Protokoll der 1. inoffiziellen [=43,2.] Abendaussprache [Anm. 1]


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. IV, S. 71f. und als Anhang S. 72f.

[Datum: , ......1924 - Protokollant: Karl Berisch]


Protokoll der ersten inoffiziellen Abendaussprache, die von Herrn Blume und Herrn Wolff alleine einberufen worden war, da der Ausschuß eine bloße Überlegungs-Aussprache ohne praktische Anträge, die nicht vorlagen, nach den zahlreichen in letzter Zeit vorangegengenen Aussprachen und Überlegungen nicht für wünschenswert hielt. [...] [Anm. 2]. Herr Blume begann die Aussprache, indem er darlegte, daß er heute keine Moralpredigten zu halten gedenke, daß keine "schwarze Wäsche gewaschen" werden sollte, wie das vorher schon der Fall gewesen, sondern daß wir uns zusammen überlegen wollten, wie den gegenwärtigen Mißständen abzuhelfen sei und daß praktische Besserungsvorschläge gemacht werden sollten. Blume führte an, daß bei uns keine rechte gegenseitige Kameradschaftlichkeit bestände und daran kranke seiner Meinung nach vor allem unser Gemeinschaftsleben. Es sei bei den einzelnen zu wenig Rücksichtnahme und zu wenig Verständnis für den Anderen vorhanden, es gäbe zuviel persönliche Feindschaften und Gegensätze. Man solle sich doch mal im Interesse der Gemeinschaft einen Ruck geben und versuchen, den Anderen, Andersgearteten zu verstehen und wenn das nicht möglich sei, im Verkehr mit dem Anderen etwas mehr Takt zu wahren. Es sei dies Blume schon mehrmals im Unterricht sowohl der Aufbauklasse als auch der Oberstufe aufgefallen und er erinnert an Nietzsches Wort: Man kann den Tag nicht besser beginnen, als wenn man sich fragt, wie man heute einem anderen eine Freude machen kann - in Scharfenberg sei beinahe das Gegenteil der Fall.

Früher habe einmal auf der Tagesordnung der Abendaussprache gestanden: Wer Scharfenberg lieb hat, hüte seine Zunge! [Anm. 3] Jetzt könne zwar Scharfenberg dadurch nicht mehr gefährdet werden, aber die Klatscherei grassiere wieder einmal entsetzlich und man solle doch soviel Achtung vor sich selbst haben - es hieße jetzt besser - Wer sich selbst liebt, hüte seine Zunge!

Ferner führt Blume die Budenkeilereien an. Es habe gewiß keiner etwas gegen Budenkeilereien, wenn sie in harmlosen und humanistischen Formen gehalten sind, aber die Keilereien im Braunschen Haus schienen ihm das nicht, auch schien ihm da ein Ton von Seiten der Älteren eingeführt worden zu sein, der eine starke Ähnlichkeit mit dem alten Pennalismus habe, bestehend in mutwilligem Verhauen der Jüngeren etc. Ihm wird von den Beteiligten entgegengehalten, daß sie es immer als Spaß - einen einzigen Fall ausgenommen - angesehen hätten und sie selbst einen solchen Ton von Seiten der Älteren nicht empfunden hätten, auch seien die Budenkeilereien in letzter Zeit wieder eingeschlafen. Was aber auf jeden Fall wahr sei, das sei ein übler Ton in dem gegenseitigen Umgang, in den Ausdrücken, man wolle sich doch auch da mehr Zurückhaltung auferlegen. Darauf sei es auch zurückzuführen, daß das "sich heimisch fühlen" in letzter Zeit geringer geworden, weil das Zusammenleben längst nicht so ist wie es sein müßte. Es sei auch hier die beste Zeit und Gelegenheit, namentlich für die Jüngeren, sich seinen eigenen Beschäftigungen zu widmen, zu basteln etc. Freilich sei dazu auch etwas mehr Rücksicht und Verständnis von seiten der anderen erforderlich, daß man nicht Bastelein, der[en] Wichtigkeit man nicht einsieht, rundweg für "Quatsch" erklärt und dem anderen dadurch die Stimmung verdirbt. - Von da kommt man auf das Verhältnis von wissenschaftlicher, handwerklicher und sportlicher Betätigung überhaupt, wobei von verschiedenen Seiten die Ansicht geäußert wird, daß die erstere

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für die letzteren beiden zu wenig Zeit lasse, daß man hier zu viel Zeit hinter den Büchern vertrödelt. Das liegt aber nur darin - denn wir wollen die wissenschaftlichen Leistungen keineswegs reduzieren - daß nicht der nötige Schwung und die nötige Konzentration vorhanden wären, eben, daß zuviel "getrödelt" würde. Von der sportlichen Betätigung im allgemeinen kommt man zu Spielen, Dauerlauf und Freiübungen im besonderen und bei allen diesen wird über zu geringe Beteiligung geklagt. Blume weist darauf hin, daß wir eigentlich 3 Stunden Spielen die Woche hätten und wenn nichts hülfe, er diese einführen würde. Bei der Beteiligung am Spielen wird ihm entgegengehalten, daß die Beteiligung bis vor Weihnachten doch ziemlich gering gewesen wäre und daß sie jetzt geringer sei, sei natürlich, da infolge der täglichen Betätigung auf dem Eise das Bedürfnis zu spielen gering sei. Um die Beteiligung am Dauerlauf vollzähliger und pünktlicher zu gestalten, werden zwei Anträge angenommen: 1. daß in jeder Stube ein "Stubenältester" für das pünktliche Erscheinen zum Dauerlauf zu sorgen habe - daran an schließt sich die Aufforderung, daß sich auch sonst der Stubenälteste etwas für die Stube verantwortlich fühlen und die Anderen in Bezug auf Bettmachen und Sauberkeit der Stube mehr anhalten solle, 2. daß die, die infolge körperlicher "Gebrechen" den Dauerlauf nicht oder nur teilweise machen könnten, vom Ausschuß notiert werden und nur sie das Recht haben den Dauerlauf abzukürzen. Für die Freiübungen wird ebenfalls zu reger Beteiligung aufgefordert und beschlossen, solange noch Eis ist, sich auf dem Eise, dann aber auf dem Schulplatz zu den üblichen Freiübungen zu versammeln.

Als letzter Punkt kommt wieder einmal das Schlagwort "Konvention" zur Besprechung und es wird darüber geklagt, worüber schon öfters geklagt wurde, über ungeputzte Stiefel, Unordnung in den Stuben, Putzen der Stiefel in den Stuben, Unordentlichkeit der Kleidung, schmutzige Fingernägel und lässige Handhabung der Dienste. Um letzteren abzuhelfen, wird der Antrag angenommen, daß denjenigen, die den Wasch- und Fährdienst nicht ordentlich gemacht haben, für vier Wochen vom Ausschuß das Recht entzogen wird, diese Ämter, die Ehrenämter für die Gemeinschaft sind, auszuüben und dies der Gemeinschaft mitgeteilt werden soll.

Die Abendaussprache schließt, indem der Ausschuß anläßlich der Einberufung dieser [Abend-]Aussprache sein Befremden über eine in letzter Zeit oft bemerkte Trennung zwischen Herrn Wolff und dem übrigen Ausschuß ausspricht und betont, daß eine solche Trennung zwischen Schülern und dem Lehrer des Ausschusses nicht bestehe und er es für wünschenswert hielte, wenn Herr Wolff mit dem Ausschuß, dem er doch angehöre, statt mit Herrn Blume zusammenginge. Herr Wolff erwidert darauf, daß dies rein pädagogische Gründe seien, um den Ausschuß zu größerer Selbständigkeit zu veranlassen, an der es ihm mangele.

K.B.


[Anhang:]

Sowohl der erste Satz dieses Protokolls als der letzte müssen von Fernerstehenden mißverstanden werden oder werden ihnen zum mindesten unklar bleiben. So sei kurz folgendes klargestellt: Alle consules unserer Gemeinschaft hatten schon den ganzen Winter über das Gefühl, daß manches nicht so sei, wie es sein könnte. Wiederholt hatte der Ausschuß, bestehend aus Herrn Wolff,

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Karl Berisch, Gerhard Metz und Walter Jandt, sich darüber Kopf und Nieren zerbrochen. Schließlich war von Blume und Wolff vorgeschlagen, jeder solle sich gründlichst positive Verbesserungsvorschläge überlegen; nach 8 Tagen wolle sich dann der Ausschuß zu erneuter Überlegung treffen. Aus 8 Tagen wurden 4 Wochen, ohne daß eine der 3 Schülerausschußmitglieder auch nur an jene Abmachung erinnerte. Es war auch sonst von einer Tätigkeit des Ausschusses nicht das geringste zu merken. - Schlendrian bei ihm selber und extra muros! Um ihn aufzurütteln, beriefen Blume und Wolff die oben geschilderte Abendaussprache über den Kopf des Ausschusses ein, um festzustellen, ob nicht wenigstens außerhalb des Ausschusses positive Besserungsvorschläge gemacht wurden, vor allem aber, um entweder einen Sturm gegen die Lethargie des Ausschusses auf diesem auffälligen verfassungswidrigen Wege zu entfesseln und ihn so zu beheben oder um die 3 Ausschußmitglieder zum Rücktritt zu bringen und die Vertrauensfrage zu stellen. Die Ausschußmitglieder begnügten sich, statt empört über eine solch inoffizielle Abendaussprache ihr Amt der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, mit Lamentationen über Herrn Wolffs "Abspringen" und blieben und wurstelten so weiter. Und die Gemeinschaft behielt vorerst den Ausschuß, den sie verdiente. Das "aus pädagogischen Gründen" aufgesteckte Sturmzeichen war nicht verstanden! ---

Blume.




Anmerkungen:

Anm. 1:
Diese Abendaussprache wurde aufgrund der zeitlichen Abfolge als 43,2 gezählt. - Berlin, LA, SIS: CH, IV, S. 64: "Protokoll der ersten inoffiziellen Abendaussprache".

Anm. 2:
S. den Anhang zu dieser Aussprache.

Anm. 3:
Protokoll der 19. Abendaussprache vom 09.11.1922.



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