Joachim Bodag: Ansprache anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997. In: Marburger Bibliotheksinformationen. Mitteilungen für das Bibliothekssystem der Philipps-Universität . Marburg. Jg. 3 (1997), Heft 2: Juli, S. 14. - http://archiv.ub.uni-marburg.de/mbi/1997/m03-2-02.html

Joachim Bodag (Vorsitzender des Adolf-Reichwein-Vereins)

Ansprache anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997 [Anm. 1]

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Im Namen aller Mitglieder des Adolf-Reichwein-Vereins möchte ich mich beim Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung recht herzlich dafür bedanken, daß unser Adolf-Reichwein-Archiv hier in diesem Hause ein neues Domizil gefunden hat. Ich muß gestehen, daß mich das persönlich tief bewegt. War es noch die gleiche Bibliothek - wenn auch damals in einem anderen Hause und mit anderem Namen - wo ich vor mehr als 40 Jahren als junger Lehrer im Katalog nach Schriften von Adolf Reichwein suchte. Ich hatte damals schon in Zeitschriften von diesem außergewöhnlichen Menschen gelesen. Und vor allem hatte mir in jenen Jahren Friedrich Bisnky, ein älterer sozialdemokratischer Lehrer und väterlicher Freund, viel über Reichweins Leben und Schaffen erzählt. Er hatte Adolf Reichwein noch persönlich kennengelernt, denn er war als Lehrer bis 1933 Reichweins Vorgänger in Tiefensee und wurde als SPD-Mitglied ebenfalls strafversetzt, aus Tiefensee weg. Von ihm erfuhr ich einiges über die Jugend Reichweins, über seine Kriegserlebnisse und die schwere Verwundung. Ich hörte von seiner Tätigkeit in der thüringischen Volkshochschule, von seiner Arbeit im preußischen Kultusministerium unter Carl Heinrich Becker und von seinen abenteuerlichen Reisen und Fahrten. Tief beeindruckt war ich, als ich von der lebendigen Lehrtätigkeit Reichweins als Professor an der Pädagogischen Akademie Halle erfuhr. Und bewegt hat mich die Tatsache, daß er 1933 als SPD-Mitglied von den Nazis aus dem akademischen Lehramt entlassen wurde und als Lehrer an die einklassige Dorfschule nach Tiefensee ging. Und wie er dort, mitten in der nationalsozialistischen Diktatur, eine Insel freiheitlicher Erziehung und Bildung entwickelte, die bald die innere Größe einer pädagogischen Provinz gewann, das erfüllte mich mit Bewunderung.

So erfuhr ich damals auch von seinem späteren Wirken als Museumspädagoge in Berlin und von seinem Anschluß an den Kreisauer Kreis, jener Widerstandsgruppe, die sich um den Grafen Moltke geschart hatte, in der Reichwein Verbindung mit dem kommunistischen Widerstand um Anton Saefkow und Franz Jacob suchte. Und erschüttert war ich, als sich erfuhr von seiner Verhaftung, seiner mutigen und aufrechten Haltung vor dem berüchtigten Freislerschen Volksgerichtshof, von den Qualen, von dem unmenschlichen Todesurteil und dem unfaßbaren, schrecklichen Ende am Strang. Das alles hat mich damals zutiefst erregt und erregt mich heute noch.

Aber ich erinnere mich auch noch an das glückliche Gefühl, als mir dann etwas später, allerdings in einer anderen Bibliothek, Reichweins "Schaffendes Schulvolk" ausgeliehen wurde. Und was ich dort las, hat mich fasziniert, vor allem seine pädagogische Maxime, daß sich die Eigenständigkeit der Erziehung immer nur in der Unantastbarkeit ihrer Ansätze zeige, die vom Kinde stammen und von ihm bestimmt werden. Eine Schule, die durch geistige Selbstbestimmung, aber zugleich auch durch die Entfaltung des freien Willens zur Leistung geprägt war. Als ich das las, öffneten sich mir als Lehrer neue Horizonte. Nächtelang habe ich gelesen und exzerpiert, ganze Passagen des Buches habe ich abgeschrieben, über 40 Seiten, und diese Blätter haben mich mein ganzes Schulmeisterleben begleitet. Aber auch später, als Lehrerbildner an der Universität, erhielt ich immer wieder Impulse und Anregungen aus Adolf Reichweins Schriften. Und heute kann ich nun miterleben, wie unser Adolf-Reichwein-Archiv in die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung aufgenommen wird, und ich wünsche mir, daß es nun auch schöpferisch genutzt wird. Archive sind ja etwas sehr Lebendiges. Sie sollen ja nicht nur bewahren, sondern vor allem überliefern. Ein Wort, das Karl Marx in einem anderen Zusammenhang gesagt hat, gilt sicher auch für Archive: Sie sind das "aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte". Und diese Kräfte muß sich jede Generation neu erwerben, und das heißt immer, das Überlieferte neu zu entdecken, den gegenwärtigen Erfordernissen entsprechend. Das heißt aber auch - und das liegt mir besonders am Herzen - Überliefertes nicht allzu schnell und allzu forsch als veraltet und verstaubt abzutun. Das gilt besonders für überlieferte Werte. Und so hoffe ich, daß hier die humanen Wertvorstellungen Adolf Reichweins für die Gegenwart und Zukunft lebendig erhalten werden.

Adolf Reichwein hat uns im "Schaffenden Schulvolk" gerade zu dieser anspruchsvollen Aufgabe selbst mahnende Worte gesagt. Gestatten Sie mir, daß ich diese zum Abschluß zitiere:

"Die Geschichte des menschlichen Schicksals durch die Jahrhunderte ist nicht so leichtflüssig, daß sich im hurtigen Wechsel von Geschlecht zu Geschlecht neue Werte, auch in der Erziehung, herausspielten. Wertgefüge bleiben kräftiger und dauerhafter im Gewebe des Volkes und seiner Schichten verankert, als manchmal geglaubt wird."



Anmerkung

[Anm. 1]
S. zur Verlagerung des Adolf-Reichwein-Archivs von der Universitätsbibliothek Marburg an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) auch die entsprechende Presseerklärung der Universitätsbibliothek Marburg vom 27.06.1997.