Klafki, Wolfgang: Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k06.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 75-92.


Wolfgang Klafki

Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung


1. Einleitung

Meine Überlegungen zum Thema basieren auf folgendem Grundgedanken: Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, dessen Ende wir uns jetzt nähern, so zeichnet sich darin ein weltgeschichtlicher Prozeß ab, der offensichtlich unumkehrbar ist. Ich meine die Entwicklung zunehmender Wechselwirkungen und wechselseitiger Abhängigkeiten aller Teile der Welt, anders formuliert: die zunehmende Vernetzung oder Verkoppelung des Schicksals aller Erdteile, Kulturen, Staaten, Gesellschaften. Der Grad, den diese Vernetzung bis heute erreicht hat, ist zwischen einzelnen Kontinenten, Kulturen, Gesellschaften, Staaten und Staatenblöcken zweifellos unterschiedlich groß, und der Prozeß ist auch in verschiedenen Dimensionen unterschiedlich weit gediehen: in der ökonomischen Dimension und hinsichtlich der Informationssysteme z. B. meistens weiter als in der politischen und kulturellen Dimension. Überdies hat es starke Bestrebungen und Tendenzen gegeben und es gibt sie noch, die diese Entwicklung aufzuhalten versuchten: Autarkiebestrebungen, Abgrenzungs- und Isolierungsversuche, Blockbildungen und radikale Konfrontationsstrategien. Sie haben sich nicht zuletzt in den verheerenden Kriegen dieses Jahrhunderts niedergeschlagen. Insgesamt aber wird man jenen Prozeß als unaufhaltsam ansehen müssen, und zwar in seinen Gefahren, vor allem aber auch in seinen Chancen für die weitere Entwicklung der Menschheit.

Mindestens sechs miteinander verzahnte Faktorenkomplexe sind, wenn ich recht sehe, die entscheidenden Triebkräfte dieses universalen Vorganges; er verbindet die in früheren Jahrhunderten in viele, weitgehend beziehungslose oder nur locker verknüpfte Teilbereiche gegliederte Erde immer mehr zu einem Weltzusammenhang:
  1. die technisch-industrielle Entwicklung;
  2. die dadurch ermöglichte Entwicklung einstmals relativ selbständiger Wirtschaftsräume zur Weltwirtschaft;
  3. der davon untrennbare Aufbau immer weiter reichender Informations- und Kommunikationssysteme: Telefon, Radio, Fernsehen, Funk;
  4. die Entwicklung von Waffensystemen mit immer größerer Vernichtungskraft;
  5. die Erkenntnis von der teils bereits akuten, teils zu befürchtenden Zerstörung der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz infolge der technisch-industriellen und der wirtschaftlichen Entwicklung mit ihren Nebenwirkungen;
  6. die Entwicklung der Erkenntnis bei wachsenden Menschengruppen in verschiedenen Gesellschaften, daß verantwortbare Politik heute und in Zukunft nicht mehr aus dem Blickwinkel einzelner Völker, Gesellschaften, Staaten oder Staatenblöcke gemacht werden kann oder mindestens gemacht werden dürfte; allerdings ist dieser Teilprozeß politischer Bewußtseinsbildung vielfach wohl über Anfangsstadien noch nicht hinausgekommen.

Angesichts des eben skizzierten Gesamtprozesses, der darin liegenden Risiken und Möglichkeiten, stellen sich selbstverständlich auch der Erziehung und der Erziehungswissenschaft neue, große Aufgaben. Die Erziehungswissenschaft und das allgemeine pädagogische Bewußtsein der Eltern und aller beruflicher Erzieherinnen und Erzieher, nicht zuletzt der Lehrerinnen und Lehrer, müssen einen universalen Horizont gewinnen, und zwar im Prinzip in allen Staaten und Kulturen. Aus einem solchen weltweiten Blickwinkel heraus aber muß darüber nachgedacht werden: Welche Erkenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen benötigen junge Menschen heute und für ihre Zukunft, um sich produktiv mit jenen universalen Entwicklungen und Problemen auseinandersetzen zu können und schrittweise urteilsfähig, mitbestimmungsfähig und mitgestaltungsfähig zu werden? Diese Fragestellung und die folgenden Ausführungen haben viele Berührungspunkte mit jenen Argumenten, die der "Nationale Rat zur Erziehungsreform" Japans in seinen Empfehlungen aus den Jahren 1985 und 1987 veröffentlicht hat. [1]

Es wäre m. E. völlig falsch zu sagen: Das sind doch Probleme der Erwachsenen; sich damit zu beschäftigen, sind Kinder und junge Menschen doch gar nicht in der Lage! In Wahrheit betreffen jene Probleme das Leben von Kindern und Jugendlichen schon hier und heute, wie sich an beliebig vielen Beispielen zeigen läßt. Darüber hinaus aber ist zu bedenken: Die Grundlagen für die Entwicklung von Sichtweisen, Problemwahrnehmungen, Einstellungen - also etwa die Begrenzung des Denk- und Interessenhorizonts von Kindern auf ihre unmittelbaren Lebensräume oder auf den Rahmen der eigenen Kultur, der eigenen Nation, des eigenen Staates oder aber, im Gegensatz dazu, die Öffnung für weitere, internationale, menschheitliche Perspektiven können in der individuellen Entwicklung sehr früh ausgebildet werden. Wir versäumen entscheidende Möglichkeiten, und wir versäumen angesichts unserer geschichtlichen Situation Notwendigkeiten, wenn wir die Entwicklung eines im Prinzip internationalen Problembewußtseins nicht ganz früh, also in den ersten Anfängen bereits in der vorschulischen Familienerziehung und im Kindergarten und dann natürlich in der Schule beginnen.

Meine weiteren Ausführungen werde ich im wesentlichen auf den Bereich des Schulalters, d. h. auf die Schulen von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II beschränken.

Mein Vorschlag, den ich im folgenden erläutern möchte, mag auf den ersten Blick utopisch klingen: Ich halte es für notwendig und teils lang-, teils mittelfristig für möglich, in den Lehrplänen der Schulen aller Staaten und Gesellschaften einen Block von international bedeutsamen Rahmenthemen festzulegen und sie dann, der jeweiligen weiteren Entwicklung entsprechend, sozusagen fortzuschreiben. Dabei kann ich jetzt noch nicht sagen, ob dieser Lehrplanblock nun ein Viertel oder ein Drittel oder zwei Fünftel des Gesamtlehrplans der Schulen umfassen sollte. Daß er allerdings auch umfangmäßig ein hohes Gewicht erhalten müßte, geht schon aus den eben genannten, hypothetischen Anteils-Alternativen hervor. Die Themen dieses Unterrichtsblocks betreffen Schlüsselprobleme der modernen Welt, und sie würden den gemeinsamen inhaltlichen Kern internationaler Erziehung bilden. Bestehende internationale Institutionen einerseits regionaler Art - z. B. innerhalb der Europäischen Gemeinschaft oder des ASEAN-Paktes -, andererseits die UNESCO, die Erziehungsorganisation der Vereinten Nationen, sollten die Einrichtungen sein, in denen die notwendigen Absprachen getroffen, Planungen ausgearbeitet und später der Erfahrungsaustausch über Ansätze der Verwirklichung organisiert werden könnten. Aber zunächst wird man wohl auf bescheideneren Ebenen beginnen müssen, meistens im Bereich des jeweiligen nationalen Bildungssystems. - Ich werde mich im folgenden nicht den Organisationsproblemen, sondern der inhaltlichen und unterrichtlichen Seite des Vorschlages zuwenden. In diesem Sinne skizziere ich zunächst einige Beispiele für solche Schlüsselprobleme der modernen Welt.



2. Schlüsselprobleme der modernen Welt als inhaltlicher Kern internationaler Erziehung und ihre Bearbeitung im Unterricht [2]

Als erstes Schlüsselproblem nenne ich die Friedensfrage angesichts der nach wie vor ungeheuren Vernichtungspotentiale der ABC-Waffen. Hier sind nun bekanntlich gerade in den letzten Jahren weltpolitisch neue Möglichkeiten aufgebrochen, Chancen für den Einstieg in einen Abrüstungsprozeß in großem Stile. Jedoch hat uns vor allem der Golfkrieg mit seinen furchtbaren Folgen erneut vor Augen geführt, wieweit wir nach wie vor von der Herstellung einer Weltfriedensordnung entfernt sind. Friedenserziehung wird also als kritische Bewußtseinsbildung und als Anbahnung entsprechender Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit eine langfristige pädagogische Aufgabe bleiben.

Hier sind für die Erörterung im Unterricht zwei Faktorenkomplexe und ihre Wechselwirkung entscheidend.

Der erste Faktorenkomplex enthält zwei Hauptelemente: Zum einen muß es im Unterricht darum gehen, an Beispielen makrosoziologische und makropolitische Ursachen der Friedensgefährdung bzw. von Kriegen erkennbar zu machen, also ökonomische Interessengegensätze zwischen Staaten oder Staatengruppen, nationalistisch oder rassistisch oder fundamentalistisch motivierte imperialistische Bestrebungen, gesellschaftlich-politische Ungleichheits- und Unrechtsverhältnisse, also auch all jene Faktoren, die der norwegische Friedensforscher Johan Galtung als Verhältnisse und Formen 'struktureller Gewalt' bezeichnet hat. Zum anderen wird Friedenserziehung sich um die Aufklärung der durch solche makrosoziologischen und makropolitischen Bedingungen vermittelten gruppen- und massenpsychologischen Ursachen aktueller oder potentieller Friedlosigkeit bemühen müssen, nicht zuletzt auch in der Reflexion der Lehrenden und Lernenden auf sich selbst: auf kollektive Aggressionen, Feindbilder, Stereotypen, Vorurteile. - Zu dem zuletzt genannten Aspekt füge ich noch folgende Anmerkung hinzu: Man muß jene gruppen- und massenpsychologischen Phänomene deutlich vom Fragenkreis individueller Aggressivität unterscheiden, obwohl es hier sicherlich bisweilen Zusammenhänge gibt. Aber Erziehung zu zwischenmenschlicher Freundlichkeit bzw. Friedfertigkeit bzw. zum Abbau von Aggressivität im direkten Umgang zwischen Menschen, so wichtig sie als Aspekt sozialer Erziehung gewiß ist, erreicht die hier zu erörternde Dimension psychologischer Ursachen von Friedensgefährdung bzw. Kriegsbereitschaft noch gar nicht.

Nun zum zweiten Faktorenkomplex, der in der Auseinandersetzung mit dem Schlüsselproblem "Krieg und Frieden" zur Sprache kommen muß: Auf den vorher skizzierten Zusammenhang von makrosoziologischen und makropolitischen sowie gruppen- und massenpsychologischen Kriegsursachen bzw. Voraussetzungen von Kriegsbereitschaft und Friedensengagement bezogen muß Friedenserziehung die Frage aufwerfen, ob es moralische Rechtfertigungen für Kriege gibt: als sogenannte ulitma ratio in bestimmten Konfliktsituationen, als sogenannte "gerechte" oder "heilige" Kriege, als Kriege um der sogenannten nationalen Würde willen, als Bestrafungskriege usf. Diese Rechtfertigungsfrage aber muß reflektiert werden angesichts der historisch beispiellosen Vernichtungswirkung moderner Waffensysteme und der weitgehend unmöglichen Begrenzung dieser Wirkungen auf sogenannte "kriegswichtige Ziele".

Ein zweites Schlüsselproblem ist die Umweltfrage, d. h. die in globalem Maßstab zu durchdenkende Frage nach Zerstörung oder Erhaltung der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz und damit nach der Verantwortbarkeit und Kontrollierbarkeit der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung.

Auch die Gesellschaften der Zukunft, zunächst: die sogenannten entwickelten Gesellschaften der 1. Welt werden hochtechnisierte und hochindustrialisierte Gesellschaften sein; Träume von der Rückkehr zu vortechnischen oder vorindustriellen Zuständen sind Illusion; außerdem können die Zustände der vorindustriellen Welt nur bei einer unhistorischen Betrachtung als generell humanere Lebenssituation verherrlicht werden. Und wenn die eklatante Ungleichheit zwischen den hochentwickelten Gesellschaften und den sogenannten Entwicklungsländern, die im Lichte der Anerkennung gleicher Menschenrechte als Form struktureller Gewalt unerträglich ist und eine ständige Friedensgefährdung darstellt, schrittweise beseitigt werden soll, dann ist auch das nicht ohne Anschluß der wenig entwickelten Länder an bestimmte technische und industrielle Entwicklungen möglich. Allerdings müßte alles getan werden, um die betroffenen Länder und Regionen vor jenen Fehlwegen der Industrialisierung zu bewahren oder davon wieder abzubringen, deren ökologisch und sozial zerstörerische Folgen heute nur noch um den Preis der Selbstzerstörung verleugnet werden können. Denn es ist eine inzwischen unabweisbare Einsicht, daß die Weiterentwicklung der industriellen Gesellschaft, die eine Risikogesellschaft geworden ist und es in gewissem Sinne bleiben wird, mit Sicherheit nicht auf der Bahn jener linearen Fortschrittslogik erfolgen kann, der wir lange Zeit unkritisch gefolgt sind. Sie ist in Wahrheit eine verkürzte, ökonomisch-technologisch bestimmte Wachstumslogik, die weithin noch heute das Bewußtsein vieler Zeitgenossen, die technologische Entwicklung, die Organisation der industriellen Produktion, unsere durch sie tief beeinflußten Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Wirtschaftspolitik, die Wissenschafts- und Technologiepolitik sowie die Verkehrspolitik bestimmt, aber auch Bildungs- und Gesundheitspolitik beeinflußt, und zwar über die Unterschiede der politisch-gesellschaftlichen Systeme hinweg.

Gegenwarts- und zukunftsorientierte Bildungsarbeit hat angesichts dieses Schlüsselproblems drei Hauptaufgaben:

Erstens
müssen wir schrittweise ein waches Bewußtsein der Kinder und Jugendlichen für die Spannung entwickeln, die zwischen der ökologischen Aufgabe, also der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, und den bisherigen Leitlinien der industriell-technischen Entwicklung mit ihren heute klar erkennbaren beiden Hauptfolgen besteht: zum einen der tendenziellen Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und zum anderen der Umweltzerstörung durch die Folgen unkontrollierter technologisch-ökonomischer Entwicklungen.

Zweitens sollen die Schülerinnen und Schüler Einsicht in folgende Notwendigkeit gewinnen: Es müssen ressourcen- und energiesparende Techniken und umweltverträgliche Produkte und Produktionsweisen entwickelt werden, und wir müssen unseren Konsum teils einschränken, teils umweltfreundlich praktizieren. Beide Erkenntnisse lassen sich anhand von Beispielen für bereits heute, wenn auch erst in begrenztem Umfang vorhandene Verfahren wie etwa die Nutzung von Sonnen-, Wind- und Bioenergie sowie Erdwärme und an Beispielen für umweltschonendes Konsumverhalten, z. B. durch die Reduktion und das Recycling von Abfall, im Unterricht erarbeiten.

Schließlich geht es drittens um die Erkenntnis, daß eine permanente demokratische Kontrolle der ökonomisch-technologischen und der entsprechenden wissenschaftlichen Entwicklung notwendig ist, einerseits in der Form ständiger und frühzeitiger öffentlicher Information und der allgemeinpolitischen und regionalpolitischen Diskussion, andererseits durch die Institutionalisierung von demokratischen Kontrollinstanzen.

Im Unterricht können und sollten die genannten Aufgaben soweit wie möglich in der Form handlungsorientierter Projekte in Angriff genommen werden, und zwar von den frühesten Bildungsstufen an, also im Grunde schon im Vorschulbereich, mindestens aber in der Grundschule beginnend.

Ein weiteres, nach wie vor unbewältigtes Schlüsselproblem stellt die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit dar. Hier sind zwei Hauptaspekte zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Ungleichheit innerhalb bestimmter Gesellschaften, zunächst natürlich der jeweils eigenen, als Ungleichheit


Der zweite Aspekt dieses Schlüsselproblems führt auf die Ungleichheit in internationaler Perspektive. Hier ist das am meisten hervorspringende Problem bereits an früherer Stelle als Gefährdung des Friedens genannt worden: das Ungleichgewicht an Wohlstand und Macht zwischen den sogenannten entwickelten und den wenig entwickelten Ländern. Unter dem Gesichtspunkt des Bevölkerungswachstums, der ungeheuren Hungersnöte und Epidemien, des millionenfachen Kindersterbens ist es - neben der Friedensaufgabe - zugleich das dringlichste moralische Problem, vor dem wir heute stehen.

Ich komme zu einem vierten Schlüsselproblem. Gemeint sind die Gefahren und die Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien in ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Produktionssystems, der Arbeitsteilung oder aber für ihre schrittweise Zurücknahme; für die mögliche Vernichtung von Arbeitsplätzen durch eine ausschließlich ökonomisch-technisch verstandene "Rationalisierung"; für veränderte Anforderungen an Basis- und Spezialqualifikationen; für die Veränderung des Freizeitbereichs und der zwischenmenschlichen Kommunikationsbeziehungen.

Wir brauchen in einem zukunftsorientierten Bildungssystem also auf allen Schulstufen und in allen Schulformen eine gestufte, kritische informations- und kommunikationstechnologischen Grundbildung also Moment einer neuen Allgemeinbildung; "kritisch", das heißt, daß die Einführung in die Nutzung und in ein elementarisiertes Verständnis jener modernen, elektronisch arbeitenden Kommunikations-, Informations- und Steuerungsmedien immer verbunden wird mit der Reflexion über ihre Wirkungen auf die sie benutzenden Menschen, über die möglichen sozialen Folgen des Einsatzes solcher Medien und über deren möglichen Mißbrauch. In der Bundesrepublik liegen inzwischen einige m. E. richtungsweisende Ansätze zu einer solchen Grundbildung vor. [3]

Es sind Entwürfe, die weder einer Medieneuphorie noch einer abstrakten Medienphobie verfallen sind. Sie zeigen m. E., in welchem Sinne im Wechselspiel von didaktischer Konzeptbildung und unterrichtlicher Erprobung weitergearbeitet werden müßte.

Schließlich nenne ich ein fünftes Schlüsselproblem, bei dem die Subjektivität des einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehungen ins Zentrum der Betrachtung rücken: die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität, des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder gleichgeschlechtlicher Beziehungen - jeweils in der Spannung zwischen individuellem Glücksanspruch, zwischenmenschlicher Verantwortung und der Anerkennung des Anderen bzw. der jeweils Anderen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Aufklärung über die Aids-Problematik.

Ich muß die Reihe der Beispiele für Schlüsselprobleme hier abbrechen, um noch einige Erläuterungen zu meinem Vorschlag machen und unterrichtspraktishe Folgerungen ansprechen zu können.

Zunächst: Die Anzahl solcher Probleme ist keineswegs beliebig erweiterbar. Denn es geht ja um typische Strukturprobleme unserer historischen Epoche von übernationaler, meistens weltumspannender Bedeutung, die zugleich jeden einzelnen von uns zentral betreffen, wenn ihm das vielleicht zunächst auch nicht bewußt ist. Und zwar handelt es sich - um es noch einmal zu betonen - keineswegs nur um Probleme der Erwachsenen. Kinder und Jugendliche sind - direkt oder indirekt - genauso betroffen! - Mit dem Stichwort "epochaltypisch" wird angedeutet, daß es sich um einen in die Zukunft hinein wandelbaren Problemkanon handelt. Jedoch darf der Vorschlag keinesfalls als Plädoyer dafür verstanden werden, daß sich die Schule ständig darum bemühen solle, "aktuell" im gängigen, vordergründigen Wortsinne zu sein. "Aktuell" ist in dieser Woche dieses, in der nächsten jenes. Darum geht es hier nicht!

Mein Vorschlag, die Konzentration auf Schlüsselprobleme im umschriebenen Sinne als eines der inhaltlichen Zentren internationaler Erziehung in allen nationalen Lehrplänen bzw. Curricula zu verankern, setzt voraus, daß ein weitgehender Konsens über die gravierende Bedeutung solcher Schlüsselprobleme argumentativ, diskursiv erarbeitet werden kann. Er setzt aber nicht voraus, daß ein solcher Konsens auch hinsichtlich der Wege zur Lösung solcher Probleme von vornherein notwendig ist. Im Hinblick auf die Frage der Lösungswege ist vielmehr zu betonen: Zur fruchtbaren, aufklärenden Auseinandersetzung mit solchen Schlüsselproblemen gehört zentral die Einsicht, die an exemplarischen Beispielen erarbeitet werden kann, daß und warum die Frage nach "Lösungen" der großen Gegenwarts- und Zukunftsprobleme verschiedene Antworten ermöglicht. Sie können z. B. durch unterschiedliche ökonomisch-gesellschaftlich-politische Interessen und Positionen oder durch klassenspezifische, schichtenspezifische oder generationsspezifische Sozialisationsschicksale und Wertorientierungen bedingt sein; man denke hinsichtlich des eben erwähnten Aspekts der Gnereationsspezifik etwa an das Problem der Sexualität.

Aus dem Sachverhalt, daß die Übereinstimmung über die Bedeutung eines Schlüsselproblems nicht zugleich besagt, daß man sich auch über die Lösung des betreffenden Problems von vornherein einig sein muß, folgt keineswegs, daß man nun alle in die Diskussion eingebrachten Lösungsvorschläge von vornherein als gleichberechtigt anerkennen müsse. Vielmehr muß die Frage gestellt werden, ob es Kriterien gibt, unter denen die Qualität unterschiedlicher Lösungsvorschläge untersucht und nach einem solchen Untersuchungsprozeß beurteilt werden kann. Das m. E. entscheidende Kriterium läßt sich so formulieren: Wieweit kann das Prinzip bzw. können die Prinzipien, die einem Lösungsvorschlag zugrunde liegen, für alle potentiell Betroffenen verallgemeinert werden, wieweit werden dabei die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt ? [4] Wenn Unterricht über Schlüsselprobleme solche intensiven Prozesse des Untersuchens und des Abwägens von Argumenten und Gegenargumenten auslöst, dann bietet er die Chance, daß jeder Lernende die Unverzichtbarkeit eigener Urteilsbildung, reflektierter Entscheidung und eigenen Handelns - für den jungen Menschen mindestens im Hinblick auf seine Zukunft - erkennt, sich also, reflexiv vermittelt, als betroffen und mitverantwortlich erfährt. Zugleich wird erkennbar, daß die Lehrenden in einem so verstandenen pädagogischen Dialog den Lernenden gegenüber bestenfalls graduelle Vorsprünge haben, daß sie Mit-Lernende, kritisch Befragte und zu Befragende sind und es ständig bleiben müssen.

Ich wende mich noch einem weiteren Aspekt des Schlüsselproblem-Konzepts zu. Bei der Auseinandersetzung mit solchen Problemen an exemplarischen Beispielen geht es nämlich nicht nur um die Erarbeitung jeweils problemspezifischer, struktureller Erkenntnisse, sondern auch um die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den Bereich des jeweiligen Schlüsselproblems hinausreicht.

Hier sollen vier grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten herausgehoben werden. Sie enthalten jeweils inhaltsbezogene und kommunikationsbezogene Komponenten:


Schon innerhalb schulischer Bildungsprozesse müßten wir es also den Kindern und Jugendlichen ermöglichen und ihnen die Anforderung stellen, eine neue Denkhaltung zu entwickeln, und wir Erwachsenen, nicht zuletzt die Lehrerinnen und Lehrer, müßten bei uns selbst diese Denkhaltung ausbilden. Sie führt dazu, grundsätzlich angesichts vorhandener Regelungen, Institutionen, Handlungsgewohnheiten oder aber geplanter Veränderungen technischer, ökonomischer, sozialer, administrativer, politischer Art nach wahrscheinlichen oder möglichen Nebenfolgen zu fragen, insbesondere auch nach möglichen nicht-gewollten Nebenfolgen, die die bewußten Absichten der Handelnden letztlich vielleicht unterlaufen. Wir müssen hier die Fähigkeit zu kognitiver Phantasie, einer Phantasie der Folgenabschätzung entwickeln. Demgegenüber bietet unsere wissenschaftliche, technische, ökonomische, gesellschaftliche, politische Wirklichkeit auf Schritt und Tritt Beispiele für unsere bisherigen Versäumnisse, vernetzend zu denken und unser Handeln dementsprechend zu orientieren, und genau hier könnte didaktisch, jeweils zunächst regionalspezifisch und situationsspezifisch, angesetzt werden. Ich deute das Spektrum möglicher Ansatzpunkte in Beispielen an: Es reicht von der kommunalen Bauplanung bis zur Müllproduktion und Müllbeseitigung, von der Chemisierung, Technisierung und Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion bis zur Wasserversorgung, schließt die weithin noch parzellierte medizinische Versorgungspraxis ein usw.

Aus den vorangehenden Überlegungen ergeben sich weitere schulpraktische, genauer gesagt: unterrichtsorganisatorische und didaktische Konsequenzen. Zunächst nenne ich zwei unterrichtsorganisatorische Folgerungen.

Erstens: Für den Teil des gesamten Unterrichts, der sich auf Schlüsselprobleme im angedeuteten Sinne bezieht - abkürzend nenne ich ihn "Problemunterricht" -, ist die übliche Unterrichtsstunde mit 45 Minuten und der ständige Wechsel voneinander isolierter Fächer ungeeignet. Als einen ersten Schritt der Veränderung kann man die Zusammenfassung zu Doppelstunden, sogenannten Blockstunden betrachten. Die wünschenswerte Form ist jedoch der Epochalunterricht. Stundenplantechnisch heißt das: Durch den Schulvormittag oder auch den Nachmittag in Ganztagsschulen müßte sich an allen oder den meisten Tagen der Schulwoche ein Band von täglich mindestens zwei Schulstunden, besser noch: von etwa zwei Zeitstunden ziehen. Hier müßte in epochalem Wechsel der Problemunterricht stattfinden, der jeweils Anteile von mehreren der herkömmlichen Fächer in sich vereinigt, in dem jedoch auch fachliche Lehrgangssequenzen ihren Ort finden müssen, wenn das jeweils anstehende Problem es erfordert. Daß die Durchführung eines solchen Epochalunterrichts möglich und fruchtbar ist, dafür gibt es, wenn auch noch nicht im Zusammenhang mit dem Schlüsselproblem-Konzept, in der internationalen Reformpädagogik unseres Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein überzeugende Beispiele. Man findet sie etwa im pädagogischen Reformansatz John Deweys und in der gesamten Projektunterrichtsbewegung oder in Peter-Petersens Schulkonzept, in der Odenwaldschule oder in manchen Integrierten Gesamtschulen der Bundesrepublik usw.

Mein Vorschlag, einen solchen fächerübergreifenden bzw. fächerintegrierenden Problemunterricht als einen Kernbestandteil internationaler Erziehung in unseren Schulen zu verankern, schließt eine ein zweite unterrichtsorganisatorische Konsequenz ein. Ich meine die Bildung von Lehrerinnen- bzw. Lehrerteams. Für dieses Team-Prinzip gibt es noch weitere Argumente, aber darauf kann ich hier nicht eingehen. Das Team-Prinzip bedeutet [5] : Für längere Zeiträume, mindestens Zwei-Jahres-Spannen, wird einer Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern, die insgesamt ein hinreichend breites Spektrum von Fächern vertreten, die Hauptverantwortung für die Gestaltung des Unterrichts und des Schullebens einer kleinen Zahl von Lerngruppen bzw. Klassen, also etwa zwei bis drei Klassen übertragen, und solche Lehrerteams erhalten dann erhebliche Spielräume für die Gestaltung des Unterrichts: hinsichtlich der Stundenplanorganisation, der Auswahl und Durchgestaltung der Unterrichtsthemen, der Wahl der Methoden usf. In unserem Zusammenhang bedeutet das: Ein solches Lehrerteam plant, mindestens in großen Zügen, die Epochen des hier vorgeschlagenen Problemunterrichts und organisiert das Zusammenspiel von fächerübergreifenden und fachlichen Perspektiven.

Ich komme zu den didaktischen Folgerungen. "Problemunterricht" soll im Sinne folgender vier miteinander verschränkter Unterrichtsprinzipien gestaltet werden; diese Grundsätze sind bisher teils direkt, teils indirekt bereits angeklungen, ich kann (und ich muß mich aus Zeitgründen) daher auf knappe Hinweise beschränken. Es handelt sich um folgende Prinzipien:

Handlungsorientiertes Lernen ist schließlich mit einem vierten Unterrichtsprinzip verschränkt, nämlich



3. Abschluß

Abschließend komme ich noch einmal auf den möglichen Vorwurf zurück: Das ist ja alles völlig illusionär! Meines Erachtens wäre ein solcher Vorwurf nur berechtigt, wenn jemand fordern würde: Das hier in Umrissen skizzierte pädagogische Konzept muß in kürzester Zeit und von Anfang an in seinen anspruchsvollsten pädagogischen Formen verwirklicht werden. Demgegenüber meine ich, daß man zwar weite und anspruchsvolle Perspektiven haben muß, daß es aber im Blick auf solche großen Perspektiven möglich und sinnvoll ist, erstens innerhalb jedes nationalen Schulsystems, zweitens auf der Ebene internationaler Kontakte, drittens aber innerhalb jeder einzelnen Schule zu prüfen, welche Schritte in der angedeuteten Richtung möglich sind. Aus dem deutschen Schulwesen weiß ich, daß an etlichen Schulen mindestens Ansätze eines solchen Unterrichts über Schlüsselprobleme unserer geschichtlichen Epoche praktiziert werden, sei es noch im Rahmen des Fachunterrichts, sei es im fächerübergreifenden Unterricht oder in Form des Projektunterrichts zu Themen der Friedenserziehung, der Umwelterziehung, der Übervölkerungsproblematik, zentraler Probleme der Dritten Welt, der Gentechnik oder der Sexualerziehung.

Wenn wir als Erwachsene und zumal als Pädagogen unserer Verantwortung für die nachwachsende Generation gerecht werden wollen, müssen wir, so meine ich, die Hinführung zur Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen unserer historischen Epoche theoretisch und praktisch in Angriff nehmen.


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Anmerkungen


[1] ) National Council of Educational Reform: First Report on Educational Reform, ed. by the Government of Japan, Tokyo 1985 - Second Report ..., Tokyo 1986. - Third Report ..., Tokyo 1987; Fourth and Final Report ..., Tokyo 1987. - Vgl. Ingolf Meese: Reformbestrebungen im japanischen Schulwesen. In: Vergleichende Pädagogik 1989 (Berlin-Ost), S. 409 - 417.

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[2] ) Die ausführlichste Fassung der im folgenden entwickelten Überlegungen habe ich - im Rahmen einer neuen Konzeption "Allgemeiner Bildung" - in der zweiten Abhandlung der Neuauflage meiner "Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik" (3. Aufl. Weinheim 1993) unter dem Titel "Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme" veröffentlicht.

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[3] ) Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Curriculumentwicklung in Nordrhein-Westfalen - Neue Technologien. Soest 1985. - H. Pfeiffer / H.-G. Rolff: Technologische Grundbildung - oder: Wie Schulen auf die Informationsgesellschaft vorbereiten. In: H.-G. Rolff u. a.: Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 4, Weinheim/Basel 1986, S. 183 - 209. Vgl. auch W. Hendricks: Das Niedersächsische Projekt "Neue Technologien und Schule". In: Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht (Hrsg.): Neue Technologien und technisch-ökonomische Bildung. Salzdetfurth 1987, S. 73 - 81. - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Neue Technologien und Medien in Bildung und Gesellschaft. GEW-Skript Nr. 8, Frankfurt 1985

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[4] ) Vgl. W. Klafki: Kann Erziehungswissenschaft zur Begründung pädagogischer Zielvorstellungen beitragen? - Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und ideologiekritische Untersuchungen mit diskurs-ethischen Erörterungen zu verbinden. In: H. Röhrs / H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verständigung. Wilhelm Flitner zur Vollendung seines 100. Lebensjahres am 20. August 1989 gewidmet. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1989, S. 147 - 159.

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[5] ) Der Grundgedanke ist zunächst an einigen deutschen Integrierten Gesamtschulen entwickelt worden. - Vgl. dazu: H. Brand / E. Liebau: Das Team-Kleingruppen-Modell - ein Ansatz zur Pädagogisierung der Schule. München 1978. - J. Schlömerkemper: Lernen im Team-Kleingruppen-Modell. Frankfurt/M. 1986.

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[6] ) Vgl. die Studie "Exemplarisches Lehren und Lernen" in meinem Buch "Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 3. erw. Aufl. Weinheim 1993.

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[7] ) Vgl. P. Fauser, K. J. Fintelmann, A. Flitner (Hrsg.): Lernen mit Kopf und Hand. Weinheim 1983. - W. Münzinger, E. Liebau: Proben auf's Exempel. Praktisches Lernen in Mathematik und Naturwissenschaften. Weinheim/Basel 1987. - J. Gidion / H. Rumpf / F. Schweitzer: Gestalten der Sprache. Deutschunterricht und praktisches Lernen. Weinheim/Basel 1987. - P. Fauser / F. Konrad / J. Wöppel: Lern-Arbeit. Arbeitslehre als praktisches Lernen. Weinheim/Basel 1989. - Heftschwerpunkt "Praktisches Lernen" der Zeitschrift für Pädagogik, Heft 6/1988, S. 729 - 797, insbes. den Beitrag von R. Lersch: Praktisches Lernen und Bildungsreform. Zur Dialektik von Nähe und Distanz der Schule zum Leben (S. 781 - 797).

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