Protokoll der 26. Abendaussprache [Anm. 1]

Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. II, S. 45-47

[Datum: , ...03.1923 - Protokollant: Walter Schramm]


Nach der Behandlung der Geschichte und wirtschaftlichen Grundlage von Wickersdorf, machte uns Gawronski mit den Gründen bekannt, die Wyneken dazu veranlaßt hatten, die Koedukation einzuführen. Das Leben der jugendlichen Gemeinschaft soll reicher und natürlicher erscheinen. Persönliche Einzelverhältnisse arten manchmal auch zu Liebeständeleien aus, was ja an und für sich selbstverständlich ist. R. Frey und Gawronski erinnern an die Wandervogelgruppen A.W.V. und E.V. Der A.W.V., in dem nur Jungens sind, schließt die Jugend durch ernstes Streben zusammen, während der E.V. mit seinen Mädels und Jungens einen viel flacheren, viel mehr auf persönliche Einzelverhältnisse gerichteten Anstrich

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erhält. Blume meint, hier auf Scharfenberg, in unserem gegebenen Fall, müsse selbstverständlich früher als in unserem Alter mit dem Zusammenleben beider Geschlechter begonnen werden. Um nur einmal die Stimmung der Scharfenberger zur Koedukation festzustellen, veranlaßt Blume eine Stimmungsabstimmung, die 13 Stimmen für, 7 dagegen ergibt. Um Eindrücke vom gemeinsamen Leben in Wickersdorf zu erhalten, wurde Kummerow's Bericht über den Besuch von Landerziehungsheimen [Anm. 2] herangezogen. Danach verleiht die Kameradschaft beider Geschlechter dem ganzen Leben einen freudigen, schwunghaften Charakter. Liebesverhältnissen begegnen die Erzieher mit Respekt in ihren Gedanken und mit Takt in ihren Äußerungen. Von der Tageseinteilung in Wickersdorf interessierte, daß ebenfalls wie hier auf Scharfenberg nach der 4. Unterrichtsstunde ein Dauerlauf stattfindet, - bei uns jetzt wieder in der warmen Zeit nach dem Aufstehen, - der nach Berischs Aussage (ehemaliger Wickersdorfer) pünktlicher und intensiver betrieben wird als hier. In Wickersdorf werden 5 Mahlzeiten eingenommen. Ähnlich wie bei uns gibt es einen Nachmittagsdienst von 1/2 3 - 5 Uhr, in dem aber hauptsächlich die technischen Interessen der einzelnen, wie Sport, handwerkliche Arbeit, Zeichnen, Musik und Zeichnen ausgebildet werden. Um möglichste Konzentration und vollständige Ruhe zu Schulaufgaben und vor allen Dingen auch zum Arbeiten an Interessengebieten zu erreichen, sind Arbeitsstunden eingeführt, bei den unteren Klassen unter Aufsicht. Die Schulgemeinde entspricht unserer Abendaussprache, hat ebenfalls eine demokratische Verfassung, allerdings sind dem Leiter in bestimmten Fällen Vetorechte eingeräumt. Eine ausgedehntere Tätigkeit als auf Scharfenberg übt der Wickersdorfer Ausschuß aus, zusammengesetzt aus Schülern und Schülerinnen der Sekunden

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und Primen. Er hat Aufsicht über die Ordnung in allen Räumen, ist der Tutor der jüngeren Kameraden, d.h. erfüllt an ihnen Pflichten "individueller Fürsorge". Einem jeden werden 3 oder 4 Kameraden zuerteilt. Eine weitere, das Gemeinschaftsleben betreffende Einrichtung sind die Kameradschaften, die sich um einen jeden Lehrer sammeln. Dieser ist Berater in jeder Hinsicht. Vor allen Dingen aber soll er dem Einzelnen den Geist der Gemeinschaft vermitteln. Die Lehrerkonferenz verwaltet, allgemein gesagt, den Unterricht. Den Schluß dieser Abendaussprache bildet der Wickersdorfer Unterricht. Der mathematische Unterricht soll hauptsächlich auf das Technische eingestellt sein, der fremdsprachliche schnelles Sprechen und richtiges Schreiben in den Vordergrund stellen. Besondere Erwähnung verdient der Religionsunterricht. Den Stoff für die mittleren Klassen und Ober-Sekunda gibt die Religionsgeschichte. Bei den Vergleichen der einzelnen Lehren wird immer Objektivität bewahrt, Christus ebenso wie Buddha und Mohammed behandelt. In den Primen tritt an die Stelle der Religionsgeschichte die Philosophie.


Anmerkungen:

Anm. 1:
Im März 1923 beschäftigte man sich in Scharfenberg an mehreren Abenden mit anderen Reformprojekten; so vermerkt Blume in der Chronik "[...] bald liegt ein Jahr hinter uns, aus Vergleichen mit den Erfahrungen ähnlicher Unternehmungen können wir jetzt sicherlich lernen." (Berlin, LA, SIS: CH, II, S. 44). Nachdem man sich an den beiden ersten Abenden u.a. mit Pestalozzi, Fichte, Goethe und Lietz beschäftigt hatte, kam man am dritten und vierten Abend auf und Wickersdorf: "Die Fortsetzung bildete ein Referat unseres Aussschußmitgliedes Erich Gawronski über Wynekens neuestes Buch 'Wickersdorf'; da vorauszusehen war, daß sich daran eine Diskussion knüpfen würde, die auf Schritt und Tritt unserer eigenen Fragen und Sorgen berühren mußte, gab man den beiden folgenden 'pädagogischen Abenden' die Form der Abendaussprache." (Berlin, LA, SIS: CH, II, S. 45) - Vgl. auch: BLUME, Wilhelm, Bericht über die Entwicklung der städtischen Scharfenbergschule, erstattet von ihrem Leiter Wilhelm Blume unter Mithilfe der Fachvertreter, verbunden mit dem Gesuch um staatliche Anerkennung zu Oktober 1923, unter Beifügung von Stundentafeln und Lehrplänen. Eingereicht an Herrn Geheimrat Dr. Michaelis als Vertreter des Provinzialschulkollegiums im Juli 1923 [Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 14 z, Nr. 48 II, Bl. 174-267], hrsg. von Dietmar HAUBFLEISCH, Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q13.html; hier: Bl. 197r und v: "Auch von einem Ausflug in "die pädagogische Provinz" weiß die Chronik zu berichten unter der Überschrift "Pädagogische Woche" in Scharfenberg: "Der erste Abend dieser Reise war historisch gerichtet: Herr Blume erzählte von Pestalozzi und von Fichtes Nationalerziehung, von der Cauergründung in Berlin und erläuterte Goethes Wilhelm-Meister-Pädagogik; man freute sich an der kühnen Kombination von Sprachstudien und Pferdepflege mit Viehhandel in der rossenährenden Provinz und suchte die Lehre von den 3 Ehrfurchten zu verstehen. Im Mittelpunkt des 2. Abends stand Hermann Lietz und sein Werk; man verglich insbesondere das außerunterrichtliche Leben in Ilsenburg, Haubinda, Bieberstein mit dem unsrigen. Am 3. und 4. Abend referierte ein Ausschußmitglied über Wynekens neustes Wickersdorfbuch; die Diskussion wurde fruchtbar, weil sich auch hier Vergleiche Schritt vor Schritt mit unseren Erfahrungen aufdrängten. Man nahm daran Anstoß, daß Wyneken offenbar zu sehr seinen Begriff von Kultur der Jugend aufzwinge und diese dann als Jugendkultur ausgebe; ((46 - 197v)) man verweilte länger bei der Frage der Koedukation und sprach sich bei einer "Stimmungs"abstimmung, die bei den räumlich beschränkten Verhältnissen Scharfenbergs auf absehbare Zeit nicht realisiert werden kann, zu 2/3 für sie aus. Man wunderte sich, daß in Wickersdorf der Unterricht ganz oberrealschulmäßig verlaufe und auch auf der Oberstufe kein Wahlmöglichkeiten biete. Am letzten und 5. Abend folgte eine Gegenüberstellung mit der altberühmten und bewährten Schulpforta, und man erkannte, wie sich hier zwei prinzipiell verschiedene Arten von Erziehung sonderten." - Zum 5. Abend der Veranstaltungsreihe s. Protokoll der 34. Abendaussprache [1923].

Anm. 2:
KUMMEROW, Erich, Bericht über einen Besuch von Landerziehungsheimen (1920) [Berlin, LA, SIS], hrsg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Dietmar HAUBFLEISCH, Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0012.html



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