Presseinformationen der Universitätsbibliothek Marburg

- Presseinformation vom 01.10.1984 -

Adolf Reichwein
Pädagoge - Wissenschaftler - Widerstandskämpfer
1898 - 1944 - 1984

Ausstellung in der Universitätsbibliothek Marburg vom 3. bis 21. Oktober 1984
aus Anlaß der IV. Schultagung der Kommission Schulpädagogik/Didaktik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Zusammenarbeit mit dem Reichwein-Archiv, Münster.

Die Ausstellung ist ein Beitrag zum 40. Todestag dieses am 20. Oktober 1944 hingerichteten "Pädagogen im deutschen Widerstand".

Die Etappen seines mit 46 Jahren jäh abgebrochenen Lebens sind exemplarisch für viele Menschen seiner Generation, die, von der europäischen Krise des 1. Weltkrieges geprägt, geistig und politisch wach blieben. Sie beleuchten zugleich die pädagogisch-geistigen und wirtschaftlich-politischen Probleme, die Deutschland - in der Mitte Europas - durch die Industrialisierung und die wirtschaftlich-politische Schwerpunktverlagerung in außereuropäische Länder seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gestellt worden sind.

Die Ausstellung zeigt den Weg Reichweins vom hessischen Dorfschulhaus im Wilhelminischen Deutschland über die Weltkriegsteilnahme und das in Marburg mit der Promotion beendete Studium zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, dann den Wechsel 1930 in die Lehrerbildung und 1933 die Verweisung auf eine Landlehrerstelle und schließlich seit 1939 den Weg in die Tätigkeit als Museumspädagoge und zugleich in den planenden und konspirativen Widerstand.

Die früheren Stationen (Hessen, Berlin, Jena) zeigen den in der Jugendbewegung der Vorweltkriegszeit auf Selbstbeherrschung, Naturleben und Kameradschaft gelenkten Gymnasiasten, der sich dieser Bewegung auch als Kriegsfreiwilliger zugehörig fühlt; sie lassen seine frühe Beobachtung der sozialen Probleme und die Überzeugung 1917/18, daß tiefgreifende soziale Reformen mit umfassender Volksbildung zu verbinden seien, ebenso erkennen wie während des Marburger Studiums 1920/21 den zu lebenslangen Freundschaften führenden Anschluß an die "Akademische Vereinigung" (deren Motto "Wissen und Gewissen" ihn auch persöhnlich charakterisiert). In Berlin und Jena wird dann das Bemühen des jungen Erwachsenenbildners um einen undogmatischen personalen Sozialismus deutlich, aber auch generations- und situationsbewußt betriebene pädagogische Arbeit für einen 'Neubau' des republikanischen Deutschlands - immer wieder modellhafte Praxis gestaltend und dabei Liebe zum Konkreten mit einer weiten Perspektive verbindend.

Die mittleren Etappen (Berlin, Halle, Tiefensee - 1929-39) zeigen den Pädagogen nach dem Zwischenspiel als persöhnlicher Referent des preußischen Kulturministers Becker 1929/30 in der Besorgtheit des "europäischen Planetariers" um den Zustand der deutschen und europäischen Dinge beim Aufbau der akademischen Lehrerbildung in Halle a.d. Saale; sie geben - nach der Entscheidung 1933 zur 'inneren Emigration' - Einblick in die "Kopf - Herz - Hand" ansprechende schulpädagogische Modellarbeit im dörflichen Tiefensee 40 km östlich von Berlin, die zunehmend von weitergreifenden Bestrebungen im In- und Ausland begleitet und getragen war von Stufen des 'inneren' und 'ideologischen' Widerstandes.

Seit 1939, in der letzten Phase, geht es um den Aufbau der Abteilung "Schule und Museum" am Volkskundemuseum in Berlin, um eine auf reformpädagogischer Linie entwickelte und als Lehrerfortbildung praktizierte Museumspädagogik mit werkunterrichtlichem Akzent; daneben aber und damit verbunden um einen planenden und schließlich konspirativen Widerstand zur Überwindung des Nationalsozialismus - dies als bildungspolitisch engagiertes und für eine Regierung nach Hitler vorgesehenes Mitglied des Kreises um den Gewerkschaftsführer Leuschner und des Kreisauer Kreises.

Der Versuch aus dem engsten Kreis um Stauffenberg heraus, das Einbeziehen auch kommunistischer Widerstandsgruppen in die Aufstandsbewegung für einen nationalen Neuaufbau zu sondieren, führte kurz vor dem 20. Juli 1944 zu Verrat, Verhaftung, Folter und Hinrichtung. Die 'Kreisauer' Dokumente zur Neuordnung zeigen etwas von den zukunftsweisenden Zielvorstellungen Adolf Reichweins und von seiner Haltung, aus der heraus er - exemplarisch für den pädagogischen und bildungspolitischen Bereich - Widerstand beim Aufkommen und Durchsetzen des Nationalsozialismus geleistet und versucht hat, dieses Herrschaftssystem geistig und politisch von innen heraus zu überwinden.


Wilfried Huber, Leiter des Adolf-Reichwein-Archivs (Münster)