Protokoll der 39. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. IV, S. 36-39

[Datum: Do, 18.10.1923 - Protokollant: Wilhelm Blume]


[...]. Um von all diesem [Anm. 1] der Scharfenberggemeinschaft Bericht erstatten zu können, berief ich noch am Abend eine Aussprache ein, die Herr Bandmann mit dem ersten Satz des Klavierkonzerts in c-Moll von Beethoven eröffnet und die ich unter das Fontanemotto stelle:

"Wieder ein 18.! Alle Wetter ja!
Der 18. ist doch immer Viktoria!"

Fortuna war uns wieder hold gewesen; eigentlich müßten wir noch eine

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Dankadresse an die Stadtverordneten richten, daß sie die Annnahme des Borsigabkommens von Mai bis Oktober verzögert hatten, denn sonst wären die 2 Millionen nicht mehr Rest gewesen und wir hätten das Schmerzensgeld an Braun nicht auszahlen können! Sie gedachten es böse zu machen, und nun hatten sie uns gerade dadurch in die Lage versetzt, mit vornehmer Geste zur stupendesten Überraschung des hartnäckigen Pächters den Judaslohn hinzuwerfen, der seiner Scharfenberger Existenz ein Ende machte.

Fast graut uns vor der Götter Neide - am 17. war uns unser Zicklein Meckldei von der Weide gestohlen [worden]. Ein Polykratesopfer - hatten wir uns gesagt! Und heute nachmittag frißt es schon wieder wohlgenährt im Stall; die Diebe waren im Walde überrascht [worden] und hatten's im Sack liegen lassen; Passanten hatten's gefunden und beim Schupomann in Tegelort gemeldet. Man beschloß, den ehrlichen Findern am folgenden Tage einen Zentner Kartoffeln hinzufahren. Blume setzt sodann die Gemeinschaft offiziell in Kenntnis von dem Ausscheiden Günther Schmidt-Burkards; er ist auf sein Anraten ans Berliner Humboldtgymnasium zurückgekehrt; seine schwache Konstitution, verschiedene nervöse Zusammenbrüche, die ein längeres Fehlen erforderlich gemacht hatten, waren ein Zeichen gewesen, daß für ihn das robustere Leben auf Scharfenberg nicht das Geeignete war.

Ein paar Gedenkworte für unseren Holländer schlossen sich an, der am Mittag mit von ihm gestifteten Pfannkuchen und einer "Vorlesung" über englisch-holländischen Egoismus und Quäkergesinnung sich empfohlen hatte; er reiste von uns auf eine Siedlung am Bodensee; er hat dem Leiter versichert, daß das Leben in der Schulfarm ihn begeistert habe, daß er fest entschlossen sei, später seine Kraft einem ähnlichen Unternehmen zu widmen.

Bald nach dem Erntfest war auch Willi Krüger von uns gegangen; sein Vater - so erklärte dem Leiter der Sohn - könne die erhöhten Beiträge nicht mehr aufbringen. Wir ließen ihn mit einigermaßen gemischten Gefühlen ziehen - der erste Aufbauer, der absprang! Sicherlich ein begabter Junge, von reiferem Interesse in allen mehr allgemein gerichteten Dingen; die erste Zeit im III. Band unserer Chronik rührt von ihm her; von ihm war der Antrag ausgegangen, die Gesamtunterrichtsstunden abwechselnd zu protokollieren; in jeder Debatte stand er seinen Mann; weniger lagen ihm Arbeitsfächer wie Mathematik und Latein; da brachte er die nötige Energie nicht auf, gewisse innere Hemmungen

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zu überwinden, die auch für jüngere Schüler nicht ohne Gefahr geblieben waren; er war selbst resigniert über diese Laschheit und log wohl nun den Vater nicht mit der gleichen Bittkraft an, die er einst beim Eintritt in die Schule mit Zähigkeit aufgeboten hatte. Vielleicht bietet sich noch einmal weiter aufklärende Gelegenheit zu einer Aussprache mit Herrn Lehrer Frank, der ihn uns im Mai begeistert zugeführt hatte.

Über eine ähnliche Natur - Erwin Hoffmann - führte P. Heinrichsdorff als Vertreter des Gartensaals Klage. Nach mit Heiterkeit aufgenommenen Verteidigungsreden R. Werneckes, der sich selbst zum Rechtsanwalt bestellt hat, nimmt man Blumes Vorschlag an, den vom Gartensaal gewünschten Auszug Hoffmanns bis zum allg. Umzugstag zu verschieben.

Die von Herrn Wolff geäußerten Bedenken, daß in diesem Jahre zu wenig Holz geschlagen werde, sucht Herr Glasenapp zu zerstreuen mit der Erklärung, daß dies von ihm in die Hand genommen werde.

Zu der augenblicklichen wirtschaftlichen Lage bemerkt Blume, daß der Brotpreis die Tagesbeiträge übersteige, also wohl mit einem Defizit gerechnet werden müsse; da unsere Tinte dem Versiegen nahe ist, beschließt man, die Fährkasse zu sprengen und für ihren Inhalt (250 Millionen) ein Tintenpulver zu erstehen.

Blume mahnt aus Anlaß zweier zerschlagener Fensterscheiben zu größerer Vorsicht mit dem Gemeinschaftsgut! Herr Bandmann bittet um Schonung der Flügeldecke, Blume um zartere Behandlung des Flügels selbst, dieses unersetzlichen Wertobjekts unseres hochherzigen Stifters!

Bei einem Rückblick auf das Erntefest stellt Blume die Unpünktlichkeit bei den Tobiasproben der Hingabe der Mitspieler im Stefan Zweig-Stück gegenüber und führt darauf das schleppende Tempo im Weiseschwank und die Qualitätsleistung im Verwandelten Komödianten zurück. Nur der Ernst, den keine Mühe bleiche, könne auch hier zu freudig genossenen Festdarbietungen befähigen. Der lustige, etwas laute Ausklang des Festes mit einem Tänzchen im Saal und einem Lampionzug auf den Scharfenberg sei seiner Meinung nach stilgerecht gewesen; "wenn einige anders empfunden zu haben scheinen, die sich von dem Zuge ausschlossen

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und für sich im Garten halb schmollend, halb achselzuckend lustwandelten, möchte ich ihnen zurufen: wenn Euch der Ton nicht paßt, veredelt ihn! Ihr sollt mit diesem Bemühen hochwillkommen sein; aber das Absondern, das hochmütige Beiiseitestehen ist der ungeeignetste Weg zu diesem Ziel." Einem anderen, der gemeint hatte, es müsse auch nach dem Scheiden der Gäste noch etwas aufgeführt werden, da die Schüler vorher keinen rechten Genuß gehabt hätten, hielt Blume entgegen, daß das Mitspielen zur Erheiterung und Erbauung unserer Gäste schönster Genuß sein müsse und daß nach so viel einstudierten Vorführungen es gerade an der Zeit sei, der Improvisation freien Spielraum zu lassen, wozu freilich in unserem Kreise entweder die Befähigung oder die Initiation zu fehlen scheine.

R. Wernecke regt an, kleine "Arbeitsgemeinschaften" zu gründen, die sich bei solchen Gelegenheiten dann sehen ließen. Geister weist darauf hin, daß schon früher einmal beschlossen sei, niemanden in einem solchen Unternehmen zu stören. Man brauche also bloß einmal Listen zum Einzeichnen kusieren zu lassen. Frey will einen Tag in der Woche für die Tagung der Einstein-Arbeitsgemeinschaft festgesetzt haben.

Blume schlägt vor, das Kasperlestück und den Verwandelten Komödianten in der Aula der Tegeler Humboldtschule zu wiederholen und den Reingewinn dem Physik- und Chemiesaal in Tegel zuzuwenden. Man äußert Bedenken, ob die Puppen noch alle vorhanden seien. Die soll festgestellt werden. Eine erhebliche Majorität spricht sich wenn auch ohne Begeisterung dafür aus, dieser Anregung nachzugehen. Zum Schluß erklingt Eriks Gang und der Krönungsmarsch aus dem Folkungen.


Anmerkungen::

Anm. 1:
An diesem Tag unterschrieb der Pächter Braun ein Aktenstück, mit dem er - nachdem er an diesem Tage von Blume einen geforderten Geldbetrag empfangen hatte - auf nahezu alle Ansprüche auf die Insel verzichtet und sich verpflichtet, ab dem 9. November die Insel zu verlassen.



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