Protokoll der 52. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 96-101

[Datum: , 03.12.1924 - Protokollant: Walter Schramm]


Die 52. Abendaussprache am 3.XII.1924 wurde mit der A-Dur Sonate von Mozart ein- und ausgeleitet. Eine weitere Einleitung gab Herr Blume, es las aus dem neu erschienenen Buche "Der Pestalozzi der Deutschen", herausgegeben von den deutschen Landerziehungsheimen, eine Auswahl aus Lietzens Schriften darstellend [Anm. 1], einige Abschnitte von der Ilsenburger Zeit vor, in denen Lietz von der Verantwortung schrieb, die er gerade bei den Jüngeren in stärkerem Maße tragen mußte, weiter von einer oft vorkommenden Bitterkeit, die auch ihm nicht erspart bleiben sollte, und schließlich von den Feierstunden, die er mit seinen Jungen im Schatten einer uralten Eiche erlebte.

I. Unter dem Punkte Mitteilungen verlas Blume zuerst einen kurzen Gruß von Erwin Sommer aus Argentinien und forderte auf, dieser Anzapfung Folge zu leisten. Heidtmann übernahm die ausführlichere Antwort.

Von der letzten Reise nach Berlin erzählte Blume ausführlicher vom Besuch bei Fräulein Gerhardt, der Leiterin einer städtischen Studienanstalt, die hier ihre eigenen Grundsätze zu verwirklichen sucht. Auf die Frage nach ihren Erfahrungen bei den Abgangsprüfungen - sollte doch diese Reise in unserer Frage, Ministerium oder Provinzialschulkollegium als Prüfungsbehörde, irgend welche Klärung bringen, warnte Fräulein Gerhardt vor dem Provinzialschulkollegium, das selbst ihre Prüfungsbehörde sei. Man kann es bei neuen Versuchen darum nicht empfehlen, weil es bei jeder Neuerung, die vorgeschlagen wird, glaubt, es gehe zuweit gegenüber den Bestimmungen, und darum auch alles Diesbezügliche unterläßt. Im Gespräch erzählte Fräulein Gerhardt, daß es bei ihr doch schon möglich gewesen ist, einer Schülerin auf Grund eines vorgezeigten Halbjahresaufsatzes die fünfte Klausurarbeit bei der Reifeprüfung zu erlassen. Zum Vergleich mit unseren ähnlichen Arbeiten will uns Fräulein Gerhardt einige Arbeiten leihen. Eine andere Ähnlichkeit beider Anstalten ist die Verbindung Griechisch-

((97))

Deutsch, die allerdings bei uns erst angestrebt wird und darum auch nur einen Vertreter augenblicklich aufweist. Bei Fräulein Gerhardt unterrichtet in Griechisch die Tochter des berühmten Altphilologen Wilamowitz-Möllendorf, dessen Lebensziel ebenfalls die Verbindung des griechischen und des deutschen Wesens sei; durch die Tochter kann Wilamowitz-Möllendorf dazu veranlaßt werden, bei unserer Prüfung mit Griechisch als 1. Sprache, während doch sonst Latein diese Rolle einnimmt, an die Behörde ein Gutachten über unsere Leistungen einzureichen, um so dieses Novum den Augen der Prüfungskommission gefällig zu machen. Blume weist ausdrücklich auf diese Beziehungen hin, muß doch gerade durch sie die Frage bei uns wach werden, sind wir dessen auch wert, sind wir selbst auch durch entsprechende Leistungen berechtigt, solche Beziehungen aufzunehmen?

Eine weitere, erfreuliche Mitteilung enthält ein Schreiben des Gartenbaudirektors Brodersen, bei dem man seiner Unentbehrlichkeit halber das Abbaugesetz trotz seiner 70 Jahre nicht in Anwendung brachte, der einzige bekannte Fall in Groß-Berlin. Brodersen beabsichtigt, uns mehrere Tage zur Verfügung zu stellen, um uns in der Ausholzung des Parks zu Gunsten der Schönheit der Insel anzulernen und zu helfen. Es wird die Bildung einer Gruppe zur Baumpflege vorgeschlagen, die auch späterhin ihre erworbenen Kenntnisse in den Dienst der Sache stellen soll. Es melden sich: Blume, Buschke, Dietz, Fritz, Grieger, Grotjahn, Heide, Hobus, Jaesrich, Jandt, Fr. Kalähne, Kroll, Kuttner, Molo, Müller, Noeggerath, Oeser, Samter, Steinauer, Voigt, Wernecke, Woldt. Im Anschluß an "Baumpflege" kann Glasenapp noch von der an diesem Tage stattgefundenen Gerichtsverhandlung über die Holzdiebe berichten, die vor ungefähr einem Jahr mehrere Lebensbäume und dergleichen vollkommen der grünen Zweige beraubt hatten. Der Haupttäter wurde zu 1 Jahr, der Mithelfer zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. In der Tegeler Zeitung soll eine Notiz darüber erscheinen.

((98))

II. Ein Antrag Wernecke fordert die Teilung des Dauerlaufs in 2 Gruppen, damit allen "von wirklichem Interesse durchdrungenen Dauerläufern" die Gelegenheit geboten sei, ihren Dauerlauf weiter auszudehnen und in schnellerem Zeitmaß zurückzulegen. Man hält ihm 1.) entgegen, daß niemandem es untersagt sei, nach Schluß des Dauerlaufs auch noch weiter zu laufen über den Berg und noch einmal um die Insel herum. 2.) weist Erich Ulm auf das einzigartige Interesse hin, das der heutige Dauerlauf gezeigt habe, es sind wegen spärlichen Regens nur 8 Mann zum gemeinsamen Dauerlauf erschienen. Blume weist an dieser Stelle daraufhin, daß hier die Sitte bestanden habe und noch bestehe, daß jeder zum Läuten sich einfindet, erst die Gesamtheit kann festsetzen, ob der Dauerlauf des Regens wegen ausfällt. Ein Vorschlag Schramms, der dann als Antrag formuliert wird, will den Reformatoren des Dauerlaufs entgegenkommen, zugleich aber die Durchführung des in der 50. Abendaussprache so lebhaft begrüßten sportlichen Interesses bewirken. Beim Besuch des Landerziehungsheim Bieberstein [Anm. 2] hatte der Ausschuß die Einrichtung der Sportpause gefunden, die die Zeit zwischen Unterrichtsschluß und Mittagessen durch sportliche Betätigung ausfüllen sollte. Zu der gleichen Zeit könnten wir hier in Scharfenberg unser sportliches Interesse auswirken lassen, und zwar in verschiedenen Gruppen; es wird vorgeschlagen: Eine Laufgruppe - der Antrag Wernecke ist erfüllt, ohne die Einheit des morgendlichen Dauerlaufs zu stören, - ferner eine Springgruppe, Wurf- und Stoß-Gruppe, Turngruppe, vornehmlich Reckturnen, und eine Gymnastikgruppe. Der Antrag Schramm wird mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die Verteilung auf die einzelnen Gruppen wird am nächsten Tage um 1/2 1 Uhr stattfinden.

III. Nach den Weihnachtsferien soll der Handwerksunterricht wieder in vollem Maße aufgenommen werden. In der Buchbinderei schlägt Blume 2 Kurse vor, für

((99))

Anfänger und Fortgeschrittene, ferner wird aus den 1.000 M., die uns vom Ministerium zur Verfügung gestellt worden sind, die aber hauptsächlich für die Fähre verwendet werden müssen, soviel Geld bewilligt, wie zur Anschaffung von Holz, das eine zu bildende Tischlergruppe bearbeiten soll, notwendig ist. Diese Gelegenheit hält der jetzige Werkstattwart für geeignet, erneut seine Beschwerden über den erbärmlichen Zustand der Werkstatt loszulassen, ferner unterbleiben auch erneute Drohungen nicht. "Wenn nicht jeder nach seiner Arbeit die Werkstatt selbst reinigt, wird Erwin Kroll sein Amt niederlegen", worauf ihm geantwortet wird, daß doch solche Drohungen absolut nichts an der Sache ändern, daß diese Drohungen nie die Reinheit der Werkstatt herbeiführen werden. Es herrsche wohl jetzt in Scharfenberg die Ansicht, daß das Niederlegen von Ämtern, Ehrenämtern, am besten die Ordnung wiederherstelle. 2 Fälle dieser Art, das Niederlegen des Bullenbauwarts Samter und des Zeitungsberichterstatters Willi Grundschöttel, werden anschließend erledigt. Der neue Bullenbauwart ist Gerhard Metz, von den Bewerbern des 2. Amtes, Berisch, Samter, Schramm, Völkner, wird Berisch mit 21 Stimmen gegen 14 Stimmen für Völkner und 7 für Schramm gewählt.

IV. Heinz Link hält es für eine wesentliche Besserung im Bereitschaftsdienst, wenn am Montag jeder Woche verlesen wird, wer seine festgesetzte Arbeit noch nicht geleistet hat. Dann könnten sich diejenigen danach richten und der Bereitschaftsdienst erhielte die wesentliche Besserung. Es wird für geistige Minderwertigkeit gehalten, wenn jemand nicht behalten kann, wann er gearbeitet hat, vielmehr am 1. jeder Woche noch daran erinnert werden muß. Der Unterschied des jetzigen Bereitschaftsdienstes vom alten Hilfsdienst besteht nicht in der Freiheit der Arbeit, wie von verschiedenen Seiten eingeworfen wird, sondern in der Freiheit der Wahl des Tages, an dem man die festgelegte Arbeit verrichten will. Dem "öffentlich an den Pranger stellen", das Link verlangt, mißt man den geringsten erzieherischen Wert bei. Man ist

((100))

allgemein gegen den Antrag Link.

V. Die Anfrage Samter, das Kartenspiel betreffend, wird von Schramm beantwortet. Er stellt Glücksspiel und Überlegungsspiel gegenüber, wie das letztere gar kein Ansehen unter den Spielern fände, sondern einzig und allein das Glücksspiel. Auch die Jüngeren unter uns würden wohl schon so weit in ihrer Entwicklung vorgeschritten sein, daß sie das Überlegungsspiel dem Glücksspiel vorziehen könnten. Herr Wolff bestreitet das lebhaft. Blume sucht eine Vermittlung herbeizuführen durch Vorschlagen eines öfter angesetzten Spielabends, wo an kleinen Tischen im Saal sich abends die Spiellustigen einfinden, um im getrennten Spiel und doch gemeinsam zu spielen. Das würde wohl auch eine Besserung der Sitten, die sonst beim Kartenspiel üblich waren, herbeiführen. Aber gerade das gemeinsame Spiel scheint die Jüngeren unter uns nicht zu ergötzen. Als am letzten Sonnabend ein solch ähnlicher Abend alle einlud, ist niemand der Jüngeren erschienen. Trotzdem wird jetzt der Vorschlag Blume mit Freuden aufgenommen.

VI. Der Vorschlag Bandmanns, den Sonntag, 14.XII. durch einen Elternnachmittag auszufüllen und zwar mit dem Thema Mozart (Lieder, Sonate, Symphonie, Zauberflöte), Proben mit Chor und Solisten seien in lebhaftem Gange, wird ohne Einspruch begrüßt. Man setzt als Anfang 2 Uhr Nachmittag fest.

VII. Peter Grotjahn regt an, sich doch einmal zu treffen, um über das Schicksal unserer Chronik zu beraten. Wir wären genug Kräfte, um die Chronik wieder aufzufüllen und weiter zu führen. Augenblicklich hat es den Anschein, als ob Scharfenberg seit einem Jahr nichts Bedeutendes zu verzeichnen hat, oder aber die Scharfenberger sind nicht fähig, die einst geleistete Arbeit wieder aufzunehmen. Man beabsichtigt ein Scharfenbergbuch für fremde Leute zu schreiben [Anm. 3], und kann nicht einmal die eigene Chronik am Leben halten. Blume, der bis

((101))

zum vorigen Jahre die Chronik in der Hauptsache führte, aber doch noch von vielen Seiten unterstützt wurde, warf damals das Weiterführen hin, weil er nicht Lust hatte, nach der Aufführung von Kabale und Liebe, das er selbst einstudiert hatte, es auch noch zu beschreiben. Von diesem Zeitpunkt verlor sich jede Mitarbeit, und Blume allein würde nicht die Chronik der Scharfenberger schreiben, die "eigene Chronik der Scharfenberger". - Blume begrüßt daher den Vorschlag mit der Hoffnung auf Verwirklichung und neu erwachtes Interesse.

Ein Zeugnis solcher Selbstbetätigung, sagt Blume, könne die kommende Weihnachtsfeier sein. Der Ausschuß hätte vorgeschlagen, alle Stuben und öffentlichen Räume weihnachtlich auszustatten, in den einzelnen Stuben Pfefferkuchenbuden, Bücherbuden und dergleichen aufzumachen, so daß man sich gegenseitig besuche. Auch die Einweihung des Gartensaals, mit neuem Fußboden und neuen Möbeln, könnte auf diesen Tag fallen. Bis dahin werden wohl alle neuen Einrichtungen fertiggestellt sein.

VIII. Unter Anregungen und Anfragen will Blume die Besprechung des Wiedergutmachungsprinzips auf die nächste Abendaussprache verschieben, damit sich jeder zur Genüge die wirkliche Ausführung dieses Prinzips überlegen könnte.

Noeggerath wird zum Schluß der Abendaussprache einstimmig nach Ablauf des Probevierteljahres in die Gemeinschaft aufgenommen.

Walter Schramm.


Anmerkungen:

Anm. 1:
Der Pestalozzi der Deutschen. Hermann Lietz in Anektoden, Briefstellen, Kernworten, dem deutschen Volke ein Führer aus der Erniedrigung. Denk- und Dankschrift, hrsg. von Theodor ZOLLMANN, Osterwieck/Harz 1924.

Anm. 2:
S.: BLUME, Wilhelm, Die Oktoberstudienfahrt des Ausschusses [der Schulfarm Insel Scharfenberg im Oktober 1924] [Berlin, LA, SIS: CH, V, S. 61-64 und S. 69-83], hrsg. von Dietmar HAUBFLEISCH, Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q21.html

Anm. 3:
Vgl. Protokoll der 48. Abendaussprache [vor dem 11.09.]1924.



[Zum nächsten Protokoll]
[Zum Anfang "Protokolle der Abendaussprachen der Schulfarm Insel Scharfenberg 1922-1929/32"]
[Zum Anfang "Quellen zur Geschichte der Schulfarm Insel Scharfenberg"]