Klafki, Wolfgang: Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. Marburg 1998:
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k05.html
- 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 54-71.
Wolfgang Klafki
Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung
I. Vorbemerkungen
In diesem Beitrag wird es nicht um die eingehende Erörterung einzelner Ziele der Erziehung
gehen. Ich werde also nicht ausführlicher über Ziele der Erziehung sprechen, die z. B.
aus der Sicht einer bestimmten Kultur und Gesellschaft und ihrer Geschichte heute besondere
Bedeutung haben oder besonders umstritten sind, z. B. aus deutscher Sicht. Ich werde aber auch
nicht eingehender Ziele der Erziehung diskutieren, die m. E. international zentrale Bedeutung haben,
weil sie sich auf Probleme und Gefahren beziehen, mit denen alle Völker und Gesellschaften
der Erde gegenwärtig und vermutlich auch in der absehbaren Zukunft konfrontiert sind: Hier
nenne ich nur drei Beispiele:
- die Sicherung des Friedens - pädagogisch gewendet: Ziele der Friedenserziehung;
- die Gefährdung bzw. den Schutz unserer natürlichen Umwelt - pädagogisch
gewendet: Ziele der Erziehung zum Umweltbewußtsein und zu umweltbewußtem
Handeln;
- die immer größer werdende Spannung zwischen dem Wohlstand und der Macht der
großen, sogenannten "entwickelten" Industriegesellschaften der Erde auf der einen Seite
und der Armut, dem Elend, der Abhängigkeit vieler Länder der "Dritten Welt", der
sogenannten Entwicklungsländer, auf der anderen Seite - pädagogisch gewendet
heißt das: Ziele der Erziehung zu internationaler Solidarität.
(Diese Fragen stehen im Zentrum des Beitrages über "Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung" in diesem Band.)
Zwar werde ich mich auf solche Ziele als Beispiele mehrfach beziehen, ihre Begründung und
genauere Entfaltung ist aber an dieser Stelle nicht mein Thema. Vielmehr werde ich im folgenden
wissenschaftstheoretische Probleme in den Vordergrund rücken. Meine
Hauptfrage lautet: Was kann Wissenschaft, in unserem Falle also: was kann Erziehungswissenschaft
zur Klärung von Erziehungszielen beitragen?
[1]
Ich formuliere das Grundproblem noch einmal etwas ausführlicher, und zwar in der Form einer
Alternative: Kann Erziehungswissenschaft nur beschreiben und analysieren, welche Ziele
in der Erziehung in einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Gesellschaft, einer bestimmten
historischen Epoche von bestimmten Pädagogen oder von einzelnen Gruppen oder von der
Mehrzahl der Eltern usf. programmatisch bejaht und ggf. tatsächlich vertreten werden oder
vertreten worden sind? Oder kann Pädagogik als Wissenschaft zu solchen Zielen auch
beurteilend Stellung nehmen, sie ggf. kritisieren, also wissenschaftlich begründen, daß
bestimmte Ziele, z. B. Ziele der politischen Erziehung oder der Sexualerziehung oder der
religiösen Erziehung, problematisch, historisch überholt sind, weil sie Folgen haben
können, die man nicht verantworten kann? Und dasselbe positiv gewendet: Kann
Erziehungswissenschaft zur Begründung der Forderung beitragen, daß bestimmte
Erziehungsziele gelten sollen, daß sie von den Eltern, den Lehrern, den
Sozialpädagogen, den Erwachsenenbildnern angestrebt werden sollen? Kann sie also als
Wissenschaft normative Aussagen machen, oder überschreitet sie damit den Rahmen, der
jeder Wissenschaft gesetzt ist? Man denke etwa an die vorher genannten Beispiele
"Friedenserziehung", "Umwelterziehung" ("ökologische Erziehung"), "Erziehung zu
internationaler Solidarität" u. ä. Diese wissenschaftstheoretische Frage ist international
und vor allem auch in der deutschen Erziehungswissenschaft umstritten.
Im Hinblick auf die folgenden Überlegungen muß ich zwei Einschränkungen
hervorheben:
Erstens: Ich beziehe mich im folgenden vorwiegend auf deutschsprachige Literatur zum Thema.
Allerdings sind in diese Literatur an zentralen Stellen Überlegungen aus der internationalen
Diskussion eingegangen.
Zweitens kann ich auch innerhalb der eben angedeuteten Einschränkung nicht im einzelnen auf
die verschiedenen Positionen, die in der Diskussion zum Thema vertreten werden, auf ihre
Entwicklung und ihre Voraussetzungen eingehen. Ich werde mich im wesentlichen auf die zentrale
Kontroverse beziehen. Hier stehen sich zwei wissenschaftstheoretische Positionen gegenüber,
die ich in der vorher skizzierten Alternative bereits angedeutet habe.
Die Kontroverse zwischen beiden Positionen reicht bekanntlich über die
Erziehungswissenschaft weit hinaus, sie ist also ein genereller wissenschaftstheoretischer
Streitpunkt, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften. In der deutschen Literatur wird die
Auseinandersetzung seit längerer Zeit als "Werturteilsstreit", z. T. auch als
"Positivismusstreit" bezeichnet, d. h. als Streit um die Frage: Kann bzw. darf Wissenschaft
Werturteile aussprechen oder kann bzw. darf sie es nicht? [2]
II. Wissenschaft und Werturteile - zwei
Kontroverspositionen
Ich wende mich zunächst einer knappen Charakterisierung der Hauptpositionen zu, die sich
gegenüberstehen. Terminologisch ist die Sachlage etwas verwirrend, denn beide Positionen
verwenden zu ihrer Kennzeichnung das Wort "kritisch": Die erste Position nennt sich seit einigen
Jahrzehnten "Kritischer Rationalismus", die Gegenposition bezeichnet sich selbst als
"Kritische Theorie".
A. Die erste Position: Der "Kritische Rationalismus".
Diese Position ist zunächst vor allem von dem Philosophen Karl Raimund Popper
begründet worden, und zwar seit den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Popper, von Geburt
Österreicher, ist damals nach England emigriert und hat seither an englischen
Universitäten gelehrt. Einer der bedeutendsten deutschen Anhänger Poppers ist der
Mannheimer Wissenschaftstheoretiker Hans Albert.
[3] In der deutschen Erziehungswissenschaft gibt es seit den 60er Jahren etliche
ausdrückliche und unausdrückliche Anhänger dieses Standpunktes. Besonders
kämpferisch vertritt ihn der an der Universität Konstanz lehrende Kollege Wolfgang
Brezinka. [4] - Was besagt diese
Position?
Ihre Kernthese lautet: Wissenschaft im allgemeinen und Erziehungswissenschaft im besonderen ist
nicht in der Lage, und es ist ihr nicht erlaubt, Aussagen mit normativem Inhalt, sogenannte
"normative Aussagen" auszusprechen, m. a. W.: Werturteile. Für die Erziehungswissenschaft
bedeutet das hinsichtlich des Problems der Erziehungsziele: Erziehungswissenschaft kann keine
Urteile über die Geltung, über die normative Verbindlichkeit bestimmter
pädagogischer Ziele fällen. Sie kann als Wissenschaft also nicht sagen:
Friedenserziehung oder Erziehung zur Erhaltung der natürlichen Grundlagen der menschlichen
Existenz oder bestimmte Zielsetzungen der Sexualerziehung usf. sind notwendige, verbindliche,
wissenschaftlich begründbare Ziele. Erziehungswissenschaft müsse vielmehr wie jede
andere Wissenschaft das Prinzip der Werturteilsfreiheit für alle ihre Aussagen
anerkennen.
Dieser Standpunkt bedeutet nun nicht etwa, daß Erziehungsziele überhaupt nicht als
Thema erziehungswissenschaftlicher Forschung zugelassen werden. Die Konsequenz lautet
vielmehr: Erziehungswissenschaft kann und soll pädagogische Ziele, die von bestimmten
Menschen oder Menschengruppen vertreten werden, als historische bzw. empirische Fakten
untersuchen, d. h. beschreiben und analysieren, etwa unter folgenden Fragestellungen:
- Was besagen bestimmte Zielformulierungen, die im Bereich der Erziehung vertreten werden,
eigentlich? Was ist z. B. konkret mit der Forderung nach Erziehung von Kindern zur Ehrlichkeit,
zur Achtung vor älteren Menschen, zur Toleranz, zur politischen Kritikfähigkeit, zur
Friedensfähigkeit und Friedensbereitschaft usw. gemeint?
- Welche gesellschaftlichen Gruppen vertreten bestimmte pädagogische Zielvorstellungen?
Anhänger bestimmter Religionen, bestimmter politischer Auffassungen, Vertreter der
Wirtschaft, Angehörige bestimmter sozialer Klassen oder Schichten, z. B. der
Arbeiterschaft oder des wohlhabenden Bürgertums usw.?
- Steckt in pädagogischen Zielvorstellungen eine bestimmte Geschichte, gehen die betreffenden
Zielsetzungen aus bestimmten religiösen oder weltanschaulichen oder politischen
Überzeugungen oder aus ethischen Systemen hervor?
- Da einzelne pädagogische Zielsetzungen fast immer in den Zusammenhang eines ganzen
Komplexes von weiteren Zielsetzungen eingebettet sind, ist zu untersuchen: Ist der
Gesamtkomplex von Zielen, das "Zielsystem", das in einer Kultur, einer bestimmten Gruppe, von
einer bestimmten pädagogischen Richtung vertreten wird, in sich logisch stimmig oder
vielleicht widersprüchlich?
Solche Fragen zur pädagogischen Zielproblematik können und sollen also auch nach der
Auffassung des Kritischen Rationalismus von der Erziehungswissenschaft untersucht werden, und
insofern kann und soll Erziehungswissenschaft zur Aufklärung pädagogischer
Zielprobleme beitragen. Aber hier liegt im Sinne dieser Position auch die Grenze der
Erziehungswissenschaft: Wo es um die Frage der normativen Verbindlichkeit geht, in der
Sprache der Philosophie ausgedrückt: um die Geltung eines pädagogischen Zieles
oder eines ganzen Zielkomplexes, da hat Wissenschaft zu schweigen. Ob also Ziele der
Friedenserziehung, der Umwelterziehung, der Erziehung zu sogenannten "Tugenden" wie
Sauberkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Tüchtigkeit usf. gelten sollen, verbindlich sind, das
könne Erziehungswissenschaft nicht entscheiden. Denn jede positive oder auch negative
Wertung - ja, dieses Ziel soll gelten; nein, jenes Ziel soll nicht gelten - ist, so wird behauptet,
Ausdruck weltanschaulicher, religiöser, ethischer, politischer Grundüberzeugungen,
überschreitet also die Grenzen rationaler wissenschaftlicher Begründbarkeit. Es handelt
sich bei solchen Wertungen nach dieser Auffassung um transrationale Vor-Entscheidungen.
Natürlich könne und müsse sich auch jemand, der den Beruf des
Erziehungswissenschaftlers ausübt, außerhalb seines Wissenschaftler-Berufs
für bestimmte Erziehungsziele entscheiden, z. B. als Mutter oder als Vater oder als politisch
interessierter Bürger. Aber diese Entscheidung trifft er dann, so lautet die These der kritischen
Rationalisten, nicht als Wissenschaftler, sondern im Prinzip nicht anders als jeder Zeitgenosse.
Wir halten fest: Wenn einerseits vom Kritischen Rationalismus zugestanden wird, daß
pädagogische Zielsetzungen, d. h. bestimmte pädagogische Wertentscheidungen, als
Fakten wissenschaftlich untersucht werden können und sollen, andererseits aber betont wird,
daß der Anspruch auf normative Geltung von Zielsetzungen jenseits
möglicher wissenschaflicher Begründung liegt, dann beruht diese These offensichtlich
auf folgender Vorstellung: Aussagen über Fakten einerseits und Aussagen über
Geltungsansprüche andererseits gehören prinzipiell und vollständig
unterschiedlichen, voneinander streng zu trennenden Dimensionen des menschlichen
Bewußtseins an.
B. Die zweite Grundposition: Die "Kritische Theorie".
Diese Position ist von deutschen Philosophen - in Ansätzen schon vor 1933 und dann im Exil,
während der Zeit der Naziherrschaft - formuliert worden, und zwar unter starkem
Einfluß der marxistischen Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, aber nicht in einer
dogmatischen Bindung an den klassischen Marxismus, sondern als selbständige, kritische
Fortbildung. Große Wirkung hat diese Position erst etwa ein Vierteljahrhundert nach dem Ende
des 2. Weltkrieges in Westdeutschland erreicht, also seit den ausgehenden 60er Jahren, vor allem seit
der Rezeption innerhalb der deutschen Studentenbewegung und in einem Teil der
Sozialwissenschaften, auch in der Erziehungswissenschaft. - Die wichtigsten Vertreter der
"Kritischen Theorie" sind bekanntlich die Sozialphilosophen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno
und deren Schüler Jürgen Habermas. Da Horkheimer und Adorno schon vor 1933 und
zunächst auch Habermas nach dem 2. Weltkrieg an der Universität Frankfurt forschten
und lehrten, wird diese philosophische Richtung auch als "Frankfurter Schule der Sozialphilosophie"
bezeichnet.
Die genannten Autoren (und einige weitere) haben, wie bereits erwähnt, einen Teil der
deutschen Erziehungswissenschaft seit jener Zeit stark beeinflußt. Das gilt bis heute hin auch
für meine eigene wissenschaftliche Entwicklung über die "Geisteswissenschaftliche
Pädagogik" hinaus, von der ich ursprünglich herkomme. Ich verdanke der
Auseinandersetzung mit der "Kritischen Theorie" und ihrer Wissenschaftstheorie entscheidende
Anstöße, [5] auch für meine
Überlegungen über die Aufgaben der Erziehungswissenschaft im Hinblick auf die
Klärung von Erziehungszielen.
Die "Kritische Theorie" wirft dem "Kritischen Rationalismus" hinsichtlich der Frage nach dem
Verhältnis von Wissenschaft und Werturteilen vor, er mache einige unhaltbare
Voraussetzungen und verkürze die Probleme. "Kritischer Rationalismus" sei in Wirklichkeit
ein "halbierter Rationalismus", das bedeutet: Er bricht gerade bei der Erörterung der
Werturteilsfrage die konsequente rationale Reflexion vorzeitig ab.
Ich halte diese Kritik für zutreffend. Das will ich aber an dieser Stelle des Beitrages nicht auf
einer generellen wissenschaftstheoretischen Ebene erläutern, sondern erst im Laufe des
weiteren Gedankenganges. In diesen Gedankengang gehen nämlich wesentliche Anregungen
der Frankfurter Sozialphilosphie ein. Ihre Vertreter haben sich selbst nur gelegentlich zu
pädagogischen Fragen geäußert,
[6] aber nirgends systematische Überlegungen zur Erziehungswissenschaft, auch nicht
zur pädagogischen Zielproblematik unter wissenschaftstheoretischem Aspekt vorgelegt. Ich
werde im folgenden also Anregungen, die ich allgemeinen wissenschaftstheoretischen
Überlegungen der "Kritischen Theorie" verdanke, aufnehmen und sie im Hinblick auf die Frage
"Erziehungswissenschaft und Erziehungsziele" weiterdenken. Ich tue das im Sinne meiner heutigen
erziehungswissenschaftlichen Position, an der ich seit etwa 25 Jahren arbeite und die ich als "kritisch-
konstruktive Erziehungswissenschaft" bezeichne. Dabei wird sich zeigen, daß es mir nicht um
eine schematische Alternative zu allen Argumentationen des "Kritischen Rationalismus" geht. Ich
glaube einerseits zeigen zu können, daß einige der Argumente, die man in Anlehnung an
die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule für die Klärung unseres Themas
entwickeln kann, der Auffassung des "Kritischen Rationalismus" mit ihrer rigorosen Trennung von
Wissenschaft und Wertentscheidung überlegen sind. Aber ich möchte andererseits auch zeigen, daß sich die Überlegenheit dieser Position nur unter folgender Voraussetzung
erweisen läßt: Man muß den begrenzten Wahrheitsgehalt der kritisch-
rationalistischen Position aufnehmen, ohne dabei stehenzubleiben. Besonders gilt das für die
Einsicht des Kritischen Rationalismus in die Grundstruktur jedes wissenschaftlichen
Erkenntnisprozesses als eines hypothesenprüfenden Verfahrens.
III. Fünf kritisch-analytische Aufgaben der
Erziehungswissenschaft bei der Klärung
pädagogischer Zielsetzungen.
Aus meinen bisherigen Überlegungen ergeben sich für die Erziehungswissenschaft
zunächst fünf Aufgaben kritisch-analytischer Art; dabei klammere ich rein
historisch orientierte Forschung über Erziehungsziele vergangener Epochen der
Erziehungspraxis oder Erziehungstheorie hier aus. Später werde ich dann zwei weitere
Aufgaben, die konstruktiven Charakter haben, skizzieren.
Zur ersten Aufgabe: Wenn Erziehungswissenschaft Aussagen über pädagogische Ziele macht, dann bezieht
sie sich meistens auf eine bereits laufende Zieldiskussion, auf vorliegende Zielkonzepte, bereits
diskutierte Zielkontroversen. Nehmen Sie an, daß es in einer bestimmten Gesellschaft der
Gegenwart Auseinandersetzungen darüber gibt, welche Bedeutung, welchen Stellenwert die
Erziehung zu den spezifischen Werten der betreffenden Nation, Kultur und Gesellschaft haben soll.
Auf der einen Seite steht vielleicht die Auffassung, daß die spezifischen Werte dieser Kultur,
etwa ihre besonderen Moralvorstellungen, das Zentrum der Erziehung bilden müssen: Das
vorrangige Ziel der Erziehung solle die Identifikation der jungen Generation mit diesen
kulturspezifischen bzw. nationalen Werten sein. - Die Gegenposition aber vertritt vielleicht die
Auffassung, Vorrang müßte die Erziehung zu universalen, die verschiedenen Kulturen
und Gesellschaften übergreifenden Werten und Prinzipien haben, z. B. zur weltweiten
Verständigung, zur Offenheit gegenüber anderen Völkern, Kulturen, Staaten, zur
prinzipiellen Toleranz, zur Suche nach kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten zwischen allen
Menschen usw.
Erziehungswissenschaft muß angesichts solcher Zielkontroversen die geschichtlichen
Voraussetzungen und Implikationen der verschiedenen Positionen aufklären und damit auch
folgende Frage zu beantworten versuchen: Sind die historischen Voraussetzungen, die bestimmten
Zielsetzungen zugrunde liegen, mit den gegenwärtigen, selbst wiederum historisch
gewordenen Lebensbedingungen der Individuen, der Gesellschaft, der Menschheit vereinbar?
Zur zweiten Aufgabe: Erziehungswissenschaft muß - in Verbindung mit
Soziologie, Politologie und einer kritischen Psychologie - Zielsetzungen, die in der Theorie oder in
der Praxis der Erziehung vertreten werden, daraufhin untersuchen, ob sich darin unreflektierte
gesellschaftliche Interessen und Machtpositionen ausdrücken, m. a. W.: "Ideologie" i. e. S. d.
W., nämlich gesellschaftlich bedingtes, nachweisbar falsches Bewußtsein, das bestehende
Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse stützt und vermeintlich rechtfertigt . [7] Ich nenne hier einen Komplex von Beispielen,
die man in zahlreichen Variationen im Erziehungsdenken und in der Erziehungspraxis auf der ganzen
Welt antrifft: Sehr oft werden bekanntlich Ziele der sozialen und der politischen Erziehung oder Ziele
der Berufserziehung für Jungen und Mädchen deutlich unterschiedlich festgelegt,
und die praktische Erziehung in den Familien, in den Schulen, im Kindergarten usf. wird
entsprechend unterschiedlich praktiziert. An Jungen und Mädchen werden dann ganz
unterschiedliche Erwartungen gerichtet, beide Geschlechter werden in unterschiedliche
gesellschaftliche Rollen hineinsozialisiert und hineinerzogen. Da heißt es dann z. B.
ausdrücklich oder es gilt als "selbstverständlich": Jungen müssen dazu erzogen
werden, später einmal im öffentlichen Leben, in der Politik, in verschiedenen Berufen
besonders verantwortliche Rollen zu übernehmen, sie sollen unter anderem eine
möglichst qualifizierte Berufsausbildung erhalten usw. Sie müssen
Durchsetzungsfähigkeit, Konkurrenzfähigkeit, die Fähigkeit, von sich aus
Initiativen zu ergreifen, auf irgendeiner Ebene Führungsrollen zu übernehmen usw.
erlernen. Mädchen aber sollen vor allem auf ihre Aufgaben als spätere Mütter und
Hausfrauen vorbereitet werden, sie sollen die Bereitschaft entwickeln, vor allem soziale, sogenannte
helfende Berufe zu ergreifen und im Konfliktfalle Aufgaben in der Familie grundsätzlich
Tätigkeiten im Beruf oder im öffentlichen Leben überzuordnen.
Es ist ganz deutlich, daß sich in solchen unterschiedlichen Zielsetzungen für die beiden
Geschlechter tradierte gesellschaftliche Ungleichheit, die Dominanz der Männer
gegenüber den Frauen niederschlägt. Und zur "Ideologie" werden solche
unterschiedlichen Zielvorstellungen für beide Geschlechter, wenn sie mit Behauptungen
folgender Art gerechtfertigt werden: Männer und Frauen seien nun einmal "von Natur aus"
prinzipiell unterschiedlich, hätten generell ein unterschiedliches "Wesen" und eine
unterschiedliche "Bestimmung". Männer seien "von Natur aus" durchschnittlich begabter
für Politik oder für Technik, sie seien eher zu intellektuellen, insbesondere
wissenschaftlichen Höchstleistungen fähig, Frauen dagegen seien "von Natur aus"
emotionaler, anpassungsfähiger und anpassungsbereiter usw. - Erziehungswissenschaft
muß die Fragwürdigkeit solcher Behauptungen untersuchen, muß nach ihrem
Zusammenhang mit ganz bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fragen.
Zur dritten Aufgabe: Erziehungsziele werden meistens nicht isoliert als je
einzelne formuliert oder in der Praxis angestrebt, sondern innerhalb von Zielkomplexen. Die
Erziehungswissenschaft hat daher die Aufgabe zu untersuchen, in welchem Verhältnis die
einzelnen Zielsetzungen eines solchen Komplexes zueinander stehen, vor allem, ob solche
Zielkomplexe in sich stimmig sind, ob die in ihnen enthaltenen Teilziele miteinander verträglich
sind oder ob sie vielleicht in ungeklärter Spannung, ggf. sogar im Widerspruch zueinander
stehen. Ein solcher Widerspruch läge z. B. in folgendem Fall vor: In einem Lehrplanwerk wird
vielleicht gefordert, die Schüler sollten zur Leistungsbereitschaft erzogen werden. Weitere
Aussagen dazu ergeben, daß diese Forderung im Rahmen der Vorstellung einer
Konkurrenzgesellschaft formuliert wird. Im gleichen Lehrplan trifft man aber z. B. auch auf die
programmatische Forderung, junge Menschen sollten zu solidarischem Verhalten
untereinander erzogen werden.
Zur vierten Aufgabe: Wenn ich jetzt eine weitere kritisch-analytische Aufgabe
der Erziehungswissenschaft, die sie bei der Klärung pädagogischer Zielfragen
übernehmen muß, benenne und begründe, dann knüpfe ich damit an jene
Kritik der Frankfurter Sozialphilosophischen Schule gegenüber dem "Kritischen
Rationalismus" an, die ich im ersten Teil dieses Beitrages bereits ansprach. Die Kritik lautete: Der
"Kritische Rationalismus" ist ein "halbierter Rationalismus". Denn er meint, man könne und
müsse Aussagen über Fakten der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit streng von
Aussagen über die Geltung von Normen trennen.
Ich möchte nun verdeutlichen, daß diese Kritik im Zusammenhang mit
pädagogischen Zielfragen zutrifft, und ich möchte zugleich zeigen, welche Aufgaben
daraus für die Erziehungswissenschaft folgen.
Zunächst läßt sich aufweisen, daß die vom Kritischen Rationalismus
geforderte Trennung bei der Begründung pädagogischer Zielsetzungen meistens gar
nicht durchgeführt werden kann. Denn in die Begründung für die Geltung
bestimmter Erziehungsziele, die jemand vertritt, gehen meistens nicht nur transrationale, d. h.
religiöse, ethische, weltanschauliche, politische Voraussetzungen ein, sondern sehr oft auch
empirische Annahmen. Ich beginne die Erläuterung meiner These mit einem einfachen
Beispiel:
Jemand vertritt z.B. die Zielvorstellung, daß kleine Kinder zunächst einmal zum
Gehorsam erzogen werden müssen, und er gibt von sich aus oder auf Nachfrage an: Einer
seiner Gründe oder der Hauptgrund für seine Überzeugung von der
Gültigkeit dieser Zielvorstellung sei folgender: Er sähe es aufgrund seiner Erfahrungen
oder aufgrund empirischer Forschungsergebnisse als gesichert an, daß Kinder bis etwa zum 10.
Lebensjahr noch gar nicht die Fähigkeit zu eigenem, vernünftigem Urteil
hätten.
Was an diesem kleinen Beispiel verdeutlicht werden soll, läßt sich an beliebig vielen
Stellungnahmen zu pädagogischen Zielfragen nachweisen: gehe es nun um die Zielsetzung
"Erziehung zur Anerkennung der Ehe als einziger moralisch gerechtfertigter Form sexueller
Beziehungen" oder um "Erziehung zur Identifizierung des jungen Menschen mit der eigenen Nation
und ihren Normen" oder aber um "Erziehung zur aktiven Toleranz im Verhältnis zu
gesellschaftlichen Minderheiten" usw. usf. Das aber bedeutet: Pädagogische
Zielsetzungen beruhen auch in ihrer Begründung keineswegs
durchgehend auf transrationalen, weltanschaulichen
Wertvorstellungen, sondern sie stützen sich in mehr oder
minder großem Umfang auf Annahmen empirischen Charakters,
Annahmen über Voraussetzungen und Folgen. Es ist unmittelbar einsichtig, daß solche
Realitäts- oder Trendannahmen sich - als Annahmen mit empirischem Gehalt -
grundsätzlich daraufhin überprüfen lasen, ob oder wieweit sie mit dem erreichten
erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisstand der entsprechenden Wissenschaften vereinbar sind
oder (ggf. mit plausiblen Argumenten) davon abweichen.
Mit dieser These bzw. mit meiner Kritik an der Gegenthese ist nun keineswegs die Behauptung
verbunden, es sei sicher, daß sich der normative Anspruch, mit dem pädagogische
Zielsetzungen verfochten werden, vollständig in rational-wissenschaftlich entscheidbare Fragen
überführen lassen müsse. Vielmehr spricht manches für die Annahme,
daß der Anteil historisch bzw. empirisch aufklärbarer Implikationen pädagogischer
Zielvorstellungen unterschiedlich umfangreich sein dürfte und daß selbst bei einem relativ
großen Ausmaß solcher rationaler Aufklärbarkeit immer ein mehr oder minder
großer Anteil an tatsächlich transrationalem, weltanschaulichem
Überzeugungspotential bestehen bleiben wird. Aber es gibt keine Möglichkeit, vor
konsequenten Analysen festlegen zu wollen, wo nun die Grenze zwischen dem rational aufhellbaren
Anteil einerseits und den transrationalen Momenten eines Geltungsanspruchs, der mit einer
pädagogischen Zielvorstellung verbunden wird, andererseits liegt.
Zur fünften Aufgabe: Da die Formulierung von Erziehungszielen
notwendigerweise einen Vorgriff auf die Zukunft, auf noch nicht oder nicht hinreichend realisierte
Zielsetzungen bzw. Prinzipien menschlichen Handelns darstellt, kann und muß
Erziehungswissenschaft prüfen, wie weit solche Vorgriffe mit Aussagen darüber
verbunden werden können, unter welchen objektiven und subjektiven Bedingungen die
Einlösung der geforderten Zielsetzungen bzw. Prinzipien erwartet werden kann.
IV. Zwei weitere, konstruktive Aufgaben der
Erziehungswissenschaft bei der Klärung pädagogischer
Zielsetzungen
Im nächsten Argumentationsschritt dieses Beitrages möchte ich - wie
angekündigt - zeigen, daß der mögliche Beitrag der Erziehungswissenschaft zur
Aufklärung und zur Mitwirkung an der Begründung von Erziehungszielen mit den
genannten fünf Aufgaben noch nicht erschöpft ist. So wichtig die Arbeit an jenen
Aufgaben ist, sie stößt an eine Grenze: Verbindliche Orientierungen für unser
pädagogisches Handeln sind aus den Ergebnissen solcher Untersuchungen nicht direkt
abzuleiten. Um positive Begründungen für die Gültigkeit, die
Verbindlichkeit von Erziehungszielen, also von normativen Orientierungen für
pädagogisches Handeln zu gewinnen, ist es notwendig, daß Erziehungspraktiker und
Erziehungstheoretiker in eine bestimmte Form der Kommunikation eintreten, nämlich in das
kommunikative Argumentieren, die vernunftgemäße, ständig reflexiv
überprüfte Aussprache über Erziehungsziele und ihre Begründbarkeit. Diese
Form des kommunikativen Argumentierens wird in der neueren Kommunikationstheorie bzw. in der
neueren westlichen Philosophie meistens mit dem Begriff "Diskurs" bezeichnet. In unserem Falle, wo
es sich um die Erörterung normativer bzw. ethischer Ansprüche handelt, geht es um
sogenannte "praktische Diskurse", wobei "praktisch" im Sinne der Terminologie Kants und seiner
Zeit im Sinne von "ethisch" zu verstehen ist. Man kann also auch von "ethischen Diskursen"
sprechen. Diskurse über Erziehungsziele sind dann eine bereichsspezifische Konkretisierung
"praktischer" bzw. "ethischer Diskurse".
Damit gewinnt meine Argumentation Anschluß an neuere Entwicklungen der philosophischen
Ethik (Moralphilosophie), und zwar an die Bemühungen um die Ausarbeitung einer
Diskursethik. Das am weitesten und gründlichsten entwickelte, wenngleich gewiß noch
nicht abgeschlossene Konzept dieser Art liegt m. E. in einigen Arbeiten von Jürgen Habermas [8] und Karl-Otto Apel vor . [9] Apel wird zwar gewöhnlich nicht direkt
der "Frankfurter Schule" bzw. der "Kritischen Theorie" zugerechnet, steht ihr aber sehr nahe. Er ist
einer der bedeutendsten Gesprächspartner von Jürgen Habermas, und er hat dessen
Gedanken an einigen Stellen m. E. konstruktiv weitergeführt.
Man kann die Diskursethik als moralphilosophische Antwort auf die ethische Situation des Menschen
in der modernen Welt interpretieren. Es ist eine Antwort, in die der kritisch gesichtete Ertrag der
moralphilosophischen Reflexion der antiken und der neuzeitlichen westlichen Philosophie - hier
insbesondere seit der "Praktischen Philosophie", der Ethik Kants - eingegangen ist. - Drei
Zentraleinsichten bilden, wenn ich recht sehe, die Ausgangsbasis der Diskursethik:
Erstens: Ethische Orientierungen, d. h. Prinzipien, Grundsätze für menschliches
Handeln, die Sollenscharakter haben, Verbindlichkeit beanspruchen, folglich auch
pädagogische Zielsetzungen, gelten als Hervorbringungen der menschlichen Vernunft. Sie
muß zwar formell als generelle Möglichkeit jedes Menschen, als ein spezifisches
Merkmal menschlicher Existenz vorausgesetzt werden, ist aber inhaltlich selbst ein
unabgeschlossenes und unabschließbares Produkt der menschlichen Gattungsgeschichte.
Ethische Prinzipien werden im Hinblick auf bestimmte geschichtliche Erfahrungen und auf im
geschichtlichen Prozeß entwickelte Einsichten und Interessen entworfen, sie sind also in ihrem
Geltungsanspruch nicht unabhängig von faktisch erfahrener Geschichte zu begründen
und können sich mit dieser von den Menschen selbst hervorgebrachten Geschichte
wandeln.
Zweitens: Wenn die Geltung ethischer Orientierungen nirgends absolut und übergeschichtlich
verbürgt ist, sondern im historischen Prozeß, in der Verarbeitung historischer
Erfahrungen immer neu gewonnen und fortentwickelt werden muß, so sind wir auf den Diskurs
vernunftfähiger und vernunftwilliger Menschen angewiesen. Ob und inwiefern ethische
Prinzipien für unser Handeln - hier: für pädagogische Entscheidungen und
pädagogisches Handeln - Geltung beanspruchen können, das ist demnach nicht anders
zu ermitteln als durch den ethischen Diskurs der Menschen, der an den regulativen Ideen der
herrschaftfreien Kommunikation und der Bemühung, jeweils einen
vernunftgemäßen Konsens zu finden, orientiert sein muß.
Drittens: Die These vom geschichtlichen Wandel ethischer Orientierungen zu vertreten bedeutet
nicht, dem ethischen Relativismus das Wort zu reden. Das ergibt sich aus dem Grundsatz, daß
der Anspruch auf Geltung, mit dem jemand ein ethisches Prinzip vertritt, begründet und
dem prüfenden Diskurs ausgesetzt werden muß. Wenn aber ethische Prinzipien als
Hervorbringungen im Prozeß der Menschheitsgeschichte verstanden werden, dann bedeutet das
zugleich, daß die bisher in der Geschichte geleistete ethische Reflexion gleichsam mit zu den
Partnern ethischer Diskurse gehört. Das heißt: Man darf - im Prinzip - nicht hinter
bereits erreichte Niveaus ethischer Vernunfterkenntnis zurückfallen, etwa hinter das von Kant
formulierte Prinzip, daß der Mensch nie nur - oder genauer: überhaupt nicht als Mittel zu
Zwecken außerhalb seiner selbst, sondern stets als Zweck an sich selbst, als
vernunftfähige Person zu achten sei.
Auf der Basis dieser drei eben genannten Zentraleinsichten hat die Diskursethik nun als eines ihrer
weiteren, grundlegenden Elemente einen mehrschichtigen Katalog allgemeiner Diskursregeln
herausgearbeitet. Ich kann diesen Katalog hier nicht vollständig referieren. An dieser Stelle
sollen nur die Regeln genannt werden, die eingehalten werden müssen, wenn
herrschaftsfreie Diskurse zustande kommen sollen, d.h. solche Gespräche, in denen
nur die Kraft guter Argumente anerkannt wird, nicht irgendwelche Autoritäten, Tabus, offene
oder verborgene Abhängigkeiten oder gar Drohungen. Es sind folgende fünf
Regeln:
- Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an solchen Diskursen teilnehmen.
- Jeder darf jede Behauptung problematisieren.
- Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen, sofern er seine Behauptung ernst meint,
sie also nicht nur als Provokation oder Irreführung, also zum Schein, vertritt.
- Jeder darf seine Einstellung, seine Wünsche und Bedürfnisse äußern.
- Kein Teilnehmer darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang
daran gehindert werden, seine in den vorher genannten Regeln festgelegten Rechte
wahrzunehmen. (Vgl. Habermas 1983, S. 99).
Ein weiteres, konstitutives Element der Diskursethik ist das sogenannte
"Universalisierungsprinzip". Es besagt, daß nur solche Normen Anspruch auf
Gültigkeit haben, bei denen "Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen
Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos
akzeptiert werden können" (Habermas 1986, S. 18).
An den genannten, von Habermas und anderen Autoren entwickelten Bestimmungen des praktischen
Diskurses muß man m. E. im Hinblick auf die Frage der argumentativen Begründbarkeit
pädagogischer Ziele mindestens zwei Modifikationen vornehmen:
Erstens: Der Bereich möglicher Themen pädagogischer Ziel-Diskurse kann nicht auf
solche (zunächst hypothetischen) Normen eingeschränkt werden, "die im strikten Sinne
universalisierbar sind, also nicht über soziale Räume und historische Zeiten variieren"
(Habermas 1983, S. 121).
Zweitens: Das "Universalisierungsprinzip" muß m. E. im Sinne eines nach Umfängen der
beanspruchten Geltung abgestuften "Verallgemeinerungsprinzips" modifiziert werden; "nur" seine
letzte Stufe entspräche dann dem im strengen Sinne gefaßten Begriff "universaler
Geltung" (als einschränkungsloser Allgemeingültigkeit).
Beide Modifikationen sind in folgendem Sinne mit der oben zitierten, von Habermas
vorgeschlagenen Formulierung des "Universalisierungskriteriums" vereinbar: Alle diejenigen, die bei
der argumentativen Gültigkeitsprüfung einer vorgeschlagenen Handlungsnorm (eines
pädagogischen Ziels) sinnvollerweise als Betroffene gelten können, definieren den
Umkreis der notwendigen Verallgemeinerbarkeit.
Was folgt nun aus diesen knappen Ausführungen zur Diskursethik für unsere
Fragestellung? Meine Antwort lautet: Die fünf kritisch-analytischen Aufgaben der
Erziehungswissenschaft im Hinblick auf die Klärung von pädagogischen Zielproblemen,
die ich im vorangehenden Abschnitt entwickelte, müssen durch zwei weitere ergänzt
werden. Dabei handelt es sich um konstruktive Aufgaben.
Die sechste Aufgabe ist folgende:
Erziehungswissenschaft müßte selbst Beispiele "praktischer Diskurse" entwickeln. M. a.
W.: Sie müßte die Möglichkeiten konsensorientierter Diskurse über strittige
Fragen der pädagogischen Zielbestimmung im Vollzug erproben. Sie müßte
also zu zentralen pädagogischen Zielfragen, etwa den Fragen nach Normen der
Friedenserziehung oder der Sexualerziehung usf., überschaubare Gruppen von
Pädagogen - "Theoretiker" und "Praktiker" (etwa Lehrer, Sozialpädagogen, Eltern, ggf.
Vertreter bereits vorliegender, unterschiedlicher bzw. kontroverser Zielprogramme) - in einer Folge
von Diskurs-Symposien zusammenführen, vergleichbar den "sokratischen Gesprächen",
wie sie heute im Kreise der philosophischen und pädagogischen Schüler von Leonhard
Nelson und Gustav Heckmann durchgeführt werden. [10] Solche Diskurse müßten durch Tonband-Aufzeichnungen oder
Protokollationen dokumentiert und mit den Teilnehmern zusammen auf Prozeßmerkmale,
Schwierigkeiten, die Berücksichtigung der Diskursregeln, die Stringenz der inhaltlichen
Argumentationen und hinsichtlich der Schritte zu konsensualen Verallgemeinerungen untersucht
werden. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen aber müßten dann als Hilfen in neue
Diskurse der angedeuteten Art eingegeben werden.
Solche Diskurs-Folgen sind z. B. auch in der Lehrerausbildung und der Lehrerfortbildung
denkbar.
Nun zur siebenten Aufgabe: Wenn es richtig ist, daß ethische Normen des Handelns unter
den Bedingungen der neuzeitlichen Entwicklung nur als argumentativ begründete und an
einsichtige, konsensuale Zustimmung gebundene Orientierungen Geltung beanspruchen
können, dann erwächst daraus eine fundamentale pädagogische Zielsetzung:
Erziehung muß systematisch und kontinuierlich auf die Entwicklung der
Diskursfähigkeit der nachwachsenden Generation bzw. der Lernenden
ausgerichtet sein. Klaus Mollenhauer hat schon 1972 auf diese Aufgabe hingewiesen . [11] Das bedeutet auch: Alle normativen
Vorgriffe, die die Erziehenden bzw. Lehrenden im pädagogisch-intentionalen Handeln
vollziehen, haben zunächst nur den Status vorläufiger, vermuteter Geltung. Solche
Vorgriffe müssen im pädagogischen Prozeß selbst der erneuten, argumentativen
Bewährungsprobe im praktischen Diskurs mit den Lernenden ausgesetzt werden. Denn die
Erziehenden bzw. Lehrenden haben im Hinblick auf die Fähigkeit zu praktischen Diskursen
immer nur einen graduellen Kompetenzvorsprung gegenüber den Jüngeren bzw. den
Lernenden. Verantwortliches pädagogisches Handeln unter den Bedingungen der neuzeitlichen
Welt muß darauf gerichtet sein, diesen graduellen Kompetenzvorsprung gezielt
abzubauen.
Erziehungswissenschaft muß also in Kooperation mit Erziehungspraktikern langfristige
Modell-Versuche in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern - im Bereich der Schule,
der Sozialpädagogik und der außerschulischen Jugendbildung sowie der
Erwachsenenbildung - anregen. In solchen Versuchen geht es um die Erprobung und die
Untersuchung von Möglichkeiten und Schwierigkeiten bei der Entwicklung der
Fähigkeit zum Vollzug praktischer Diskurse.
V. Abschluß
In einer Welt, in der die Völker, die Nationen, die Staaten, die Regionen der Erde immer
stärker durch wechselseitige Beziehungen miteinander verbunden und voneinander
abhängig werden, muß sich die praktische Erziehung und die Erziehungswissenschaft m.
E. zwei internationalen, interkulturellen Aufgaben stellen, die sich wechselseitig bedingen:
- zum einen der Besinnung auf begründbare ethische Prinzipien unseres Handelns,
pädagogisch gewendet: der diskursiv zu vollziehenden Klärung universaler
Ziele der Erziehung;
- zum anderen ist es die Selbsterziehung der Erwachsenen und die Erziehung der jungen Generation
zu jener Diskursfähigkeit, die notwendig ist, damit immer mehr Menschen sich an
diesem unabschließbaren Prozeß der vernunftgemäßen
Verständigung über begründbare Orientierungsmaßstäbe unseres
Handelns beteiligen können.
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Anmerkungen
[1] ) Die Kerngedanken dieses Beitrages habe ich zuerst
in dem Aufsatz "Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer
Zielsetzungen beitragen? Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen
Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit
diskursethischen Erörterungen zu verbinden", entwickelt. In: H. Röhrs / H. Scheuerl
(Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und pädagogische
Verständigung. Wilhelm Flitner zur Vollendung seines 100. Lebensjahres am 20. August 1989
gewidmet. Frankfurt/M. 1989, S. 147 - 159.
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[2] ) Vgl. u. a. Christian v. Ferber: Der Werturteilsstreit
1909 - 1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation. In: E. Topitsch (Hrsg.):
Logik der Sozialwissenschaft. Köln/Berlin 1965, S. 165 - 180. - Theodor W. Adorno u. a.:
Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 2. Aufl. Neuwied, Berlin 1970.
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[3] ) Zur Werturteilsfrage vgl. u. a. die Beiträge
Poppers und Alberts in dem in Anm. 2 genannten Sammelband "Der Positivismusstreit ...".
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[4] ) W. Brezinka: Metatheorie der Erziehung.
München/Basel 1978. - Ders.: Empirische Erziehungswissenschaft und andere
Erziehungstheorien: Differenzen und Verständigungsmöglichkeiten. In: H.
Röhrs/H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft ..., vgl. Anm. 1), S.
71 - 82.
[Zurück zum Text]
[5] ) Vgl. dazu den Beitrag über
"Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft" in diesem Bande.
[Zurück zum Text]
[6] ) Hinsichtlich der Frage nach Erziehungszielen ist
vor allem auf Theodor W. Adornos "Erziehung zur Mündigkeit - Vorträge und
Gespräche mit Hellmut Becker 1959 - 1969", hrsg. von G. Kadelbach, Frankfurt/M. 1970,
hinzuweisen.
[Zurück zum Text]
[7] ) Vgl. dazu die Ausführungen zur
Ideologiekritik im Beitrag "Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft" in
diesem Band.
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[8] ) J. Habermas: Wahrheitstheorien. In: H.
Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Pfullingen 1973, S. 211 - 265. - Ders.: Zwei
Bemerkungen zum praktischen Diskurs. In : Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus. Frankfurt/M. 1976, S. 338 - 346. - Ders.: Diskursethik - Notizen zu einem
Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln.
Frankfurt/M. 1983, S. 53 - 125. - Ders.: Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels
Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: W. Kuhlmann: Moralität und
Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 16 - 37.
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[9] ) Karl-Otto Apel: Kann der postkantische
Standpunkt noch einmal in substantielle Sittlichkeit "aufgehoben" werden? Das geschichtsbezogene
Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression. In: W. Kuhlmann:
Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt/M. 1986, S. 217 - 264. - Ders.: Das Sokratische
Gespräch und die gegenwärtige Transformation der Philosophie. In: D. Krohn u. a.
(Hrsg.): Das Sokratische Gespräch. - Ein Symposion. Hamburg 1989, S. 55 - 77.
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[10] ) Gustav Heckmann: Das sokratische
Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover 1981. - W. Klafki:
Zur Frage nach der pädagogischen Bedeutung des Sokratischen Gesprächs und neuer
Diskurstheorien. In: D. Horster / D. Krohn (Hrsg.): Vernunft - Ethik - Politik. Hannover 1983, S. 277
- 287. - D. Krohn u. a. (Hrsg.): Das Sokratische Gespräch - Ein Symposion. Hamburg
1989.
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[11] ) K. Mollenhauer: Theorien zum
Erziehungsprozeß. München 1972, S. 67/68; vgl. S. 84 ff.
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