vorschlag, die Bücher im Sudetengau unterzubringen, fand
den Beifall des Pg. Dr. Saberschinski.
4. September 43:
In der letzten Nacht ging ein besonders schwererLuftterrorangriff der Anglo-Amerikaner auf Berlin nieder.
9. September 43:
Der Büchereileiter Beckmann fuhr heute mit
der Mitarbeiterin, Frl. Fechner, nach Bensen im Polenztal im Sudetengau, um das dortige Schloß zu besichtigen. Rückkehr
am Sonnabend, dem 11.9.
13. September 43:
Das Schloß, gehörig der Frau Vera
Grohmann in Teplitz-Schönau, ist für die Unterkunft der
Bücherkisten mit den Büchern geeignet. Es können
mehrere 100 Kisten dort sichergestellt werden.
Es wurde heute mit dem Packen der Bücher begonnen.
16. September 43:
Bisher wurden 25 Kisten fertiggemacht.
Bücher werden nicht mehr ausgeliehen. Der Ausleihverkehr ruht
bis nach dem Siege. Bücherverlängerungen werden nur noch
einmal genehmigt.
6. Oktober 43:
Heute wurde die Kiste Nr. 100 gepackt. Damit ist
ein Waggon gefüllt und kann derselbe abgeschickt werden.
10. Oktober 43:
Die Absendung der Bücher ist nicht so
einfach. Es werden erst Rüstungsbetriebe bei der
Waggongestellung berücksichtigt.
30. Dezember 43:
Die Reichshauptstadt wurde in den letzten 6
Wochen durch anglo-amerikanische Terrorbomben heimgesucht und in
einigen Stadtteilen schwere Verwüstungen angerichtet. Am 22.
November d.J. fielen auf das Gebäude der Bücherei 5
Stabbrandbomben, die den Südteil des Dachgeschosses in Brand
setzten. Bücher- oder Zeitschriftenverluste entstanden nicht,
wohl verbrannten Kataloge.
Durch Sprengbomben wurde infolge des entstehenden Luftdrucks das
Dach fast abgedeckt, dem Regen dadurch Einlaß gegeben. Es
mußte daraufhin das gesamte Zeitschriftenmagazin
geräumt werden und die Bestände im 3. Stockwerk
eingelagert werden.
Vom 22.11. bis heute konnte der Dienstbetrieb nur durch
Aufräumungsarbeiten ausgeführt werden. Der Leihverkehr
muß ganz eingestellt werden.
18. Januar 44:
Die Zeitschriftenbestände im 5. Stockwerk
mußten, da der Regen durch das beschädigte Dach
Eintritt hatte, gesichert werden, indem dieselben in das 3. Stockwerk verbracht wurden.
30. Mai 44:
Die Terrorangriffe der Engländer und Amerikaner
werden immer schwerer in der Reichshauptstadt. Hier im
Alexanderviertel waren vermutlich am 19. und 24. Mai besonders
schwere Zerstörungen.
Eine Bombe fiel auf den Hof, konnte aber sogleich gelöscht
werden (24.5.44). Am gleichen Tage ging eine Sprengbombe in das
Mittelgebäude.
21. Juni 44:
Heute erfolgte ein schwerer Terrorangriff auf Berlin
von 9.25 bis 11.15 Uhr. Das gegenüberliegende Haus ging dabei
in Trümmer. Dadurch wurde großer Sachschaden am
Büchereigebäude hervorgerufen, sämtliche Scheiben
zerbrochen, Fensterkreuze herausgerissen, Rolladen im Erdgeschoß zertrümmert usw.
28. Juni 44:
Die Aufräumungsarbeiten nahmen fast 8 Tage in
Anspruch.
Betreffend des Abtransportes der Bücherkisten wurde von der
Gauleitung der NSDAP eine Beschwerde an den Reichsbahnpräsidenten abgesandt. Hoffentlich hat die Beschwerde Erfolg, damit die
Bücher endlich wegkommen.
Im Ausleihraum wurden neue Bücherregale für die neueren
Romane aufgestellt. Diese Bücherregale kommen aus dem
Gebäude Alexanderplatz 4, der ehemaligen Gauwaltung des NSLB.
Indessen setzte am 6. Juni die Invasion der Anglo-Amerikaner ein,
auch wurde endlich mit unserer Vergeltung begonnen auf London und
Südengland durch Einsatz von "V1".
6. Juli 44:
Gestern traf die Mitteilung ein, daß nun endlich
die Bücherkisten in Bensen geliefert werden können.
10. Juli 44:
Es fahren heute der Büchereileiter, Frl.
Fechner, die Herren Schaaf und Jaensch nach Bensen zwecks
Unterbringung des ersten Waggons Bücherkisten, der nach
Bensen abging.
19. Juli 44:
Heute wurde der zweite Waggon mit Bücherkisten
verladen.
24. Juli 44:
Die wertvollsten Bestände der Bücher sind
nun gesichert.
Die Bücher sind untergebracht im oberenSalhausenschloß, einer 1283 bereits bestehenden
Schloßanlage, die 1522 neu aufgebaut wurde.
10. September 44:
Infolge des totalen Einsatzes aller Männer
und Frauen des deutschen Volkes, kommen auch gemäß
einer Anordnung des Gaues Berlin der NSDAP die Angestellten der
Deutschen Lehrerbücherei zum Einsatz in die
Rüstungsindustrie.
12. September 44:
Jeglicher Urlaub für die Schaffenden ist ab
sofort gesperrt. Einige Ausnahmen bleiben, z.B. Personen über
65 Jahre, Krankheit.
18. September 44:
Heute kamen drei Angestellte zum Einsatz (in die
Rüstungsindustrie - C.R.). Zurück bleiben der Leiter,
der Kassenwalter und die Reinmachefrau. Der ehrenamtlich
tätige Berufskamerad Anton Kötschi kam zum Einsatz
für Flaghelfer nach Bad Dürenburg in Sachsen.
8. Oktober 44:
Neben den laufenden Arbeiten werden die
Beschriftungen der Zeitschriftenbestände durchgeführt.
Eine ungeheure Arbeit, die aber notwendig ist, um endlich die
Zeitschriften sofort finden zu können.
Die sonstigen Arbeiten konzentrieren sich auf Erhaltung, Sicherung
und Konservierung der Buchbestände, die hier verblieben sind.
26. Oktober 44:
Der Führer hat den deutschen Volkssturm
aufgerufen. Herr Beckmann und Herr Schaaf haben sich sofort
freiwillig gemeldet. Leider wurde Herr Schaaf von der
Musterungskommission nicht für tauglich befunden. Herr
Beckmann wurde als Bataillonsführer des Bataillons II eingegliedert. Herr Laasch von der Kassenverwaltung kommt infolge
seines Alters nicht in Betracht.
2. November 44:
Die meisten Zeitschriften stellen ihr Erscheinen
ein. Es bleiben einige wenige als kriegswichtig bestehen.
Damit endet das Tagebuch. Was aus dem Bibliotheksleiter Beckmann wurde, ob er als Volkssturmmitglied getötet wurde oder
überlebt hat, wissen wir derzeit noch nicht.
Die Bibliothek war in diesen Jahren hochgradig bedroht. Und ganz
ohne Schaden ist es auch nicht abgegangen. Als die Bibliothek
für Bildungsgeschichtliche Forschung 1994 an ihren heutigen
Standort in die Warschauer Straße zog, wurden in einigen
Büchern noch Granatsplitter gefunden, die vermutlich von dem
Angriff am 22. November 1943 herrührten.
Die Kriegsschäden am Gebäude zwangen die Bibliothek nach
Kriegsende, den nun auf 200.000 Bände angewachsenen Bestand
in einem Schulgebäude im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg
unterzubringen. Nach einer weiteren provisorischen Unterbringung
in der Mühlenstraße zog die Deutsche Lehrerbücherei, die 1950 in die Pädagogische Zentralbibliothek
integriert worden ist, in das Haus des Lehrers am Alexanderplatz.
1994 schließlich fand der letzte Umzug der Bibliothek statt.
Die mit 686.000 Bänden größte pädagogische
Forschungs- und Spezialbibliothek befindet sich nun in der
Warschauer Straße.
Von den ausgelagerten Beständen wurde fast die gesamte
Sammlung der alten Drucke wieder zurückgegeben. Dagegen ging
der größte Teil der Handschriften und nahezu alle
Bilder und Münzen verloren. Ob diese Dokumente noch irgendwo
existieren, ist eine Frage, die weiteren Forschungsarbeiten vorbehalten bleibt.
Anmerkung:
[Anm. 1]
S. zur Verlagerung des Adolf-Reichwein-Archivs von der Universitätsbibliothek Marburg an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) auch die entsprechende Presseerklärung der Universitätsbibliothek Marburg vom 27.06.1997.
[Anm. 2]
Am 18. Februar 1943 rief Goebbels in seiner berüchtigten Rede
im Berliner Sportpalast zum "totalen Krieg" auf.