Protokoll der 19. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. I, o.S.

[Datum: Do, 09.11.1922 - Protokollant: Heinz Röhrborn]


Baader eröffnet die 19. Abendaussprache am 9.11.22 mit dem Mittelsatz aus der Beethoven Sonate op. 14.

Blume weist darauf hin, daß Gerhart Hauptmann am 15. Nov. seinen 60. Geburtstag feiert und hebt die Wandlung der Dinge hervor. Als er im Humboldtgymnasium ein Werk von Gerhart Hauptmann zu Hauptmanns Geburtstag vorlas, wurde er angefeindet. Während jetzt das Ministerium ein solches Hauptmanngedenken vorschreibt [Anm. 1]. So schlägt er vor, einer von den Schülern möchte uns an diesem Tage in Gerhart Hauptmanns Leben und Werk einführen; wozu sich Kraemer bereit erklärt. In dem vor uns liegenden Winter werden wir dann besonders Hauptmanns Werk lesen.

II. Blume: Es sind uns von einem Vater 1.000 M. für Bücher gestiftet. Was sollen wir kaufen? Stenger schlägt ein Hauptmannwerk, das nicht im Hause ist, vielleicht Ketzer von Soana [Anm. 2], vor, Blume das Hauptmannbuch von Schlenther [Anm. 3] zur allgemeinen Orientierung über den Dichter. Wernecke ist für ein Werk von, nicht über den Dichter. Blume meint, daß wir an 10 Werke Hauptmanns im Hause hätten, u.a. auch das von Reschke vorgeschlagene Werk "Hanneles Himmelfahrt" [Anm. 4]. Metz will den Grundstock zu einer Kellerbibliothek gelegt wissen, was Blume mit dem gleichen Hinweis für unpraktisch erklärt. Ewerth ist für eine Anschaffung von Südseemärchen und ä., deren Anschaffung nach Netzbands Meinung der hohe Preis (1.400 M.) verbietet. Grotjahn möchte die ganz modernen Dichter vertreten sehen. Stenger schlägt die "Wandlung" [Anm. 5], Berisch den "Johann Christoph" [Anm. 6] vor. Netzband meint, daß 1.000 M. für Toller zu viel seien, er schlägt die Wandlung und außerdem Kaysers Koralle vor. Wolff kommt auf ein Hauptmannwerk zurück. Als Blume zu bedenken gibt, daß wir für 3 dann noch Geld bräuchten, erklärt sich Netzband bereit, das fehlende Geld aus eigener Tasche für den Hauptmann zuzuschießen.



III. Man kommt zum nächsten Punkt: Wer Scharfenberg lieb hat, hüte seine Zunge. Blume wünscht in längerer, ernster Mahnung in allen Äußerungen über Scharfenberg vorsichtig zu sein, da wir "auf dem Präsentierteller sitzen". So seien im Elternrat des Humboldtgymnasiums die Angriffe auf Scharfenberg gerichtet mit der Begründung, daß es dort mit dem Religionsunterricht nicht in Ordnung sei. In Wahrheit habe jedoch das Interesse am Religionsunterricht in letzter Zeit zugenommen. Blume will seine Meinung nicht so verstanden wissen, daß man überhaupt nichts mehr sagen oder kritisieren soll, sondern man soll ruhig hier in unserem Kreise das sagen, was man auf dem Herzen habe, denn wir streben ja hier zur Offenheit.

IV. Stenger erhält das Wort zu seinem Antrag auf Erneuerung des zerlegenen Bettstrohs. Er zieht aber seinen Antrag zurück, da inzwischen 1 Zentner Stroh auf 6.000 M. gestiegen sei. Blume begründet die Tatsache, daß Stroh nicht eher eingekauft sei damit, daß unsere Betten in Gefahr waren von dem Besitzer Bolle abgeholt zu werden. Zur Abstellung augenblicklicher Übelstände rät er die Verwendung von Matratzen oder Unterbetten an, die man auf einer in der nächsten Woche von Berlin sowieso abfahrenden Fähre eventuell herbeischaffen könne.

V. Wahle erhält das Wort zu seinem Antrag auf Zurückführung des Studientags zu seiner alten Bestimmung. Er wünscht am Studientag die Gemeinschaftsarbeit fallen zu lassen und ihn ganz in den Dienst der Wissenschaft oder von Besichtigungen usw. zu stellen. Wernecke meint, daß man 13 Stunden hintereinander nicht wissenschaftlich arbeiten könne, wogegen Frey einwendet, daß er mit seinen Arbeiten des öfteren in 6 Stunden nicht fertig geworden sei. Grotjahn ist der Ansicht, daß man schon 13 Stunden arbeiten könne, aber das Holz und die Müllgrube gingen vor. Blume betont, daß der Studientag von vornherein für die Handarbeit gedacht gewesen sei und daß die Wissenschaft auch am 1/2 Tag zu ihrem Recht käme. Wenn wir für die Gemeinschaft erziehen wollen, müssen wir auch Gemeinschaftsarbeit haben die außerdem eine wundervolle Erholung ist. Wenn sie nicht vorhanden wäre, müßten wir sie erfinden. Wahle will freiwillig für die Gemeinschaft arbeiten, nicht unter Zwang einer Diktatur, und zwar der des Ausschusses. Blume bestreitet das Bestehen einer Diktatur, da der Ausschuß die Verteilung der Dienste vornimmt nach Wünschen auch Tausch zulässig ist. Wer einer Gemeinschaft angehört, muß mit ihr arbeiten. Auf das Belieben des einzelnen zu bauen, dazu sind wir noch nicht reif genug. Netzband erklärt es für leichtsinnig, in eine derartige Gemeinschaft einzutreten, wenn man nicht mit ihr arbeiten wolle. Wahle verteidigt sich dagegen und meint, daß manches früher in diesem Punkte anders war. Blume erklärt die Zunahme der Arbeit aus der wachsenden Not der Zeit. Wahle weist, um die Abnahme seines Interesses zu erklären, daraufhin, daß allerhand hinter seinem Rücken geredet würde und ihm keine Möglichkeit gegeben sei pädagogische Besserungsvorschläge in einer Lehrerkonferenz vorzubringen. Blume glaubt, dazu sei in der Abendaussprache Gelegenheit genug gewesen, die nach seiner Meinung auch der Ort für pädagogische Debatte sei. Metz ruft mit starker innerer Erregung in den Saal: Mit der Gemeinschaft ist es nicht besser geworden, im Gegenteil, es hat sich ein Ballast gebildet und der muß hinaus. Blume spricht ihm gut zu und fragt, ob der Versuch nicht wertvoller sei, erst zu bessern und Netzband behauptet, daß Gemeinschaftsgeist schon vorhanden sei. Wahle bestreitet die unter den Schülern aufgetauchte Meinung von der Gleichheit aller Gemeinschaftsmitglieder und meint, daß die Gleichheit schon durch die geringere oder größere Erfahrung aufgehoben sei. Schramm weist die Behauptung, daß eine solche Meinung unter den Schülern bestehe, zurück. Es sei nur gesagt worden, in einer Gemeinschaft müsse jeder dem andern helfen auf dem Gebiet, auf dem er etwas leistet. Netzband glaubt, daß die Erfahrung lediglich auf die frühere Geburt zurückzuführen ist. Wahles Antrag wird mit 2 Stimmen dagegen abgelehnt. Wernecke schlägt vor, eine Dispensierung von der Gemeinschaftsarbeit an einem Studientag dem zu gestatten, der aus ernstlicher Arbeit für diesen Tag nicht herausgerissen werden möchte. Blume lobt die Tendenz dieses Antrags, hält ihn aber für praktisch schwer durchführbar. Baader verlangt, daß jeder seine ganze Kraft in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Blume sieht darin vielleicht einen Ausweg, daß in solchen Fällen der Betreffende an einem anderen Tage das Versäumte nachhole. So meint es auch Wernecke. Böhm und Grotjahn tragen Bedenken, da wir noch nicht so weit seien. Frey hält die Frage für der Überlegung wert.

VI. Man kommt zum nächsten Antrag Wahle über Abgrenzung der Befugnisse des Ausschusses. Wahle ist der Meinung, daß der Ausschuß und die Gemeinschaft über hygienische Fragen wie z.B. die Essensfrage nicht bestimmen kann, sondern nur ein Arzt, da die Lehrer letzten Endes die Verantwortung hätten. Er halte es für seine Pflicht darauf hinzuweisen und müsse im Falle sich später herausstellender Schäden die Verantwortung ablehnen. Blume zitiert demgegenüber das Gutachten einer ärztlichen Sachverständigenkommission aus dem Frühjahr 1921, wonach nicht die geringsten Bedenken bestehen. Schon zur Zeit unseres Hierseins sei das Brunnenwasser durch den städtischen Chemiker untersucht und für gut befunden worden. Er hält die Wiederholung solcher Gutachten solange für überflüssig, wie der Gesundheitszustand ein so überaus guter sei. Auch wären die Eltern mit den hiesigen Verhältnissen vertraut genug. Frey meint, trotzdem würden die Eltern im Ernstfalle die Lehrer wohl verantwortlich machen. Röhrborn will es nicht zur Abstimmung kommen lassen, da diese Angelegenheit vor die Schulgemeinde gehöre. Wahles Antrag wird überstimmt.




Anmerkungen:

Anm. 1:
Vgl.: HAENISCH, Konrad, Hauptmannfeiern in der Schule, in: Der Elternbeirat, Jg. 3 (1922), S. 388f.; der ehemalige preußische Kultusminister äußerte hier S. 388 die Meinung, daß bei der Erziehung der Jugend zur 'freudigen Bejahung des gegenwärtigen Staates' nicht nur den Verstand, sondern auch das Gemüt ansprechen müsse; dazu könnten Schulfeiern dienen, und zwar Schulfeiern, die "einen Ersatz [bilden sollten] für die heute gegenstandslos gewordenen Kaisergeburtstagsfeiern und andere monarchistische Feste, für die Sedansfeiern und was dergleichen Veranstaltungen des alten Staates mehr waren." Und da "die Jugend [...] sich mit besonderer Freude an den Gestalten großer Männer begeistert, so sollten wir an Stelle der Helden des Schwertes und der Fürsten von früher [...] heute Helden des Geistes zum Gegenstand unserer Schulfeste machen" - womit Haenisch konkret Hauptmann und dessen bevorstehenden 60. Geburtstag am 15.11. meinte - als Gegenwartsliteraten meinte.

Anm. 2:
HAUPTMANN, Gerhart, Der Ketzer von Soana, Berlin 1918.

Anm. 3:
SCHLENTHER, Paul, Gerhart Hauptmann, Leben und Werk. Neue Ausg., umgearb. und erw. von Arthur ELOESSER, 3., veränd. und erw. Ausg., 8.-13. Aufl. Berlin 1922.

Anm. 4:
HAUPTMANN, Gerhart, Hannele. Traumdichtung in 2 Teilen [Theater: 1893; Bucherstveröffentlichung: 1894], [Festausgabe:] 64.-66. Aufl. Berlin 1928 [Dichtung um das Sterben eines gequälten und mißhandelten Kindes, das aus Furcht vor dem Vater im Winter ins Wasser geht, vom Lehrer aber gerettet und ins Armenhaus gebracht wird. In den religiös-mystischen Fieberphantasien, in denen der heimlich geliebte Lehrer in die Gestalt Christi übergeht, findet Hannele einen Ausgleich für das, was sie im Leben erlitt.].

Anm. 5:
TOLLER, Ernst, Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen [26.-30. Tsd. Potsdam 1925].

Anm. 6:
Vmtl.: ROLLAND, Romain, Johann Christoph. Roman einer Generation, 3. Bde., Frankfurt 1914-1917.



[Zum nächsten Protokoll]
[Zum Anfang "Protokolle der Abendaussprachen der Schulfarm Insel Scharfenberg 1922-1929/32"]
[Zum Anfang "Quellen zur Geschichte der Schulfarm Insel Scharfenberg"]