Protokoll der 37. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. III, S. 86-88

[Datum: , ......1923 - Protokollant: ]


Zur Einleitung spielen Rosolleck und Geister eine Romanze von Goltemann [?].

Man schreitet zum ersten Punkt . Erich Ulm stellt den Antrag, den Fährkahn Rudern und Dollen einen bestimmten Platz anzuweisen, an dem sie immer zu finden sind. Der Antrag wird angenommen und man beschließt, die Ruder von nun ab immer in den Gartensaal zu stellen. Vorschlag Haffner und Link, einen Kahnwart zu ernennen, der die Fähre und den Kahn instand zu halten hat wird abgelehnt, dafür aber beschlossen, dem Fährdienst, der als erster an der Tafel steht, das Ausschöpfen und Säubern des Fährkahns zu übertragen - Steinauer beantragt , die Gemeinschaft möge beschließen, daß man statt Sonntags abend in der Dunkelheit erst Montags früh von Berlin nach Scharfenberg zurückkehren dürfe. Erich Ulm beantragt im Sinne aller anderen, daß man aus Berlin Sonntags abends spätestens bis 1/2 9 Uhr zurück sein müsse, da einem Jungen, der morgens um 7 Uhr übermüdet hier ankommen würde, der ganze Montag doch verloren ginge. Außerdem könnte wohl jeder, der Scharfenberg auch nur einigermaßen lieb hat, Sonntags abends vor Eintritt der Dunkelheit hier sein. Antrag Ulm wird einstimmig angenommen. Der nächste Punkt der Tagesordnung ist ein Antrag Herrn Bandmanns über Abendveranstaltungen . Der Ausschuß möge jeden Sonntag abend ein Programm der Abendveranstaltungen der nächsten Woche an die Saaltür anschlagen, damit eine Überfütterung durch zu verschiedene Vorträge verhindert würde. Netzband ist dagegen, weil er glaubt, daß wir auf diese Weise auf dem Wege seien, jeden Sonntag abend einen "Kirchenzettel" an der Tür hängen zu haben. Man würde in ein Schema verfallen und eine Erstarrung würde eintreten. Rosolleck glaubt, daß ein solches Programm schon deshalb unmöglich sei, weil man sich nicht vorher überlege, was man am Abend machen will, weil uns solche Gedanken intuitiv einkämen. Antrag Bandmann wird abgelehnt. Dann stellt Bandmann die Frage, ob man einige Abende in der Woche für Privatarbeiten

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oder etwas anderes freihalten wolle. Man ist dafür und bestimmt, daß die Abende des Spiel- und Gemeinschaftsarbeitstages frei bleiben sollen. Weiter stellt Bandmann die Frage, ob besondere Wünsche für kommende Abendveranstaltungen gestellt werden würden oder ob überhaupt Stimmung für Veranstaltungen, die mehrere Abende in Anspruch nehmen, vorhanden wäre. Man antwortet, daß bis jetzt ja noch niemand dagegen etwas gesagt hätte und geht zum nächsten Antrag, Antrag Ulm über, der wünscht, daß an einem Abend nicht zwei Veranstaltungen nebeneinanderherlaufen sollen, da mancher beide gern mitmachen möchte und auf eine dann verzichten müßte. Antrag Ulm wird abgelehnt. Im Anschluß daran stellt Blume zum Überlegen die Anregung, ob es nicht vorteilhaft für uns wäre, überhaupt kleine [... ?] zu gründen. Er denke hier zum Beispiel an einen Dramatischen Kursus, in dem Dramen gelesen und einstudiert werden würden. - Grotjahn fordert die Gemeinschaft auf, das Gesetz von der Bannmeile aufzuheben [Anm. 1], da es nicht mehr befolgt wird. Der Antrag wird abgelehnt, weil man glaubt, daß es mit der Ruhe um das Haus herum doch schon wesentlich bessr geworden sei, daß man sich doch wenigstens mit dem Anruf "Bannmeile" sofort Ruhe verschaffen kann. Dann fragt Grotjahn die Gemeinschaft, ob sie bereit wäre, ihn über den Begriff des ungeschriebenen Gesetzes aufzuklären. 26 Stimmen antworten mit ja. An diesem Abend haben 26 Stimmen nicht erkannt, daß sie mit dieser Bejahung den Begriff des ungeschriebenen Gesetzes, der in Gedanken ja schon bei der Rauchfrage nicht mehr existierte, auch noch factisch erledigen. An diesem Abend hat eine Gemeinschaft sich selbst ihres heiligsten Gutes beraubt. Erich Gawronski, der sofort erkannt hatte, worum es sich hier handelte, ließ sich von der Abendaussprache dispensieren. Wenn dies politisch vielleicht auch nicht ganz klug war, so bewies sein Handeln doch, daß er mit der Gemeinschaft fühlte und eine derartige Profanisierung ihres besten Guts nicht mitanhören konnte. Netzband antwortet Grotjahn, daß das ungeschriebene Gesetz eine Frage des Taktes sei, die verliert, wenn man über sie spricht, die einem, der sie nicht fühlt, durch vernunftgemäße Erklärung nicht näher gebracht werden könnte. Blume definiert es so:

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das ungeschriebene Gesetz sei ein Gesetz, über das man nicht spricht. Um wenigstens zu versuchen Grotjahn den Begriff näher zu bringen, zeigt er an einem Beispiel, was ein ungeschriebenes Gesetz gewesen wäre. Er sagt, er habe immer geglaubt, daß man mit Brauns, die ihn in Tegel und überall, wo sie hinkommen, als Betrüger hingestellt haben, als gemeinen Betrüger, der beim Kirschenverkauf auf den Verkaufspreis, den die Gemeinschaft festgesetzt hatte, Geld aufschlug, um es für sich zu behalten, daß man mit diesen Leuten doch wohl nicht gerade wie Freund mit Freund zu verkehren brauchte [Anm. 2]. Auch galt es bisher immer als ungeschriebenes Gesetz, daß aus der Gemeinschaft niemand von diesen Leuten Brot erbettelte. Doch jetzt scheint es anders geworden zu sein. Im Anschluß daran spricht Wolff davon, daß nicht nur ungeschriebene, sondern auch geschriebene Gesetze jetzt dauernd übertreten werden. So sei es mit den Diensten, so sei es mit allem. - Zum Schluß bittet Frau Prengel, doch bei den Mahlzeiten den Stullenhandel zu unterlassen, und Gischler empfiehlt jedem dringend, etwas Praktisches, beispielshalber das Schustern zu lernen. Er selbst sei lange Zeit in der Türkei gewesen und habe gesehen, wie nötig man es brauchen könnte. Bandmann schließt die Abendaussprache mit einem Marsch aus der Aida von Verdi.

G.[eorg] N.[etzband]


Anmerkungen::

Anm. 1:
Vgl. Protokoll der 33. Abendaussprache [vom Mai-Juni 1923].

Anm. 2:
Vgl. Protokoll der 27. Abendaussprache [vom März 1923].



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