Klafki, Wolfgang: Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k05.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 54-71.


Wolfgang Klafki

Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung


I. Vorbemerkungen

In diesem Beitrag wird es nicht um die eingehende Erörterung einzelner Ziele der Erziehung gehen. Ich werde also nicht ausführlicher über Ziele der Erziehung sprechen, die z. B. aus der Sicht einer bestimmten Kultur und Gesellschaft und ihrer Geschichte heute besondere Bedeutung haben oder besonders umstritten sind, z. B. aus deutscher Sicht. Ich werde aber auch nicht eingehender Ziele der Erziehung diskutieren, die m. E. international zentrale Bedeutung haben, weil sie sich auf Probleme und Gefahren beziehen, mit denen alle Völker und Gesellschaften der Erde gegenwärtig und vermutlich auch in der absehbaren Zukunft konfrontiert sind: Hier nenne ich nur drei Beispiele:


(Diese Fragen stehen im Zentrum des Beitrages über "Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung" in diesem Band.)

Zwar werde ich mich auf solche Ziele als Beispiele mehrfach beziehen, ihre Begründung und genauere Entfaltung ist aber an dieser Stelle nicht mein Thema. Vielmehr werde ich im folgenden wissenschaftstheoretische Probleme in den Vordergrund rücken. Meine Hauptfrage lautet: Was kann Wissenschaft, in unserem Falle also: was kann Erziehungswissenschaft zur Klärung von Erziehungszielen beitragen? [1]

Ich formuliere das Grundproblem noch einmal etwas ausführlicher, und zwar in der Form einer Alternative: Kann Erziehungswissenschaft nur beschreiben und analysieren, welche Ziele in der Erziehung in einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Gesellschaft, einer bestimmten historischen Epoche von bestimmten Pädagogen oder von einzelnen Gruppen oder von der Mehrzahl der Eltern usf. programmatisch bejaht und ggf. tatsächlich vertreten werden oder vertreten worden sind? Oder kann Pädagogik als Wissenschaft zu solchen Zielen auch beurteilend Stellung nehmen, sie ggf. kritisieren, also wissenschaftlich begründen, daß bestimmte Ziele, z. B. Ziele der politischen Erziehung oder der Sexualerziehung oder der religiösen Erziehung, problematisch, historisch überholt sind, weil sie Folgen haben können, die man nicht verantworten kann? Und dasselbe positiv gewendet: Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung der Forderung beitragen, daß bestimmte Erziehungsziele gelten sollen, daß sie von den Eltern, den Lehrern, den Sozialpädagogen, den Erwachsenenbildnern angestrebt werden sollen? Kann sie also als Wissenschaft normative Aussagen machen, oder überschreitet sie damit den Rahmen, der jeder Wissenschaft gesetzt ist? Man denke etwa an die vorher genannten Beispiele "Friedenserziehung", "Umwelterziehung" ("ökologische Erziehung"), "Erziehung zu internationaler Solidarität" u. ä. Diese wissenschaftstheoretische Frage ist international und vor allem auch in der deutschen Erziehungswissenschaft umstritten.

Im Hinblick auf die folgenden Überlegungen muß ich zwei Einschränkungen hervorheben:

Erstens: Ich beziehe mich im folgenden vorwiegend auf deutschsprachige Literatur zum Thema. Allerdings sind in diese Literatur an zentralen Stellen Überlegungen aus der internationalen Diskussion eingegangen.

Zweitens kann ich auch innerhalb der eben angedeuteten Einschränkung nicht im einzelnen auf die verschiedenen Positionen, die in der Diskussion zum Thema vertreten werden, auf ihre Entwicklung und ihre Voraussetzungen eingehen. Ich werde mich im wesentlichen auf die zentrale Kontroverse beziehen. Hier stehen sich zwei wissenschaftstheoretische Positionen gegenüber, die ich in der vorher skizzierten Alternative bereits angedeutet habe.

Die Kontroverse zwischen beiden Positionen reicht bekanntlich über die Erziehungswissenschaft weit hinaus, sie ist also ein genereller wissenschaftstheoretischer Streitpunkt, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften. In der deutschen Literatur wird die Auseinandersetzung seit längerer Zeit als "Werturteilsstreit", z. T. auch als "Positivismusstreit" bezeichnet, d. h. als Streit um die Frage: Kann bzw. darf Wissenschaft Werturteile aussprechen oder kann bzw. darf sie es nicht? [2]



II. Wissenschaft und Werturteile - zwei Kontroverspositionen

Ich wende mich zunächst einer knappen Charakterisierung der Hauptpositionen zu, die sich gegenüberstehen. Terminologisch ist die Sachlage etwas verwirrend, denn beide Positionen verwenden zu ihrer Kennzeichnung das Wort "kritisch": Die erste Position nennt sich seit einigen Jahrzehnten "Kritischer Rationalismus", die Gegenposition bezeichnet sich selbst als "Kritische Theorie".


A. Die erste Position: Der "Kritische Rationalismus".


Diese Position ist zunächst vor allem von dem Philosophen Karl Raimund Popper begründet worden, und zwar seit den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Popper, von Geburt Österreicher, ist damals nach England emigriert und hat seither an englischen Universitäten gelehrt. Einer der bedeutendsten deutschen Anhänger Poppers ist der Mannheimer Wissenschaftstheoretiker Hans Albert. [3] In der deutschen Erziehungswissenschaft gibt es seit den 60er Jahren etliche ausdrückliche und unausdrückliche Anhänger dieses Standpunktes. Besonders kämpferisch vertritt ihn der an der Universität Konstanz lehrende Kollege Wolfgang Brezinka. [4] - Was besagt diese Position?

Ihre Kernthese lautet: Wissenschaft im allgemeinen und Erziehungswissenschaft im besonderen ist nicht in der Lage, und es ist ihr nicht erlaubt, Aussagen mit normativem Inhalt, sogenannte "normative Aussagen" auszusprechen, m. a. W.: Werturteile. Für die Erziehungswissenschaft bedeutet das hinsichtlich des Problems der Erziehungsziele: Erziehungswissenschaft kann keine Urteile über die Geltung, über die normative Verbindlichkeit bestimmter pädagogischer Ziele fällen. Sie kann als Wissenschaft also nicht sagen: Friedenserziehung oder Erziehung zur Erhaltung der natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz oder bestimmte Zielsetzungen der Sexualerziehung usf. sind notwendige, verbindliche, wissenschaftlich begründbare Ziele. Erziehungswissenschaft müsse vielmehr wie jede andere Wissenschaft das Prinzip der Werturteilsfreiheit für alle ihre Aussagen anerkennen.

Dieser Standpunkt bedeutet nun nicht etwa, daß Erziehungsziele überhaupt nicht als Thema erziehungswissenschaftlicher Forschung zugelassen werden. Die Konsequenz lautet vielmehr: Erziehungswissenschaft kann und soll pädagogische Ziele, die von bestimmten Menschen oder Menschengruppen vertreten werden, als historische bzw. empirische Fakten untersuchen, d. h. beschreiben und analysieren, etwa unter folgenden Fragestellungen:


Solche Fragen zur pädagogischen Zielproblematik können und sollen also auch nach der Auffassung des Kritischen Rationalismus von der Erziehungswissenschaft untersucht werden, und insofern kann und soll Erziehungswissenschaft zur Aufklärung pädagogischer Zielprobleme beitragen. Aber hier liegt im Sinne dieser Position auch die Grenze der Erziehungswissenschaft: Wo es um die Frage der normativen Verbindlichkeit geht, in der Sprache der Philosophie ausgedrückt: um die Geltung eines pädagogischen Zieles oder eines ganzen Zielkomplexes, da hat Wissenschaft zu schweigen. Ob also Ziele der Friedenserziehung, der Umwelterziehung, der Erziehung zu sogenannten "Tugenden" wie Sauberkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Tüchtigkeit usf. gelten sollen, verbindlich sind, das könne Erziehungswissenschaft nicht entscheiden. Denn jede positive oder auch negative Wertung - ja, dieses Ziel soll gelten; nein, jenes Ziel soll nicht gelten - ist, so wird behauptet, Ausdruck weltanschaulicher, religiöser, ethischer, politischer Grundüberzeugungen, überschreitet also die Grenzen rationaler wissenschaftlicher Begründbarkeit. Es handelt sich bei solchen Wertungen nach dieser Auffassung um transrationale Vor-Entscheidungen.

Natürlich könne und müsse sich auch jemand, der den Beruf des Erziehungswissenschaftlers ausübt, außerhalb seines Wissenschaftler-Berufs für bestimmte Erziehungsziele entscheiden, z. B. als Mutter oder als Vater oder als politisch interessierter Bürger. Aber diese Entscheidung trifft er dann, so lautet die These der kritischen Rationalisten, nicht als Wissenschaftler, sondern im Prinzip nicht anders als jeder Zeitgenosse.

Wir halten fest: Wenn einerseits vom Kritischen Rationalismus zugestanden wird, daß pädagogische Zielsetzungen, d. h. bestimmte pädagogische Wertentscheidungen, als Fakten wissenschaftlich untersucht werden können und sollen, andererseits aber betont wird, daß der Anspruch auf normative Geltung von Zielsetzungen jenseits möglicher wissenschaflicher Begründung liegt, dann beruht diese These offensichtlich auf folgender Vorstellung: Aussagen über Fakten einerseits und Aussagen über Geltungsansprüche andererseits gehören prinzipiell und vollständig unterschiedlichen, voneinander streng zu trennenden Dimensionen des menschlichen Bewußtseins an.


B. Die zweite Grundposition: Die "Kritische Theorie".

Diese Position ist von deutschen Philosophen - in Ansätzen schon vor 1933 und dann im Exil, während der Zeit der Naziherrschaft - formuliert worden, und zwar unter starkem Einfluß der marxistischen Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, aber nicht in einer dogmatischen Bindung an den klassischen Marxismus, sondern als selbständige, kritische Fortbildung. Große Wirkung hat diese Position erst etwa ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Westdeutschland erreicht, also seit den ausgehenden 60er Jahren, vor allem seit der Rezeption innerhalb der deutschen Studentenbewegung und in einem Teil der Sozialwissenschaften, auch in der Erziehungswissenschaft. - Die wichtigsten Vertreter der "Kritischen Theorie" sind bekanntlich die Sozialphilosophen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und deren Schüler Jürgen Habermas. Da Horkheimer und Adorno schon vor 1933 und zunächst auch Habermas nach dem 2. Weltkrieg an der Universität Frankfurt forschten und lehrten, wird diese philosophische Richtung auch als "Frankfurter Schule der Sozialphilosophie" bezeichnet.

Die genannten Autoren (und einige weitere) haben, wie bereits erwähnt, einen Teil der deutschen Erziehungswissenschaft seit jener Zeit stark beeinflußt. Das gilt bis heute hin auch für meine eigene wissenschaftliche Entwicklung über die "Geisteswissenschaftliche Pädagogik" hinaus, von der ich ursprünglich herkomme. Ich verdanke der Auseinandersetzung mit der "Kritischen Theorie" und ihrer Wissenschaftstheorie entscheidende Anstöße, [5] auch für meine Überlegungen über die Aufgaben der Erziehungswissenschaft im Hinblick auf die Klärung von Erziehungszielen.

Die "Kritische Theorie" wirft dem "Kritischen Rationalismus" hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Werturteilen vor, er mache einige unhaltbare Voraussetzungen und verkürze die Probleme. "Kritischer Rationalismus" sei in Wirklichkeit ein "halbierter Rationalismus", das bedeutet: Er bricht gerade bei der Erörterung der Werturteilsfrage die konsequente rationale Reflexion vorzeitig ab.

Ich halte diese Kritik für zutreffend. Das will ich aber an dieser Stelle des Beitrages nicht auf einer generellen wissenschaftstheoretischen Ebene erläutern, sondern erst im Laufe des weiteren Gedankenganges. In diesen Gedankengang gehen nämlich wesentliche Anregungen der Frankfurter Sozialphilosphie ein. Ihre Vertreter haben sich selbst nur gelegentlich zu pädagogischen Fragen geäußert, [6] aber nirgends systematische Überlegungen zur Erziehungswissenschaft, auch nicht zur pädagogischen Zielproblematik unter wissenschaftstheoretischem Aspekt vorgelegt. Ich werde im folgenden also Anregungen, die ich allgemeinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen der "Kritischen Theorie" verdanke, aufnehmen und sie im Hinblick auf die Frage "Erziehungswissenschaft und Erziehungsziele" weiterdenken. Ich tue das im Sinne meiner heutigen erziehungswissenschaftlichen Position, an der ich seit etwa 25 Jahren arbeite und die ich als "kritisch- konstruktive Erziehungswissenschaft" bezeichne. Dabei wird sich zeigen, daß es mir nicht um eine schematische Alternative zu allen Argumentationen des "Kritischen Rationalismus" geht. Ich glaube einerseits zeigen zu können, daß einige der Argumente, die man in Anlehnung an die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule für die Klärung unseres Themas entwickeln kann, der Auffassung des "Kritischen Rationalismus" mit ihrer rigorosen Trennung von Wissenschaft und Wertentscheidung überlegen sind. Aber ich möchte andererseits auch zeigen, daß sich die Überlegenheit dieser Position nur unter folgender Voraussetzung erweisen läßt: Man muß den begrenzten Wahrheitsgehalt der kritisch- rationalistischen Position aufnehmen, ohne dabei stehenzubleiben. Besonders gilt das für die Einsicht des Kritischen Rationalismus in die Grundstruktur jedes wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als eines hypothesenprüfenden Verfahrens.



III. Fünf kritisch-analytische Aufgaben der Erziehungswissenschaft bei der Klärung pädagogischer Zielsetzungen.

Aus meinen bisherigen Überlegungen ergeben sich für die Erziehungswissenschaft zunächst fünf Aufgaben kritisch-analytischer Art; dabei klammere ich rein historisch orientierte Forschung über Erziehungsziele vergangener Epochen der Erziehungspraxis oder Erziehungstheorie hier aus. Später werde ich dann zwei weitere Aufgaben, die konstruktiven Charakter haben, skizzieren.

Zur ersten Aufgabe: Wenn Erziehungswissenschaft Aussagen über pädagogische Ziele macht, dann bezieht sie sich meistens auf eine bereits laufende Zieldiskussion, auf vorliegende Zielkonzepte, bereits diskutierte Zielkontroversen. Nehmen Sie an, daß es in einer bestimmten Gesellschaft der Gegenwart Auseinandersetzungen darüber gibt, welche Bedeutung, welchen Stellenwert die Erziehung zu den spezifischen Werten der betreffenden Nation, Kultur und Gesellschaft haben soll. Auf der einen Seite steht vielleicht die Auffassung, daß die spezifischen Werte dieser Kultur, etwa ihre besonderen Moralvorstellungen, das Zentrum der Erziehung bilden müssen: Das vorrangige Ziel der Erziehung solle die Identifikation der jungen Generation mit diesen kulturspezifischen bzw. nationalen Werten sein. - Die Gegenposition aber vertritt vielleicht die Auffassung, Vorrang müßte die Erziehung zu universalen, die verschiedenen Kulturen und Gesellschaften übergreifenden Werten und Prinzipien haben, z. B. zur weltweiten Verständigung, zur Offenheit gegenüber anderen Völkern, Kulturen, Staaten, zur prinzipiellen Toleranz, zur Suche nach kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen usw.

Erziehungswissenschaft muß angesichts solcher Zielkontroversen die geschichtlichen Voraussetzungen und Implikationen der verschiedenen Positionen aufklären und damit auch folgende Frage zu beantworten versuchen: Sind die historischen Voraussetzungen, die bestimmten Zielsetzungen zugrunde liegen, mit den gegenwärtigen, selbst wiederum historisch gewordenen Lebensbedingungen der Individuen, der Gesellschaft, der Menschheit vereinbar?

Zur zweiten Aufgabe: Erziehungswissenschaft muß - in Verbindung mit Soziologie, Politologie und einer kritischen Psychologie - Zielsetzungen, die in der Theorie oder in der Praxis der Erziehung vertreten werden, daraufhin untersuchen, ob sich darin unreflektierte gesellschaftliche Interessen und Machtpositionen ausdrücken, m. a. W.: "Ideologie" i. e. S. d. W., nämlich gesellschaftlich bedingtes, nachweisbar falsches Bewußtsein, das bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse stützt und vermeintlich rechtfertigt . [7] Ich nenne hier einen Komplex von Beispielen, die man in zahlreichen Variationen im Erziehungsdenken und in der Erziehungspraxis auf der ganzen Welt antrifft: Sehr oft werden bekanntlich Ziele der sozialen und der politischen Erziehung oder Ziele der Berufserziehung für Jungen und Mädchen deutlich unterschiedlich festgelegt, und die praktische Erziehung in den Familien, in den Schulen, im Kindergarten usf. wird entsprechend unterschiedlich praktiziert. An Jungen und Mädchen werden dann ganz unterschiedliche Erwartungen gerichtet, beide Geschlechter werden in unterschiedliche gesellschaftliche Rollen hineinsozialisiert und hineinerzogen. Da heißt es dann z. B. ausdrücklich oder es gilt als "selbstverständlich": Jungen müssen dazu erzogen werden, später einmal im öffentlichen Leben, in der Politik, in verschiedenen Berufen besonders verantwortliche Rollen zu übernehmen, sie sollen unter anderem eine möglichst qualifizierte Berufsausbildung erhalten usw. Sie müssen Durchsetzungsfähigkeit, Konkurrenzfähigkeit, die Fähigkeit, von sich aus Initiativen zu ergreifen, auf irgendeiner Ebene Führungsrollen zu übernehmen usw. erlernen. Mädchen aber sollen vor allem auf ihre Aufgaben als spätere Mütter und Hausfrauen vorbereitet werden, sie sollen die Bereitschaft entwickeln, vor allem soziale, sogenannte helfende Berufe zu ergreifen und im Konfliktfalle Aufgaben in der Familie grundsätzlich Tätigkeiten im Beruf oder im öffentlichen Leben überzuordnen.

Es ist ganz deutlich, daß sich in solchen unterschiedlichen Zielsetzungen für die beiden Geschlechter tradierte gesellschaftliche Ungleichheit, die Dominanz der Männer gegenüber den Frauen niederschlägt. Und zur "Ideologie" werden solche unterschiedlichen Zielvorstellungen für beide Geschlechter, wenn sie mit Behauptungen folgender Art gerechtfertigt werden: Männer und Frauen seien nun einmal "von Natur aus" prinzipiell unterschiedlich, hätten generell ein unterschiedliches "Wesen" und eine unterschiedliche "Bestimmung". Männer seien "von Natur aus" durchschnittlich begabter für Politik oder für Technik, sie seien eher zu intellektuellen, insbesondere wissenschaftlichen Höchstleistungen fähig, Frauen dagegen seien "von Natur aus" emotionaler, anpassungsfähiger und anpassungsbereiter usw. - Erziehungswissenschaft muß die Fragwürdigkeit solcher Behauptungen untersuchen, muß nach ihrem Zusammenhang mit ganz bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fragen.

Zur dritten Aufgabe: Erziehungsziele werden meistens nicht isoliert als je einzelne formuliert oder in der Praxis angestrebt, sondern innerhalb von Zielkomplexen. Die Erziehungswissenschaft hat daher die Aufgabe zu untersuchen, in welchem Verhältnis die einzelnen Zielsetzungen eines solchen Komplexes zueinander stehen, vor allem, ob solche Zielkomplexe in sich stimmig sind, ob die in ihnen enthaltenen Teilziele miteinander verträglich sind oder ob sie vielleicht in ungeklärter Spannung, ggf. sogar im Widerspruch zueinander stehen. Ein solcher Widerspruch läge z. B. in folgendem Fall vor: In einem Lehrplanwerk wird vielleicht gefordert, die Schüler sollten zur Leistungsbereitschaft erzogen werden. Weitere Aussagen dazu ergeben, daß diese Forderung im Rahmen der Vorstellung einer Konkurrenzgesellschaft formuliert wird. Im gleichen Lehrplan trifft man aber z. B. auch auf die programmatische Forderung, junge Menschen sollten zu solidarischem Verhalten untereinander erzogen werden.

Zur vierten Aufgabe: Wenn ich jetzt eine weitere kritisch-analytische Aufgabe der Erziehungswissenschaft, die sie bei der Klärung pädagogischer Zielfragen übernehmen muß, benenne und begründe, dann knüpfe ich damit an jene Kritik der Frankfurter Sozialphilosophischen Schule gegenüber dem "Kritischen Rationalismus" an, die ich im ersten Teil dieses Beitrages bereits ansprach. Die Kritik lautete: Der "Kritische Rationalismus" ist ein "halbierter Rationalismus". Denn er meint, man könne und müsse Aussagen über Fakten der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit streng von Aussagen über die Geltung von Normen trennen.

Ich möchte nun verdeutlichen, daß diese Kritik im Zusammenhang mit pädagogischen Zielfragen zutrifft, und ich möchte zugleich zeigen, welche Aufgaben daraus für die Erziehungswissenschaft folgen.

Zunächst läßt sich aufweisen, daß die vom Kritischen Rationalismus geforderte Trennung bei der Begründung pädagogischer Zielsetzungen meistens gar nicht durchgeführt werden kann. Denn in die Begründung für die Geltung bestimmter Erziehungsziele, die jemand vertritt, gehen meistens nicht nur transrationale, d. h. religiöse, ethische, weltanschauliche, politische Voraussetzungen ein, sondern sehr oft auch empirische Annahmen. Ich beginne die Erläuterung meiner These mit einem einfachen Beispiel:

Jemand vertritt z.B. die Zielvorstellung, daß kleine Kinder zunächst einmal zum Gehorsam erzogen werden müssen, und er gibt von sich aus oder auf Nachfrage an: Einer seiner Gründe oder der Hauptgrund für seine Überzeugung von der Gültigkeit dieser Zielvorstellung sei folgender: Er sähe es aufgrund seiner Erfahrungen oder aufgrund empirischer Forschungsergebnisse als gesichert an, daß Kinder bis etwa zum 10. Lebensjahr noch gar nicht die Fähigkeit zu eigenem, vernünftigem Urteil hätten.

Was an diesem kleinen Beispiel verdeutlicht werden soll, läßt sich an beliebig vielen Stellungnahmen zu pädagogischen Zielfragen nachweisen: gehe es nun um die Zielsetzung "Erziehung zur Anerkennung der Ehe als einziger moralisch gerechtfertigter Form sexueller Beziehungen" oder um "Erziehung zur Identifizierung des jungen Menschen mit der eigenen Nation und ihren Normen" oder aber um "Erziehung zur aktiven Toleranz im Verhältnis zu gesellschaftlichen Minderheiten" usw. usf. Das aber bedeutet: Pädagogische Zielsetzungen beruhen auch in ihrer Begründung keineswegs durchgehend auf transrationalen, weltanschaulichen Wertvorstellungen, sondern sie stützen sich in mehr oder minder großem Umfang auf Annahmen empirischen Charakters, Annahmen über Voraussetzungen und Folgen. Es ist unmittelbar einsichtig, daß solche Realitäts- oder Trendannahmen sich - als Annahmen mit empirischem Gehalt - grundsätzlich daraufhin überprüfen lasen, ob oder wieweit sie mit dem erreichten erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisstand der entsprechenden Wissenschaften vereinbar sind oder (ggf. mit plausiblen Argumenten) davon abweichen.

Mit dieser These bzw. mit meiner Kritik an der Gegenthese ist nun keineswegs die Behauptung verbunden, es sei sicher, daß sich der normative Anspruch, mit dem pädagogische Zielsetzungen verfochten werden, vollständig in rational-wissenschaftlich entscheidbare Fragen überführen lassen müsse. Vielmehr spricht manches für die Annahme, daß der Anteil historisch bzw. empirisch aufklärbarer Implikationen pädagogischer Zielvorstellungen unterschiedlich umfangreich sein dürfte und daß selbst bei einem relativ großen Ausmaß solcher rationaler Aufklärbarkeit immer ein mehr oder minder großer Anteil an tatsächlich transrationalem, weltanschaulichem Überzeugungspotential bestehen bleiben wird. Aber es gibt keine Möglichkeit, vor konsequenten Analysen festlegen zu wollen, wo nun die Grenze zwischen dem rational aufhellbaren Anteil einerseits und den transrationalen Momenten eines Geltungsanspruchs, der mit einer pädagogischen Zielvorstellung verbunden wird, andererseits liegt.

Zur fünften Aufgabe: Da die Formulierung von Erziehungszielen notwendigerweise einen Vorgriff auf die Zukunft, auf noch nicht oder nicht hinreichend realisierte Zielsetzungen bzw. Prinzipien menschlichen Handelns darstellt, kann und muß Erziehungswissenschaft prüfen, wie weit solche Vorgriffe mit Aussagen darüber verbunden werden können, unter welchen objektiven und subjektiven Bedingungen die Einlösung der geforderten Zielsetzungen bzw. Prinzipien erwartet werden kann.


IV. Zwei weitere, konstruktive Aufgaben der Erziehungswissenschaft bei der Klärung pädagogischer Zielsetzungen

Im nächsten Argumentationsschritt dieses Beitrages möchte ich - wie angekündigt - zeigen, daß der mögliche Beitrag der Erziehungswissenschaft zur Aufklärung und zur Mitwirkung an der Begründung von Erziehungszielen mit den genannten fünf Aufgaben noch nicht erschöpft ist. So wichtig die Arbeit an jenen Aufgaben ist, sie stößt an eine Grenze: Verbindliche Orientierungen für unser pädagogisches Handeln sind aus den Ergebnissen solcher Untersuchungen nicht direkt abzuleiten. Um positive Begründungen für die Gültigkeit, die Verbindlichkeit von Erziehungszielen, also von normativen Orientierungen für pädagogisches Handeln zu gewinnen, ist es notwendig, daß Erziehungspraktiker und Erziehungstheoretiker in eine bestimmte Form der Kommunikation eintreten, nämlich in das kommunikative Argumentieren, die vernunftgemäße, ständig reflexiv überprüfte Aussprache über Erziehungsziele und ihre Begründbarkeit. Diese Form des kommunikativen Argumentierens wird in der neueren Kommunikationstheorie bzw. in der neueren westlichen Philosophie meistens mit dem Begriff "Diskurs" bezeichnet. In unserem Falle, wo es sich um die Erörterung normativer bzw. ethischer Ansprüche handelt, geht es um sogenannte "praktische Diskurse", wobei "praktisch" im Sinne der Terminologie Kants und seiner Zeit im Sinne von "ethisch" zu verstehen ist. Man kann also auch von "ethischen Diskursen" sprechen. Diskurse über Erziehungsziele sind dann eine bereichsspezifische Konkretisierung "praktischer" bzw. "ethischer Diskurse".

Damit gewinnt meine Argumentation Anschluß an neuere Entwicklungen der philosophischen Ethik (Moralphilosophie), und zwar an die Bemühungen um die Ausarbeitung einer Diskursethik. Das am weitesten und gründlichsten entwickelte, wenngleich gewiß noch nicht abgeschlossene Konzept dieser Art liegt m. E. in einigen Arbeiten von Jürgen Habermas [8] und Karl-Otto Apel vor . [9] Apel wird zwar gewöhnlich nicht direkt der "Frankfurter Schule" bzw. der "Kritischen Theorie" zugerechnet, steht ihr aber sehr nahe. Er ist einer der bedeutendsten Gesprächspartner von Jürgen Habermas, und er hat dessen Gedanken an einigen Stellen m. E. konstruktiv weitergeführt.

Man kann die Diskursethik als moralphilosophische Antwort auf die ethische Situation des Menschen in der modernen Welt interpretieren. Es ist eine Antwort, in die der kritisch gesichtete Ertrag der moralphilosophischen Reflexion der antiken und der neuzeitlichen westlichen Philosophie - hier insbesondere seit der "Praktischen Philosophie", der Ethik Kants - eingegangen ist. - Drei Zentraleinsichten bilden, wenn ich recht sehe, die Ausgangsbasis der Diskursethik:

Erstens: Ethische Orientierungen, d. h. Prinzipien, Grundsätze für menschliches Handeln, die Sollenscharakter haben, Verbindlichkeit beanspruchen, folglich auch pädagogische Zielsetzungen, gelten als Hervorbringungen der menschlichen Vernunft. Sie muß zwar formell als generelle Möglichkeit jedes Menschen, als ein spezifisches Merkmal menschlicher Existenz vorausgesetzt werden, ist aber inhaltlich selbst ein unabgeschlossenes und unabschließbares Produkt der menschlichen Gattungsgeschichte. Ethische Prinzipien werden im Hinblick auf bestimmte geschichtliche Erfahrungen und auf im geschichtlichen Prozeß entwickelte Einsichten und Interessen entworfen, sie sind also in ihrem Geltungsanspruch nicht unabhängig von faktisch erfahrener Geschichte zu begründen und können sich mit dieser von den Menschen selbst hervorgebrachten Geschichte wandeln.

Zweitens: Wenn die Geltung ethischer Orientierungen nirgends absolut und übergeschichtlich verbürgt ist, sondern im historischen Prozeß, in der Verarbeitung historischer Erfahrungen immer neu gewonnen und fortentwickelt werden muß, so sind wir auf den Diskurs vernunftfähiger und vernunftwilliger Menschen angewiesen. Ob und inwiefern ethische Prinzipien für unser Handeln - hier: für pädagogische Entscheidungen und pädagogisches Handeln - Geltung beanspruchen können, das ist demnach nicht anders zu ermitteln als durch den ethischen Diskurs der Menschen, der an den regulativen Ideen der herrschaftfreien Kommunikation und der Bemühung, jeweils einen vernunftgemäßen Konsens zu finden, orientiert sein muß.

Drittens: Die These vom geschichtlichen Wandel ethischer Orientierungen zu vertreten bedeutet nicht, dem ethischen Relativismus das Wort zu reden. Das ergibt sich aus dem Grundsatz, daß der Anspruch auf Geltung, mit dem jemand ein ethisches Prinzip vertritt, begründet und dem prüfenden Diskurs ausgesetzt werden muß. Wenn aber ethische Prinzipien als Hervorbringungen im Prozeß der Menschheitsgeschichte verstanden werden, dann bedeutet das zugleich, daß die bisher in der Geschichte geleistete ethische Reflexion gleichsam mit zu den Partnern ethischer Diskurse gehört. Das heißt: Man darf - im Prinzip - nicht hinter bereits erreichte Niveaus ethischer Vernunfterkenntnis zurückfallen, etwa hinter das von Kant formulierte Prinzip, daß der Mensch nie nur - oder genauer: überhaupt nicht als Mittel zu Zwecken außerhalb seiner selbst, sondern stets als Zweck an sich selbst, als vernunftfähige Person zu achten sei.

Auf der Basis dieser drei eben genannten Zentraleinsichten hat die Diskursethik nun als eines ihrer weiteren, grundlegenden Elemente einen mehrschichtigen Katalog allgemeiner Diskursregeln herausgearbeitet. Ich kann diesen Katalog hier nicht vollständig referieren. An dieser Stelle sollen nur die Regeln genannt werden, die eingehalten werden müssen, wenn herrschaftsfreie Diskurse zustande kommen sollen, d.h. solche Gespräche, in denen nur die Kraft guter Argumente anerkannt wird, nicht irgendwelche Autoritäten, Tabus, offene oder verborgene Abhängigkeiten oder gar Drohungen. Es sind folgende fünf Regeln:


Ein weiteres, konstitutives Element der Diskursethik ist das sogenannte "Universalisierungsprinzip". Es besagt, daß nur solche Normen Anspruch auf Gültigkeit haben, bei denen "Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können" (Habermas 1986, S. 18).

An den genannten, von Habermas und anderen Autoren entwickelten Bestimmungen des praktischen Diskurses muß man m. E. im Hinblick auf die Frage der argumentativen Begründbarkeit pädagogischer Ziele mindestens zwei Modifikationen vornehmen:

Erstens: Der Bereich möglicher Themen pädagogischer Ziel-Diskurse kann nicht auf solche (zunächst hypothetischen) Normen eingeschränkt werden, "die im strikten Sinne universalisierbar sind, also nicht über soziale Räume und historische Zeiten variieren" (Habermas 1983, S. 121).

Zweitens: Das "Universalisierungsprinzip" muß m. E. im Sinne eines nach Umfängen der beanspruchten Geltung abgestuften "Verallgemeinerungsprinzips" modifiziert werden; "nur" seine letzte Stufe entspräche dann dem im strengen Sinne gefaßten Begriff "universaler Geltung" (als einschränkungsloser Allgemeingültigkeit).

Beide Modifikationen sind in folgendem Sinne mit der oben zitierten, von Habermas vorgeschlagenen Formulierung des "Universalisierungskriteriums" vereinbar: Alle diejenigen, die bei der argumentativen Gültigkeitsprüfung einer vorgeschlagenen Handlungsnorm (eines pädagogischen Ziels) sinnvollerweise als Betroffene gelten können, definieren den Umkreis der notwendigen Verallgemeinerbarkeit.

Was folgt nun aus diesen knappen Ausführungen zur Diskursethik für unsere Fragestellung? Meine Antwort lautet: Die fünf kritisch-analytischen Aufgaben der Erziehungswissenschaft im Hinblick auf die Klärung von pädagogischen Zielproblemen, die ich im vorangehenden Abschnitt entwickelte, müssen durch zwei weitere ergänzt werden. Dabei handelt es sich um konstruktive Aufgaben.

Die sechste Aufgabe ist folgende:

Erziehungswissenschaft müßte selbst Beispiele "praktischer Diskurse" entwickeln. M. a. W.: Sie müßte die Möglichkeiten konsensorientierter Diskurse über strittige Fragen der pädagogischen Zielbestimmung im Vollzug erproben. Sie müßte also zu zentralen pädagogischen Zielfragen, etwa den Fragen nach Normen der Friedenserziehung oder der Sexualerziehung usf., überschaubare Gruppen von Pädagogen - "Theoretiker" und "Praktiker" (etwa Lehrer, Sozialpädagogen, Eltern, ggf. Vertreter bereits vorliegender, unterschiedlicher bzw. kontroverser Zielprogramme) - in einer Folge von Diskurs-Symposien zusammenführen, vergleichbar den "sokratischen Gesprächen", wie sie heute im Kreise der philosophischen und pädagogischen Schüler von Leonhard Nelson und Gustav Heckmann durchgeführt werden. [10] Solche Diskurse müßten durch Tonband-Aufzeichnungen oder Protokollationen dokumentiert und mit den Teilnehmern zusammen auf Prozeßmerkmale, Schwierigkeiten, die Berücksichtigung der Diskursregeln, die Stringenz der inhaltlichen Argumentationen und hinsichtlich der Schritte zu konsensualen Verallgemeinerungen untersucht werden. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen aber müßten dann als Hilfen in neue Diskurse der angedeuteten Art eingegeben werden.

Solche Diskurs-Folgen sind z. B. auch in der Lehrerausbildung und der Lehrerfortbildung denkbar.

Nun zur siebenten Aufgabe: Wenn es richtig ist, daß ethische Normen des Handelns unter den Bedingungen der neuzeitlichen Entwicklung nur als argumentativ begründete und an einsichtige, konsensuale Zustimmung gebundene Orientierungen Geltung beanspruchen können, dann erwächst daraus eine fundamentale pädagogische Zielsetzung: Erziehung muß systematisch und kontinuierlich auf die Entwicklung der Diskursfähigkeit der nachwachsenden Generation bzw. der Lernenden ausgerichtet sein. Klaus Mollenhauer hat schon 1972 auf diese Aufgabe hingewiesen . [11] Das bedeutet auch: Alle normativen Vorgriffe, die die Erziehenden bzw. Lehrenden im pädagogisch-intentionalen Handeln vollziehen, haben zunächst nur den Status vorläufiger, vermuteter Geltung. Solche Vorgriffe müssen im pädagogischen Prozeß selbst der erneuten, argumentativen Bewährungsprobe im praktischen Diskurs mit den Lernenden ausgesetzt werden. Denn die Erziehenden bzw. Lehrenden haben im Hinblick auf die Fähigkeit zu praktischen Diskursen immer nur einen graduellen Kompetenzvorsprung gegenüber den Jüngeren bzw. den Lernenden. Verantwortliches pädagogisches Handeln unter den Bedingungen der neuzeitlichen Welt muß darauf gerichtet sein, diesen graduellen Kompetenzvorsprung gezielt abzubauen.

Erziehungswissenschaft muß also in Kooperation mit Erziehungspraktikern langfristige Modell-Versuche in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern - im Bereich der Schule, der Sozialpädagogik und der außerschulischen Jugendbildung sowie der Erwachsenenbildung - anregen. In solchen Versuchen geht es um die Erprobung und die Untersuchung von Möglichkeiten und Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Fähigkeit zum Vollzug praktischer Diskurse.


V. Abschluß

In einer Welt, in der die Völker, die Nationen, die Staaten, die Regionen der Erde immer stärker durch wechselseitige Beziehungen miteinander verbunden und voneinander abhängig werden, muß sich die praktische Erziehung und die Erziehungswissenschaft m. E. zwei internationalen, interkulturellen Aufgaben stellen, die sich wechselseitig bedingen:



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Anmerkungen


[1] ) Die Kerngedanken dieses Beitrages habe ich zuerst in dem Aufsatz "Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielsetzungen beitragen? Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit diskursethischen Erörterungen zu verbinden", entwickelt. In: H. Röhrs / H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verständigung. Wilhelm Flitner zur Vollendung seines 100. Lebensjahres am 20. August 1989 gewidmet. Frankfurt/M. 1989, S. 147 - 159.

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[2] ) Vgl. u. a. Christian v. Ferber: Der Werturteilsstreit 1909 - 1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation. In: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaft. Köln/Berlin 1965, S. 165 - 180. - Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 2. Aufl. Neuwied, Berlin 1970.

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[3] ) Zur Werturteilsfrage vgl. u. a. die Beiträge Poppers und Alberts in dem in Anm. 2 genannten Sammelband "Der Positivismusstreit ...".

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[4] ) W. Brezinka: Metatheorie der Erziehung. München/Basel 1978. - Ders.: Empirische Erziehungswissenschaft und andere Erziehungstheorien: Differenzen und Verständigungsmöglichkeiten. In: H. Röhrs/H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft ..., vgl. Anm. 1), S. 71 - 82.

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[5] ) Vgl. dazu den Beitrag über "Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft" in diesem Bande.

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[6] ) Hinsichtlich der Frage nach Erziehungszielen ist vor allem auf Theodor W. Adornos "Erziehung zur Mündigkeit - Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 - 1969", hrsg. von G. Kadelbach, Frankfurt/M. 1970, hinzuweisen.

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[7] ) Vgl. dazu die Ausführungen zur Ideologiekritik im Beitrag "Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft" in diesem Band.

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[8] ) J. Habermas: Wahrheitstheorien. In: H. Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Pfullingen 1973, S. 211 - 265. - Ders.: Zwei Bemerkungen zum praktischen Diskurs. In : Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt/M. 1976, S. 338 - 346. - Ders.: Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1983, S. 53 - 125. - Ders.: Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: W. Kuhlmann: Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 16 - 37.

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[9] ) Karl-Otto Apel: Kann der postkantische Standpunkt noch einmal in substantielle Sittlichkeit "aufgehoben" werden? Das geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression. In: W. Kuhlmann: Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 217 - 264. - Ders.: Das Sokratische Gespräch und die gegenwärtige Transformation der Philosophie. In: D. Krohn u. a. (Hrsg.): Das Sokratische Gespräch. - Ein Symposion. Hamburg 1989, S. 55 - 77.

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[10] ) Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover 1981. - W. Klafki: Zur Frage nach der pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuer Diskurstheorien. In: D. Horster / D. Krohn (Hrsg.): Vernunft - Ethik - Politik. Hannover 1983, S. 277 - 287. - D. Krohn u. a. (Hrsg.): Das Sokratische Gespräch - Ein Symposion. Hamburg 1989.

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[11] ) K. Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972, S. 67/68; vgl. S. 84 ff.

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