Protokoll der 27. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. II, S. 47-50

[Datum: , ...03.1923 - Protokollant: Walter Schramm]


Interessant war es für uns, daß zwar in Wickersdorf durch Dauerläufe, Laufspiele und Fußballspiele der Körper gestählt wird, aber eine eigentliche Körperkultur nicht bestehe. Die Mitteilung, daß in den Abendsprachen fast ausschließlich Musik von Bach und Bruckner, Dichtung von Spitteler und George, gepflegt wird, rief allerlei Bedenken hervor. Blume fand einen Widerspruch darin, daß Wyneken selbständige Menschen erziehen will und trotzdem den Geist Wickersdorfs selber bestimme. Eine Tradition müsse sich durch alle herausbilden, deren weitere Entwicklung die späteren Geschlechter bestimmen. Kraemer sieht in der strengen Auswahl der Kunstwerke eine ungeheure Aufdrängung auf jeden einzelnen, auf das Individuum. Jeder müsse sein eigene Kultur haben, allgemeine Kultur könne sich nur auf Individualitäten aufbauen. Blume

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betont, durch Mitarbeiten aller für eine größere Gemeinschaft entstehe Kultur, nicht durch den fertigen Geist, den ein Mann im Kopfe hat. Wickersdorf ist regelrecht aristokratisch. Die entlassenen Schüler werden höchstwahrscheinlich entfremdet sein, wenn sie in die Welt hinausgehen, da sie einseitig erzogen sind. Gawronski als Referent sucht demgegenüber zu verteidigen, indem er sagt, nur so sei wirkliche Gemeinschaft zu erzielen, und darauf hinweist, daß ganz bewußt einen neuen Stil schaffen wolle und sich auch nicht scheue, seine Gemeinschaft mit der ersten Christengemeinde zu vergleichen, die von sich aus ihre Kultur auf die ganze Welt verbreitet hätte. Blume meint, die Stileinheit müsse sich natürlich auch auf den Unterricht beziehen, was in Wickersdorf aus Lehrplansrücksichten nicht der Fall ist. Nur in der Abendsprache kann keine Einheit erzielt werden. Und auch da darf keine krasse Uniformierung des Geistes von oben eintreten. Keine feststehende Tradition, sondern eine Tradition, die sich weiter entwickelt; dabei wird freilich immer darüber zu wachen sein, daß nur Wertvolles sich erhält. Das Bewußtsein, daß alle mithelfen und mit fortentwickeln, das ist der Geist der Gemeinschaft. Grotjahn kann sich jetzt auch erklären, warum eine geistige Richtung vorschreiben muß, weil nämlich bei dem häufigen Schülerwechsel nie ein wirkliches Einleben, nie eine wirkliche Fortentwicklung stattfinden kann. Blume: Weil eine Stileinheit geschaffen und in alle derselbe Geist gepflanzt werden soll, ist offenbar auch der Besuch der Abendsprachen obligatorisch. Die Konsequenz s, mit der er sein ganzes Werk durchgeführt hat, ist daraus zu erkennen. Wir Scharfenberger könnten ruhig hiervon etwas lernen; denn wenn bei das Gemeinsame etwas zu sehr Zwang ist, so sind wir in der Gefahr, durch allzu sehr mangelnden Zwang stets eine Schule der Einspänner zu

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bleiben. Worin glauben nun die Scharfenberger schon jetzt am einigsten zu sein, auf welchem Gebiete ist dies schon teilweise erfüllt? Man antwortet: In unseren Abendaussprachen oder bei der Gemeinschaftsarbeit. Weniger wird der Unterricht erwähnt. Blume aber meint, gerade der Scharfenberger Unterricht mit seinem Mitarbeiten aller müsse uns am meisten zusammenführen. Böhm ist der Ansicht, der Verkehr untereinander sei der wesentlichste Punkt, der zu unserer Einheit beiträgt. Grotjahn leugnet das, solange einzelne sich mit offenem Haß gegenüberstehen, wie ihm Heinrichsdorff. Heinrichsdorff weist den Ausdruck Haß zurück. Eine starke Antipathie gegen Grotjahn gibt er zu, der das Interesse an der Gemeinschaft nur heuchle, im übrigen allein aus dem Grunde auf Scharfenberg verweile, um sein Abitur leichter zu machen. Grotjahn wirft ein, daß er nicht nur für sein Abitur, sondern hauptsächlich zu seinen naturwissenschaftlichen Studien nach Scharfenberg gekommen sei. Heinrichsdorff wird plötzlich von Wernecke gefragt, weshalb er hier sei. Heinrichsdorff will sein Gemeinschaftsgefühl in die Tat umsetzen, will sich Freunde suchen, denen er ein Freund sein kann. Wernecke macht abfällige Bemerkungen, was Wolff dazu veranlaßt, ihn nach den Gründen seines Hierseins zu fragen. Wernecke ist lediglich darum gekommen, um hier mit allen anderen daraufhin zu arbeiten, daß die Scharfenberg-Schule Allgemeingut werde, daß recht vielen jungen Menschen die Gelegenheit geschaffen sei, aus der dumpfen Großstadt herauszukommen und ihren Interessen nachzugehen. Blume greift auf den Fall Grotjahn zurück. Grotjahn will sein Abitur machen, kann aber in 3 Fächern so kaum bestehen. Er verstehe Grotjahns Verhalten dem Unterricht gegenüber nicht. Wenn er sein Abitur machen will, müsse er auch in Fächern wie Mathematik und Englisch etwas leisten, könne nicht einseitig nur Naturwissenschaft treiben. Wenn er dies nicht wolle, müsse er soviel Konsequenz und Mut aufbringen, auf das Abitur zu verzichten und auf eigenem Pfade

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ein großer Naturwissenschaftler zu werden versuchen. Was das Gemeinschaftsgefühl anbetrifft, so versteht Blume nicht, daß gerade Grotjahn, der im persönlichen Verkehr Gemeinschaftsgefühl vermißt, sich vom persönlichen Verkehr zurückzieht und unsere Abende meidet; statt dessen zieht er offenbar den Verkehr mit Familie Braun vor. Als Grotjahn dies zugibt, fragte Blume, welches die magische Kraft sei, die ihn so oft und so spät dorthin ziehe. Nach einigem Zögern erklärt Grotjahn, ihn ziehe das dorthin, was ein Junge mit einem Mädel haben kann. Da er sofort darauf den Saal verläßt, kann Blume zunächst nicht auf diesen Fall näher eingehen und schließt die Abendaussprache, die in ganz überraschender Weise von dem Ausgangspunkt eines Buchreferats zu ganz speziellen Scharfenberger Fragen und Nöten geführt hat.

W. Schramm.



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