Roland Reichwein: Ansprache anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997. In: Marburger Bibliotheksinformationen. Mitteilungen für das Bibliothekssystem der Philipps-Universität . Marburg. Jg. 3 (1997), Heft 2: Juli, S. 15-17. - http://archiv.ub.uni-marburg.de/mbi/1997/m03-2-03.html

Roland Reichwein (Beirat des Adolf-Reichwein-Vereins)

Ansprache anläßlich der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) am 31. Mai 1997 [Anm. 1]

Wenn ich heute hier bei der Übergabe des Adolf-Reichwein-Archivs von der Universitätsbibliothek Marburg an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin zu Ihnen sprechen darf und nicht, was mindestens ebenso nahe gelegen hätte, der letzte wissenschaftliche Betreuer des Archivs von 1989 bis 1997 in Marburg, Herr Dr. Ullrich Amlung, so kann das nur dann etwas Gutes haben, wenn ich mir ein Thema aussuche, über das ich aus eigener Erinnerung vielleicht etwas mehr sagen kann als Herr Amlung oder andere hier Anwesende. Ein solches Thema kann m.E. nur die Geschichte des Archivs sein, an die ich hier kurz erinnern möchte.

Der Grundstock des Archivs - vor allem Briefe meines Vaters an Freunde und Bekannte, Fotos aus seinem Leben, Freundeserinnerungen und seine Publikationen bis 1943 - wurde schon ab 1946 von meiner Mutter, meinem Großvater Karl Reichwein und den überlebenden Freunden meines Vaters Hans Bohnenkamp, Harro Siegel, Carl Rothe, Albert Krebs u.a. gesammelt. Ich war damals gerade 10 Jahre alt und hatte keine Ahnung davon.

Es gab ja keinen Nachlaß von Adolf Reichwein. Alles, was er selbst aufbewahrt und gesammelt hatte, verbrannte im August 1943 in Berlin, während er zur Beerdigung seiner Mutter in Ober-Rosbach am Taunus weilte und die übrige Familie in den Sommerferien war, oder wurde nach seiner Verhaftung am 4. Juli 1944 beschlagnahmt. Sein Adressbuch wurde von meiner Tante Marianne, in deren Haus in Wannsee er seit der Ausbombung und bis zu seiner Verhaftung wohnte, noch rechtzeitig vor der Gestapo versteckt, vergessen und nie wiedergefunden, bevor das Haus abgerissen und durch ein neues ersetzt wurde. Und die persönliche Bibliothek, die mein Vater von Herbst 1943 bis Sommer 1944 tatsächlich aus Buchgeschenken von Freunden und Buchkäufen in Antiquariaten unermüdlich in Kreisau wieder aufgebaut hat, haben wir dort mit anderen Habseligkeiten im Frühjahr 1945, vor dem Einzug der Roten Armee im Keller des Schlosses eingemauert. Wie wir dann bei unserem ersten Nachkriegsbesuch in Kreisau 1979, 34 Jahre später feststellen konnten, war das Mauerversteck längst entdeckt, aufgebrochen und ausgeräumt worden. So befinden sich die letzten Bücher Adolf Reichweins, wenn sie nicht längst zerstört wurden, heute vielleicht noch in russischen oder polnischen Antiquariaten oder Bibliotheken.

Über die ersten Sammelaktionen in den Nachkriegsjahren gibt es dicke Korrespondenzordner im Archiv, die noch manchen Aufschluß über Adolf Reichwein und seine zahlreichen Freunde geben könnten. Überhaupt ist die Nachkriegs- und Wirkungsgeschichte Adolf Reichweins im geteilten Deutschland, in West- und Ostdeutschland zu einem integralen und quantitativ überwiegenden Bestandteil des Archivs geworden, der noch der Erforschung harrt, wobei der ostdeutsche Bestand noch erweitert werden müßte.

Ich kannte und verehrte die "väterlichen Freunde" und "Gründungsväter" des Archivs alle persönlich, sie haben mein Leben seit meiner Kindheit über Jahrzehnte begleitet. Aber keiner von ihnen hat jemals über die Sammlung, das Archiv mit mir gesprochen, jedenfalls nicht so, daß mir die Bedeutung der Sache bewußt wurde, von der ich vielleicht auch gar nichts hören wollte.

Hans Bohnenkamp wurde 1946 der erste Direktor der neu gegründeten Pädagogischen Hochschule in Celle, der er den Namen Adolf Reichwein gab, und blieb es bis 1954, als die Adolf-Reichwein-Hochschule von Celle nach Osnabrück verlegt wurde. Er übernahm die Aufbewahrung und Verwaltung der Archivsammlung, die mit ihm und seiner Hochschule von Celle nach Osnabrück wanderte.

Carl Rothe, der sich als junger Schriftsteller in den 30er Jahren einen Namen gemacht hatte, plante in den Nachkriegsjahren eine Biographie über Adolf Reichwein, vielleicht auch einen biographischen Roman, der aber nicht zustande kam. Die erste Biographie wurde dann von dem englischen Pädagogen James L. Henderson geschrieben, eine Dissertation, die 1958 auf deutsch erschien. Dort ist bereits von dem Adolf-Reichwein-Archiv die Rede, das Henderson offensichtlich benutzt hat [Anm. 2].

10 Jahre später, Ende der 60er Jahre, begann Ursula Schulz die Arbeit an ihrer verdienstvollen, gründlich recherchierten und kommentierten zweibändigen Ausgabe der Briefe Adolf Reichweins [Anm. 3]. Dadurch erfuhr das Archiv, wie Wilfried Huber später, 1976 schrieb, eine "erhebliche Materialausweitung". Frau Schulz kann daher - neben Ulrich Steinmann am Ostberliner Volkskundemuseum - als Pionierin und Begründerin eines neuen Forschungsgebiets gelten, nämlich der Adolf-Reichwein-Forschung, die also erst in den 70er Jahren begann. Leider habe ich weder Frau Schulz noch Herrn Steinmann persönlich kennengelernt, nur mit ihnen korrespondiert.

Als die Arbeit an der Briefausgabe abgeschlossen war und der erste Archivleiter Hans Bohnenkamp 80 Jahre wurde, übergab er das Archiv 1973 an einen jüngeren Kollegen und Erziehungswissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule in Münster, nämlich an Wilfried Huber, der sich mit seiner 1970 erschienenen Schrift "Adolf Reichwein und das Erziehungsdenken im deutschen Widerstand" ebenfalls als Reichwein-Forscher ausgewiesen hatte [Anm. 4] und nun nicht mehr dem Freundeskreis meines Vaters angehörte.

Als ich dann selber als Soziologe 1976 an die Pädagogische Hochschule in Münster berufen wurde, ich war inzwischen 40, lernte ich dort erstmals Wilfried Huber und das Reichwein-Archiv kennen.

Ich stellte bald fest, daß die Eigentumsverhältnisse an dem Archiv völlig unklar waren und beschloß daher mit Wilfried Huber 1982, einen Verein zu gründen, der als juristische Person das Eigentum an dem Archiv übernehmen und darüber verfügen konnte. Das geschah dann auch im Herbst 1982 mit Zustimmung meiner Mutter und der noch lebenden Freunde meines Vaters, und dieser Schritt sollte sich dann früher als erwartet als richtig und vorteilhaft erweisen.

Wilfried Huber hat das Archiv als erster systematisch ausgebaut, geordnet und katalogisiert. Auch er verfolgte nämlich das Projekt einer Reichwein-Biographie aus deutscher Perspektive. Aber auch er konnte diesen Plan nicht mehr realisieren, da er 1986 völlig überraschend an einer Krebserkrankung verstarb. Nur sein Rohmanuskript ist in Teilen erhalten.

In dieser Situation, in der ich zum überlebenden Vereinsvorsitzenden wurde, erwies es sich als richtig und vorteilhaft, daß der Adolf-Reichwein-Verein und nicht die Hochschule oder gar die Erben Wilfried Hubers über das weitere Schicksal des Archivs entscheiden konnte.

Von 1986 bis 1989 habe ich dann den Verein und das Archiv weitgehend allein geleitet. Die Vereinssatzung, die auf Wilfried Huber zugeschnitten war, sah nämlich vor, daß der vom Verein ernannte Archivleiter in der Nähe des Archivs wohnen sollte. In dieser Zeit begann ich auch selbst, Archivmaterialien zu sammeln, was seinen eigenen detektivischen Reiz, seine eigene Dynamik entfaltet, wenn man erst einmal damit anfängt. Zugleich plante ich die Verlegung des Archivs an einen sicheren Ort, der mich von der Archivleitung entlasten würde.

Zur Auswahl standen schließlich:

  1. der Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Münster, wo sich einige Pädagogen mit bestimmten Reformpädagogen der 20er Jahre, auch mit Adolf Reichwein beschäftigten;

  2. die Universitätsbibliothek in Marburg, wo Adolf Reichwein promoviert hatte und wo die Pädagogen Prof. Wolfgang Klafki und Prof. Hans Christoph Berg eine Neuausgabe der schulpädagogischen Schriften Reichweins (Schaffendes Schulvolk und Film in der Landschule) planten und der junge Volkskundler Ullrich Amlung eine Dissertation über Reichwein schreiben wollte;

  3. das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein bei Witzenhausen an der innerdeutschen Grenze;

  4. das Geheime Preußische Staatsarchiv in Berlin, wo sich z.B. die Nachlässe von Carl Heinrich Becker und Ludwig Pallat befinden.

Die Wahl der Vereinsmitglieder fiel 1989 schließlich auf Marburg, wo Ullrich Amlung die wissenschaftliche Betreuung und Dr. Uwe Bredehorn die Verwaltung des Archivs übernehmen konnten. Ausschlaggebend war, daß in Marburg die größte Aussicht bestand, daß die dort versammelten Wissenschaftler das Archiv zweckentsprechend benutzen, verwalten und aufbereiten würden.

Das hat sich auch in den folgenden Jahren, jedenfalls teilweise, bestätigt: 1991 erschien die zweibändige Dissertation des Leiters Ullrich Amlung über Reichwein, die zugleich endlich die erste deutsche Biographie über ihn darstellt [Anm. 5]. Und 1993 erschien die umfangreich kommentierte Neuausgabe der schulpädagogischen Schriften Adolf Reichweins, bei der Marburger und Münsteraner Pädagogen zusammenwirkten [Anm. 6].

Nach diesen Kraftakten haben sich jedoch die Marburger Möglichkeiten langsam erschöpft. Dr. Ullrich Amlung war schließlich der einzige und letzte in Marburg, der sich - mit Hilfe mühsam beantragter ABM-Kräfte - um das Archiv und den Verein kümmern konnte. Und als Herr Amlung eine Stelle an der Universität Dresden annahm, zwischen Marburg und Dresden pendeln mußte, wurde es Zeit, über eine Alternative, über einen neuen sicheren Hafen für das Archiv mit einem neuen wissenschaftlichen Betreuer nachzudenken.

Wie und warum die Wahl schließlich auf die hiesige Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung fiel, kann ich nicht mehr genau erklären, das könnten die Berliner Vereins- und Vorstandsmitglieder wohl besser. Immerhin war das Archiv der Jugendbewegung, in dem die Nachlässe einiger Freunde Reichweins, z.B. von Fritz Klatt und Hans Bohnenkamp lagern, nach wie vor ein ernsthafter Konkurrent. Es liegt seit der deutschen Wiedervereinigung wieder mitten in Deutschland, mit dem Auto, wenn auch nicht mit der Bahn, gut erreichbar und mit den Universitäten in Kassel und Göttingen in relativer Nähe. Aber wer interessiert sich dort für Adolf Reichwein?

Andererseits hat Berlin als Standort des Archivs nach wie vor viele Vorzüge. Vor allem ist Berlin, die alte Reichshauptstadt, die Stadt, die seit 1922 mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt Adolf Reichweins wurde, die ihn immer wieder anzog und in der sich sein Lebensschicksal vollendete. Es ist die Stadt, in der seit der Wiedervereinigung die westdeutsche und die ostdeutsche Nachkriegs- und Wirkungsgeschichte Adolf Reichweins, die in dem Archiv aufbewahrt sind, wieder zusammenfließen können, wofür freilich der ostdeutsche Anteil weiter ausgebaut werden müßte. Die deutsche Stadt, die - bis hin nach Potsdam - mehr Hochschulen und Universitäten besitzt als jede andere Stadt, deren Professoren und Studenten von dem Archiv Gebrauch machen könnten. Vorausgesetzt, daß die Reichwein-Forschung und die pädagogische Praxis Reichweins an den vielen Berliner Schulen, bei ihren Lehrern noch mehr Anklang und Interesse finden sollten. Und es wird zur Hauptstadt der sog. "Berliner Republik", die zu einem neuen Mittelpunkt Europas zwischen Ost und West werden könnte, ein Ort, wo sich die Anhänger von A. S. Makarenko, J. Korzcak, von M. Montessori und J. Freinet, von K. Hahn, B. Otto, A. Neill und auch von A. Reichwein, um nur einige Reformpädagogen dieses Jahrhunderts zu nennen, begegnen und austauschen könnten.

Insofern stehen hier die Auspizien günstig. Ich wünsche also dem Adolf-Reichwein-Archiv und seiner neuen Heimstatt, der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin, d.h. auch der bildungsgeschichtlichen Forschung in Berlin und der daraus hoffentlich folgenden pädagogischen Praxis in Deutschland, daß sie hier in Berlin die gewünschten Früchte tragen mögen, eine neue Etappe der Wirkungsgeschichte Adolf Reichweins entfalten mögen.

Hier und heute beginnt eine neue Etappe in der 51jährigen Geschichte des Adolf-Reichwein-Archivs.



Anmerkungen:

[Anm. 1]
S. zur Verlagerung des Adolf-Reichwein-Archivs von der Universitätsbibliothek Marburg an die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin) auch die entsprechende Presseerklärung der Universitätsbibliothek Marburg vom 27.06.1997.

[Anm. 2]
Henderson, James L.: Adolf Reichwein. Eine politisch-pädagogische Biographie. Hrsg. von Helmut Lindemann, Stuttgart 1958.

[Anm. 3]
Adolf Reichwein. Ein Lebensbild aus Briefen und Dokumenten.Ausgew. und komm. von Ursula Schulz, 2 Bde., Wolfenbüttel 1974; einbändig, mit gekürztem Kommentarteil auch: München 1974.

[Anm. 4]
Wilfried Huber: Adolf Reichwein und das Erziehungsdenken im deutschen Widerstand. In: Hamburger mittel- und ostdeutsche Forschungen, Bd. 7 (1970), S. 67-128.

[Anm. 5]
Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers (=Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 12 und 13), Frankfurt 1991.

[Anm. 6]
Adolf Reichwein: Schaffendes Schulvolk - Film in der Schule. Die Tiefenseer Schulschriften - Kommentierte Neuausgabe. Hrsg. von Wolfgang Klafki, Ullrich Amlung, Hans Christoph Berg, Heinrich Lenzen, Peter Meyer und Wilhelm Wittenbruch, Weinheim [u.a.] 1993.