Klafki, Wolfgang: Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung. Marburg 1998:
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k06.html
- 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 75-92.
Wolfgang Klafki
Zentralprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule - Grundzüge internationaler Erziehung
1. Einleitung
Meine Überlegungen zum Thema basieren auf folgendem Grundgedanken: Blickt man auf das
20. Jahrhundert zurück, dessen Ende wir uns jetzt nähern, so zeichnet sich darin ein
weltgeschichtlicher Prozeß ab, der offensichtlich unumkehrbar ist. Ich meine die Entwicklung
zunehmender Wechselwirkungen und wechselseitiger Abhängigkeiten aller Teile der Welt,
anders formuliert: die zunehmende Vernetzung oder Verkoppelung des Schicksals aller Erdteile,
Kulturen, Staaten, Gesellschaften. Der Grad, den diese Vernetzung bis heute erreicht hat, ist
zwischen einzelnen Kontinenten, Kulturen, Gesellschaften, Staaten und Staatenblöcken
zweifellos unterschiedlich groß, und der Prozeß ist auch in verschiedenen Dimensionen
unterschiedlich weit gediehen: in der ökonomischen Dimension und hinsichtlich der
Informationssysteme z. B. meistens weiter als in der politischen und kulturellen Dimension.
Überdies hat es starke Bestrebungen und Tendenzen gegeben und es gibt sie noch, die diese
Entwicklung aufzuhalten versuchten: Autarkiebestrebungen, Abgrenzungs- und Isolierungsversuche,
Blockbildungen und radikale Konfrontationsstrategien. Sie haben sich nicht zuletzt in den
verheerenden Kriegen dieses Jahrhunderts niedergeschlagen. Insgesamt aber wird man jenen
Prozeß als unaufhaltsam ansehen müssen, und zwar in seinen Gefahren, vor allem aber
auch in seinen Chancen für die weitere Entwicklung der Menschheit.
Mindestens sechs miteinander verzahnte Faktorenkomplexe sind, wenn ich recht sehe, die
entscheidenden Triebkräfte dieses universalen Vorganges; er verbindet die in früheren
Jahrhunderten in viele, weitgehend beziehungslose oder nur locker verknüpfte Teilbereiche
gegliederte Erde immer mehr zu einem Weltzusammenhang:
- die technisch-industrielle Entwicklung;
- die dadurch ermöglichte Entwicklung einstmals relativ selbständiger
Wirtschaftsräume zur Weltwirtschaft;
- der davon untrennbare Aufbau immer weiter reichender Informations- und
Kommunikationssysteme: Telefon, Radio, Fernsehen, Funk;
- die Entwicklung von Waffensystemen mit immer größerer Vernichtungskraft;
- die Erkenntnis von der teils bereits akuten, teils zu befürchtenden Zerstörung der
natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz infolge der technisch-industriellen und der
wirtschaftlichen Entwicklung mit ihren Nebenwirkungen;
- die Entwicklung der Erkenntnis bei wachsenden Menschengruppen in verschiedenen
Gesellschaften, daß verantwortbare Politik heute und in Zukunft nicht mehr aus dem
Blickwinkel einzelner Völker, Gesellschaften, Staaten oder Staatenblöcke
gemacht werden kann oder mindestens gemacht werden dürfte; allerdings ist dieser
Teilprozeß politischer Bewußtseinsbildung vielfach wohl über Anfangsstadien
noch nicht hinausgekommen.
Angesichts des eben skizzierten Gesamtprozesses, der darin liegenden Risiken und
Möglichkeiten, stellen sich selbstverständlich auch der Erziehung und der
Erziehungswissenschaft neue, große Aufgaben. Die Erziehungswissenschaft und das
allgemeine pädagogische Bewußtsein der Eltern und aller beruflicher Erzieherinnen und
Erzieher, nicht zuletzt der Lehrerinnen und Lehrer, müssen einen universalen Horizont
gewinnen, und zwar im Prinzip in allen Staaten und Kulturen. Aus einem solchen weltweiten
Blickwinkel heraus aber muß darüber nachgedacht werden: Welche Erkenntnisse,
Fähigkeiten und Einstellungen benötigen junge Menschen heute und für ihre
Zukunft, um sich produktiv mit jenen universalen Entwicklungen und Problemen auseinandersetzen
zu können und schrittweise urteilsfähig, mitbestimmungsfähig und
mitgestaltungsfähig zu werden? Diese Fragestellung und die folgenden Ausführungen
haben viele Berührungspunkte mit jenen Argumenten, die der "Nationale Rat zur
Erziehungsreform" Japans in seinen Empfehlungen aus den Jahren 1985 und 1987
veröffentlicht hat. [1]
Es wäre m. E. völlig falsch zu sagen: Das sind doch Probleme der Erwachsenen; sich
damit zu beschäftigen, sind Kinder und junge Menschen doch gar nicht in der Lage! In
Wahrheit betreffen jene Probleme das Leben von Kindern und Jugendlichen schon hier und heute,
wie sich an beliebig vielen Beispielen zeigen läßt. Darüber hinaus aber ist zu
bedenken: Die Grundlagen für die Entwicklung von Sichtweisen, Problemwahrnehmungen,
Einstellungen - also etwa die Begrenzung des Denk- und Interessenhorizonts von Kindern auf ihre
unmittelbaren Lebensräume oder auf den Rahmen der eigenen Kultur, der eigenen Nation, des
eigenen Staates oder aber, im Gegensatz dazu, die Öffnung für weitere,
internationale, menschheitliche Perspektiven können in der individuellen Entwicklung sehr
früh ausgebildet werden. Wir versäumen entscheidende Möglichkeiten, und wir
versäumen angesichts unserer geschichtlichen Situation Notwendigkeiten, wenn wir die
Entwicklung eines im Prinzip internationalen Problembewußtseins nicht ganz
früh, also in den ersten Anfängen bereits in der vorschulischen Familienerziehung und im
Kindergarten und dann natürlich in der Schule beginnen.
Meine weiteren Ausführungen werde ich im wesentlichen auf den Bereich des Schulalters, d. h.
auf die Schulen von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II beschränken.
Mein Vorschlag, den ich im folgenden erläutern möchte, mag auf den ersten Blick
utopisch klingen: Ich halte es für notwendig und teils lang-, teils mittelfristig
für möglich, in den Lehrplänen der Schulen aller Staaten und
Gesellschaften einen Block von international bedeutsamen Rahmenthemen festzulegen und sie dann,
der jeweiligen weiteren Entwicklung entsprechend, sozusagen fortzuschreiben. Dabei kann ich jetzt
noch nicht sagen, ob dieser Lehrplanblock nun ein Viertel oder ein Drittel oder zwei Fünftel
des Gesamtlehrplans der Schulen umfassen sollte. Daß er allerdings auch
umfangmäßig ein hohes Gewicht erhalten müßte, geht schon aus den eben
genannten, hypothetischen Anteils-Alternativen hervor. Die Themen dieses Unterrichtsblocks
betreffen Schlüsselprobleme der modernen Welt, und sie würden den
gemeinsamen inhaltlichen Kern internationaler Erziehung bilden.
Bestehende internationale Institutionen einerseits regionaler Art - z. B. innerhalb der
Europäischen Gemeinschaft oder des ASEAN-Paktes -, andererseits die UNESCO, die
Erziehungsorganisation der Vereinten Nationen, sollten die Einrichtungen sein, in denen die
notwendigen Absprachen getroffen, Planungen ausgearbeitet und später der
Erfahrungsaustausch über Ansätze der Verwirklichung organisiert werden
könnten. Aber zunächst wird man wohl auf bescheideneren Ebenen beginnen
müssen, meistens im Bereich des jeweiligen nationalen Bildungssystems. - Ich werde mich im
folgenden nicht den Organisationsproblemen, sondern der inhaltlichen und unterrichtlichen Seite des
Vorschlages zuwenden. In diesem Sinne skizziere ich zunächst einige Beispiele für
solche Schlüsselprobleme der modernen Welt.
2. Schlüsselprobleme der modernen Welt als inhaltlicher
Kern internationaler Erziehung und ihre Bearbeitung im
Unterricht [2]
Als erstes Schlüsselproblem nenne ich die Friedensfrage angesichts
der nach wie vor ungeheuren Vernichtungspotentiale der ABC-Waffen. Hier sind nun bekanntlich
gerade in den letzten Jahren weltpolitisch neue Möglichkeiten aufgebrochen, Chancen
für den Einstieg in einen Abrüstungsprozeß in großem Stile. Jedoch hat uns
vor allem der Golfkrieg mit seinen furchtbaren Folgen erneut vor Augen geführt, wieweit wir
nach wie vor von der Herstellung einer Weltfriedensordnung entfernt sind. Friedenserziehung
wird also als kritische Bewußtseinsbildung und als Anbahnung entsprechender Entscheidungs-
und Handlungsfähigkeit eine langfristige pädagogische Aufgabe bleiben.
Hier sind für die Erörterung im Unterricht zwei Faktorenkomplexe und ihre
Wechselwirkung entscheidend.
Der erste Faktorenkomplex enthält zwei Hauptelemente: Zum einen muß es im
Unterricht darum gehen, an Beispielen makrosoziologische und makropolitische
Ursachen der Friedensgefährdung bzw. von Kriegen erkennbar zu
machen, also ökonomische Interessengegensätze zwischen Staaten oder
Staatengruppen, nationalistisch oder rassistisch oder fundamentalistisch motivierte imperialistische
Bestrebungen, gesellschaftlich-politische Ungleichheits- und Unrechtsverhältnisse, also auch all
jene Faktoren, die der norwegische Friedensforscher Johan Galtung als Verhältnisse und
Formen 'struktureller Gewalt' bezeichnet hat. Zum anderen wird Friedenserziehung sich um die
Aufklärung der durch solche makrosoziologischen und makropolitischen Bedingungen
vermittelten gruppen- und massenpsychologischen Ursachen aktueller oder
potentieller Friedlosigkeit bemühen müssen, nicht zuletzt auch in der Reflexion der
Lehrenden und Lernenden auf sich selbst: auf kollektive Aggressionen, Feindbilder, Stereotypen,
Vorurteile. - Zu dem zuletzt genannten Aspekt füge ich noch folgende Anmerkung hinzu: Man
muß jene gruppen- und massenpsychologischen Phänomene deutlich vom Fragenkreis
individueller Aggressivität unterscheiden, obwohl es hier sicherlich bisweilen
Zusammenhänge gibt. Aber Erziehung zu zwischenmenschlicher Freundlichkeit bzw.
Friedfertigkeit bzw. zum Abbau von Aggressivität im direkten Umgang zwischen Menschen,
so wichtig sie als Aspekt sozialer Erziehung gewiß ist, erreicht die hier zu erörternde
Dimension psychologischer Ursachen von Friedensgefährdung bzw. Kriegsbereitschaft noch
gar nicht.
Nun zum zweiten Faktorenkomplex, der in der Auseinandersetzung mit dem Schlüsselproblem
"Krieg und Frieden" zur Sprache kommen muß: Auf den vorher skizzierten Zusammenhang
von makrosoziologischen und makropolitischen sowie gruppen- und massenpsychologischen
Kriegsursachen bzw. Voraussetzungen von Kriegsbereitschaft und Friedensengagement bezogen
muß Friedenserziehung die Frage aufwerfen, ob es moralische Rechtfertigungen
für Kriege gibt: als sogenannte ulitma ratio in bestimmten Konfliktsituationen, als
sogenannte "gerechte" oder "heilige" Kriege, als Kriege um der sogenannten nationalen Würde
willen, als Bestrafungskriege usf. Diese Rechtfertigungsfrage aber muß reflektiert werden
angesichts der historisch beispiellosen Vernichtungswirkung moderner Waffensysteme und der
weitgehend unmöglichen Begrenzung dieser Wirkungen auf sogenannte "kriegswichtige
Ziele".
Ein zweites Schlüsselproblem ist die Umweltfrage, d. h. die in globalem
Maßstab zu durchdenkende Frage nach Zerstörung oder Erhaltung der natürlichen
Grundlagen menschlicher Existenz und damit nach der Verantwortbarkeit und
Kontrollierbarkeit der wissenschaftlich-technologischen
Entwicklung.
Auch die Gesellschaften der Zukunft, zunächst: die sogenannten entwickelten Gesellschaften
der 1. Welt werden hochtechnisierte und hochindustrialisierte Gesellschaften sein; Träume von
der Rückkehr zu vortechnischen oder vorindustriellen Zuständen sind Illusion;
außerdem können die Zustände der vorindustriellen Welt nur bei einer
unhistorischen Betrachtung als generell humanere Lebenssituation verherrlicht werden. Und wenn
die eklatante Ungleichheit zwischen den hochentwickelten Gesellschaften und den sogenannten
Entwicklungsländern, die im Lichte der Anerkennung gleicher Menschenrechte als Form
struktureller Gewalt unerträglich ist und eine ständige Friedensgefährdung
darstellt, schrittweise beseitigt werden soll, dann ist auch das nicht ohne Anschluß der wenig
entwickelten Länder an bestimmte technische und industrielle Entwicklungen möglich.
Allerdings müßte alles getan werden, um die betroffenen Länder und Regionen vor
jenen Fehlwegen der Industrialisierung zu bewahren oder davon wieder abzubringen, deren
ökologisch und sozial zerstörerische Folgen heute nur noch um den Preis der
Selbstzerstörung verleugnet werden können. Denn es ist eine inzwischen unabweisbare
Einsicht, daß die Weiterentwicklung der industriellen Gesellschaft, die eine Risikogesellschaft
geworden ist und es in gewissem Sinne bleiben wird, mit Sicherheit nicht auf der Bahn jener linearen
Fortschrittslogik erfolgen kann, der wir lange Zeit unkritisch gefolgt sind. Sie ist in Wahrheit eine
verkürzte, ökonomisch-technologisch bestimmte Wachstumslogik, die weithin noch
heute das Bewußtsein vieler Zeitgenossen, die technologische Entwicklung, die Organisation
der industriellen Produktion, unsere durch sie tief beeinflußten Konsumgewohnheiten und nicht
zuletzt die Wirtschaftspolitik, die Wissenschafts- und Technologiepolitik sowie die Verkehrspolitik
bestimmt, aber auch Bildungs- und Gesundheitspolitik beeinflußt, und zwar über die
Unterschiede der politisch-gesellschaftlichen Systeme hinweg.
Gegenwarts- und zukunftsorientierte Bildungsarbeit hat angesichts dieses Schlüsselproblems
drei Hauptaufgaben:
Erstens müssen wir schrittweise ein waches Bewußtsein der Kinder und
Jugendlichen für die Spannung entwickeln, die zwischen der ökologischen Aufgabe, also
der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, und den bisherigen
Leitlinien der industriell-technischen Entwicklung mit ihren heute klar erkennbaren beiden
Hauptfolgen besteht: zum einen der tendenziellen Erschöpfung der natürlichen
Ressourcen und zum anderen der Umweltzerstörung durch die Folgen unkontrollierter
technologisch-ökonomischer Entwicklungen.
Zweitens sollen die Schülerinnen und Schüler Einsicht in folgende
Notwendigkeit gewinnen: Es müssen ressourcen- und energiesparende Techniken und
umweltverträgliche Produkte und Produktionsweisen entwickelt werden, und wir
müssen unseren Konsum teils einschränken, teils umweltfreundlich praktizieren. Beide
Erkenntnisse lassen sich anhand von Beispielen für bereits heute, wenn auch erst in begrenztem
Umfang vorhandene Verfahren wie etwa die Nutzung von Sonnen-, Wind- und Bioenergie sowie
Erdwärme und an Beispielen für umweltschonendes Konsumverhalten, z. B. durch die
Reduktion und das Recycling von Abfall, im Unterricht erarbeiten.
Schließlich geht es drittens um die Erkenntnis, daß eine permanente
demokratische Kontrolle der ökonomisch-technologischen und der entsprechenden
wissenschaftlichen Entwicklung notwendig ist, einerseits in der Form ständiger und
frühzeitiger öffentlicher Information und der allgemeinpolitischen und
regionalpolitischen Diskussion, andererseits durch die Institutionalisierung von demokratischen
Kontrollinstanzen.
Im Unterricht können und sollten die genannten Aufgaben soweit wie möglich in der
Form handlungsorientierter Projekte in Angriff genommen werden, und zwar von den
frühesten Bildungsstufen an, also im Grunde schon im Vorschulbereich, mindestens aber in der
Grundschule beginnend.
Ein weiteres, nach wie vor unbewältigtes Schlüsselproblem stellt die
gesellschaftlich produzierte Ungleichheit dar. Hier sind zwei Hauptaspekte zu
unterscheiden. Zum einen geht es um die Ungleichheit innerhalb bestimmter
Gesellschaften, zunächst natürlich der jeweils eigenen, als Ungleichheit
- zwischen sozialen Klassen und Schichten,
- zwischen Männern und Frauen,
- zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen,
- zwischen Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, und denen, für die das nicht gilt,
- zwischen Ausländern in Gastländern und der einheimischen Bevölkerung, aber
auch zwischen verschiedenen Volksgruppen einer Nation, positiv formuliert: hier stellt sich die
Aufgabe interkultureller Erziehung.
Der zweite Aspekt dieses Schlüsselproblems führt auf die
Ungleichheit in internationaler Perspektive. Hier ist das am meisten
hervorspringende Problem bereits an früherer Stelle als Gefährdung des Friedens
genannt worden: das Ungleichgewicht an Wohlstand und Macht zwischen den sogenannten
entwickelten und den wenig entwickelten Ländern. Unter dem Gesichtspunkt des
Bevölkerungswachstums, der ungeheuren Hungersnöte und Epidemien, des
millionenfachen Kindersterbens ist es - neben der Friedensaufgabe - zugleich das dringlichste
moralische Problem, vor dem wir heute stehen.
Ich komme zu einem vierten Schlüsselproblem. Gemeint sind die Gefahren und
die Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und
Kommunikationsmedien in ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung des
Produktionssystems, der Arbeitsteilung oder aber für ihre schrittweise Zurücknahme;
für die mögliche Vernichtung von Arbeitsplätzen durch eine ausschließlich
ökonomisch-technisch verstandene "Rationalisierung"; für veränderte
Anforderungen an Basis- und Spezialqualifikationen; für die Veränderung des
Freizeitbereichs und der zwischenmenschlichen Kommunikationsbeziehungen.
Wir brauchen in einem zukunftsorientierten Bildungssystem also auf allen Schulstufen und in allen
Schulformen eine gestufte, kritische informations- und
kommunikationstechnologischen Grundbildung also Moment einer neuen
Allgemeinbildung; "kritisch", das heißt, daß die Einführung in die Nutzung und in
ein elementarisiertes Verständnis jener modernen, elektronisch arbeitenden Kommunikations-,
Informations- und Steuerungsmedien immer verbunden wird mit der Reflexion über ihre
Wirkungen auf die sie benutzenden Menschen, über die möglichen sozialen
Folgen des Einsatzes solcher Medien und über deren möglichen
Mißbrauch. In der Bundesrepublik liegen inzwischen einige m. E. richtungsweisende
Ansätze zu einer solchen Grundbildung vor.
[3]
Es sind Entwürfe, die weder einer Medieneuphorie noch einer abstrakten Medienphobie
verfallen sind. Sie zeigen m. E., in welchem Sinne im Wechselspiel von didaktischer Konzeptbildung
und unterrichtlicher Erprobung weitergearbeitet werden müßte.
Schließlich nenne ich ein fünftes Schlüsselproblem, bei dem die
Subjektivität des einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehungen ins Zentrum der
Betrachtung rücken: die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität, des
Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder gleichgeschlechtlicher Beziehungen - jeweils in
der Spannung zwischen individuellem Glücksanspruch, zwischenmenschlicher Verantwortung
und der Anerkennung des Anderen bzw. der jeweils Anderen. In diesen Zusammenhang gehört
auch die Aufklärung über die Aids-Problematik.
Ich muß die Reihe der Beispiele für Schlüsselprobleme hier abbrechen, um noch
einige Erläuterungen zu meinem Vorschlag machen und unterrichtspraktishe Folgerungen
ansprechen zu können.
Zunächst: Die Anzahl solcher Probleme ist keineswegs beliebig erweiterbar. Denn es geht ja
um typische Strukturprobleme unserer historischen Epoche von
übernationaler, meistens weltumspannender Bedeutung, die zugleich jeden einzelnen von uns
zentral betreffen, wenn ihm das vielleicht zunächst auch nicht bewußt ist. Und zwar
handelt es sich - um es noch einmal zu betonen - keineswegs nur um Probleme der Erwachsenen.
Kinder und Jugendliche sind - direkt oder indirekt - genauso betroffen! - Mit dem Stichwort
"epochaltypisch" wird angedeutet, daß es sich um einen in die Zukunft hinein
wandelbaren Problemkanon handelt. Jedoch darf der Vorschlag keinesfalls als Plädoyer
dafür verstanden werden, daß sich die Schule ständig darum bemühen solle,
"aktuell" im gängigen, vordergründigen Wortsinne zu sein. "Aktuell" ist in dieser Woche
dieses, in der nächsten jenes. Darum geht es hier nicht!
Mein Vorschlag, die Konzentration auf Schlüsselprobleme im umschriebenen Sinne als eines
der inhaltlichen Zentren internationaler Erziehung in allen nationalen Lehrplänen bzw.
Curricula zu verankern, setzt voraus, daß ein weitgehender Konsens über die
gravierende Bedeutung solcher Schlüsselprobleme argumentativ, diskursiv erarbeitet
werden kann. Er setzt aber nicht voraus, daß ein solcher Konsens auch
hinsichtlich der Wege zur Lösung solcher Probleme von vornherein notwendig ist. Im Hinblick
auf die Frage der Lösungswege ist vielmehr zu betonen: Zur fruchtbaren, aufklärenden
Auseinandersetzung mit solchen Schlüsselproblemen gehört zentral die Einsicht, die an
exemplarischen Beispielen erarbeitet werden kann, daß und warum
die Frage nach "Lösungen" der großen Gegenwarts- und Zukunftsprobleme
verschiedene Antworten ermöglicht. Sie können z. B. durch unterschiedliche
ökonomisch-gesellschaftlich-politische Interessen und Positionen oder durch
klassenspezifische, schichtenspezifische oder generationsspezifische Sozialisationsschicksale und
Wertorientierungen bedingt sein; man denke hinsichtlich des eben erwähnten Aspekts der
Gnereationsspezifik etwa an das Problem der Sexualität.
Aus dem Sachverhalt, daß die Übereinstimmung über die Bedeutung eines
Schlüsselproblems nicht zugleich besagt, daß man sich auch über die
Lösung des betreffenden Problems von vornherein einig sein muß, folgt keineswegs,
daß man nun alle in die Diskussion eingebrachten Lösungsvorschläge von
vornherein als gleichberechtigt anerkennen müsse. Vielmehr muß die Frage gestellt
werden, ob es Kriterien gibt, unter denen die Qualität unterschiedlicher
Lösungsvorschläge untersucht und nach einem solchen Untersuchungsprozeß
beurteilt werden kann. Das m. E. entscheidende Kriterium läßt sich so formulieren:
Wieweit kann das Prinzip bzw. können die Prinzipien, die einem Lösungsvorschlag
zugrunde liegen, für alle potentiell Betroffenen verallgemeinert
werden, wieweit werden dabei die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt ? [4] Wenn Unterricht über
Schlüsselprobleme solche intensiven Prozesse des Untersuchens und des Abwägens von
Argumenten und Gegenargumenten auslöst, dann bietet er die Chance, daß jeder
Lernende die Unverzichtbarkeit eigener Urteilsbildung, reflektierter
Entscheidung und eigenen Handelns - für den jungen Menschen mindestens im
Hinblick auf seine Zukunft - erkennt, sich also, reflexiv vermittelt, als betroffen und
mitverantwortlich erfährt. Zugleich wird erkennbar, daß die Lehrenden in einem so
verstandenen pädagogischen Dialog den Lernenden gegenüber bestenfalls graduelle
Vorsprünge haben, daß sie Mit-Lernende, kritisch Befragte und zu Befragende sind und
es ständig bleiben müssen.
Ich wende mich noch einem weiteren Aspekt des Schlüsselproblem-Konzepts zu. Bei der
Auseinandersetzung mit solchen Problemen an exemplarischen Beispielen geht es nämlich
nicht nur um die Erarbeitung jeweils problemspezifischer, struktureller Erkenntnisse, sondern auch
um die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den
Bereich des jeweiligen Schlüsselproblems hinausreicht.
Hier sollen vier grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten herausgehoben werden. Sie
enthalten jeweils inhaltsbezogene und kommunikationsbezogene Komponenten:
- Kritikbereitschaft und Kritikfähigkeit einschließlich der Bereitschaft
und Fähigkeit zur Selbstkritik. Dabei geht es darum, jeweils nach der
Überzeugungskraft und den Grenzen fremder und eigener Begründungen für
eine Position zu fragen und damit einen akzeptierten oder selbstentwickelten Standpunkt
für weitere Prüfung offenzuhalten.
- Argumentationsbereitschaft und Argumentationsfähigkeit,
d. h. das Bemühen, eigene Positionen und eigene Kritik so in den Zusammenhang eines
Gesprächs bzw. eines Diskurses mit anderen einbringen zu wollen und
einbringen zu können, daß den Gesprächspartnern Verstehen
und kritische Prüfung ermöglicht wird, so also, daß die Chance zum
gemeinsamen Erkenntnisfortschritt gewahrt bleibt, hin zu besser begründeter Erkenntnis,
als man sie zunächst besaß.
- Empathie im Sinne der Fähigkeit, eine Situation, ein Problem, eine Handlung aus der Lage
des jeweils anderen, von der Sache Betroffenen aus sehen zu können. Das bedeutet einmal
mehr nicht, jede beliebige Sichtweise unbesehen als gleichberechtigt anzuerkennen. Vielmehr geht
es darum, Prozesse der argumentativen Erarbeitung begründeter Konsense in Gang zu
setzen oder in Gang zu halten, Konsense, die über die anfängliche Diskrepanz
unterschiedlicher Sichtweisen hinausgelangen können.
- Schließlich nenne ich noch eine weitere Bereitschaft und Fähigkeit von
übergreifender Bedeutung. Man kann sie als "vernetzendes Denken" oder
"Zusammenhangsdenken" bezeichnen. Die Betonung dieser Fähigkeit ergibt sich heute
m. E. zwingend aus neueren, internationalen Zeit- und Gesellschaftsanalysen. Sie haben jene
vielfältigen Verflechtungen herausgearbeitet, die ich bereits in der Einleitung dieses
Beitrages hervorgehoben habe; zugespitzt formuliert, verknüpfen sie heute "alles mit
allem": zum einen innerhalb einzelner Gesellschaften, und hier beginnend im Erfahrungs- und
Handlungsbereich jedes einzelnen: z. B. hat unser Konsumverhalten etwas mit
Umweltzerstörung oder ihrer Begrenzung, beides etwas mit Energieverbrauch und
Energiepolitik zu tun usw. Solche Verflechtungen innerhalb einer Gesellschaft sind
darüber hinaus aber bekanntlich in wachsende Verschränkungssysteme verflochten,
bis hin zu jenen weltweiten Wechselwirkungszusammenhängen, die mit Stichworten wie
"Klimaveränderung" bzw. "drohende Klimakatastrophe", teilglobale oder globale Wirkung
moderner Vernichtungswaffen, "weltwirtschaftliche Wechselwirkungen",
"Entwicklungsdiskrepanzen zwischen sogenannter Erster und Dritter Welt" u. ä.
angedeutet werden.
Schon innerhalb schulischer Bildungsprozesse müßten wir es also den Kindern und
Jugendlichen ermöglichen und ihnen die Anforderung
stellen, eine neue Denkhaltung zu entwickeln, und wir Erwachsenen, nicht zuletzt die
Lehrerinnen und Lehrer, müßten bei uns selbst diese Denkhaltung ausbilden. Sie
führt dazu, grundsätzlich angesichts vorhandener Regelungen, Institutionen,
Handlungsgewohnheiten oder aber geplanter Veränderungen technischer,
ökonomischer, sozialer, administrativer, politischer Art nach wahrscheinlichen oder
möglichen Nebenfolgen zu fragen, insbesondere auch nach möglichen nicht-gewollten Nebenfolgen, die die bewußten Absichten der Handelnden letztlich vielleicht
unterlaufen. Wir müssen hier die Fähigkeit zu kognitiver Phantasie,
einer Phantasie der Folgenabschätzung entwickeln. Demgegenüber bietet
unsere wissenschaftliche, technische, ökonomische, gesellschaftliche, politische Wirklichkeit
auf Schritt und Tritt Beispiele für unsere bisherigen Versäumnisse, vernetzend zu
denken und unser Handeln dementsprechend zu orientieren, und genau hier könnte didaktisch,
jeweils zunächst regionalspezifisch und situationsspezifisch, angesetzt werden. Ich deute das
Spektrum möglicher Ansatzpunkte in Beispielen an: Es reicht von der kommunalen
Bauplanung bis zur Müllproduktion und Müllbeseitigung, von der Chemisierung,
Technisierung und Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion bis zur Wasserversorgung,
schließt die weithin noch parzellierte medizinische Versorgungspraxis ein usw.
Aus den vorangehenden Überlegungen ergeben sich weitere schulpraktische, genauer gesagt:
unterrichtsorganisatorische und didaktische Konsequenzen. Zunächst nenne ich zwei
unterrichtsorganisatorische Folgerungen.
Erstens: Für den Teil des gesamten Unterrichts, der sich auf Schlüsselprobleme im
angedeuteten Sinne bezieht - abkürzend nenne ich ihn "Problemunterricht" -, ist die
übliche Unterrichtsstunde mit 45 Minuten und der ständige Wechsel voneinander
isolierter Fächer ungeeignet. Als einen ersten Schritt der Veränderung kann man die
Zusammenfassung zu Doppelstunden, sogenannten Blockstunden betrachten. Die
wünschenswerte Form ist jedoch der Epochalunterricht. Stundenplantechnisch
heißt das: Durch den Schulvormittag oder auch den Nachmittag in Ganztagsschulen
müßte sich an allen oder den meisten Tagen der Schulwoche ein Band von täglich
mindestens zwei Schulstunden, besser noch: von etwa zwei Zeitstunden ziehen. Hier
müßte in epochalem Wechsel der Problemunterricht stattfinden, der jeweils Anteile von
mehreren der herkömmlichen Fächer in sich vereinigt, in dem jedoch auch fachliche
Lehrgangssequenzen ihren Ort finden müssen, wenn das jeweils anstehende Problem es
erfordert. Daß die Durchführung eines solchen Epochalunterrichts möglich und
fruchtbar ist, dafür gibt es, wenn auch noch nicht im Zusammenhang mit dem
Schlüsselproblem-Konzept, in der internationalen Reformpädagogik unseres
Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein überzeugende Beispiele. Man findet sie etwa im
pädagogischen Reformansatz John Deweys und in der gesamten Projektunterrichtsbewegung
oder in Peter-Petersens Schulkonzept, in der Odenwaldschule oder in manchen Integrierten
Gesamtschulen der Bundesrepublik usw.
Mein Vorschlag, einen solchen fächerübergreifenden bzw. fächerintegrierenden
Problemunterricht als einen Kernbestandteil internationaler Erziehung in unseren Schulen zu
verankern, schließt eine ein zweite unterrichtsorganisatorische Konsequenz ein. Ich meine
die Bildung von Lehrerinnen- bzw. Lehrerteams. Für dieses Team-Prinzip
gibt es noch weitere Argumente, aber darauf kann ich hier nicht eingehen. Das Team-Prinzip
bedeutet [5] : Für längere
Zeiträume, mindestens Zwei-Jahres-Spannen, wird einer Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern,
die insgesamt ein hinreichend breites Spektrum von Fächern vertreten, die
Hauptverantwortung für die Gestaltung des Unterrichts und des Schullebens einer kleinen Zahl
von Lerngruppen bzw. Klassen, also etwa zwei bis drei Klassen übertragen, und solche
Lehrerteams erhalten dann erhebliche Spielräume für die Gestaltung des Unterrichts:
hinsichtlich der Stundenplanorganisation, der Auswahl und Durchgestaltung der Unterrichtsthemen,
der Wahl der Methoden usf. In unserem Zusammenhang bedeutet das: Ein solches Lehrerteam plant,
mindestens in großen Zügen, die Epochen des hier vorgeschlagenen Problemunterrichts
und organisiert das Zusammenspiel von fächerübergreifenden und fachlichen
Perspektiven.
Ich komme zu den didaktischen Folgerungen. "Problemunterricht" soll im Sinne folgender vier
miteinander verschränkter Unterrichtsprinzipien gestaltet werden; diese Grundsätze sind
bisher teils direkt, teils indirekt bereits angeklungen, ich kann (und ich muß mich aus
Zeitgründen) daher auf knappe Hinweise beschränken. Es handelt sich um folgende
Prinzipien:
- Exemplarisches Lehren und Lernen, d. h. also Gestaltung eines Unterrichts, in dem
Schülerinnen und Schüler sich jeweils an wenigen, in ihrem Erfahrungsbereich
liegenden oder in ihn einzuführenden Beispielen das Verständnis mehr oder minder
verallgemeinerbarer Prinzipien, Einsichten, Gesetzmäßigkeiten,
Zusammenhänge erarbeiten können.
[6]
- Methodenorientiertes Lernen, also die Aneignung von übertragbaren Verfahrensweisen des
Lernens und Erkennens sowie der Übersetzung von Erkenntnis in praktische
Konsequenzen.
- Handlungsorientierter Unterricht, heute oft "praktisches Lernen" genannt. Gemeint ist die
Verknüpfung von praktischem Tun und Herstellen, szenischer Gestaltung, Erkundungen
und Befragungen innerhalb und außerhalb der Schule, aktivem Einsatz der Medien Foto,
Videoaufnahme, Tonband, Kassette durch die Schüler, der Durchführung von
Praktika und von Projekten, mit der reflexiven Verarbeitung und ersten Schritten der
Verallgemeinerung des Erfahrenen und mit dem Entwurf weiterführender Perspektiven . [7] Handlungsorientierter Unterricht
angesichts von Problemen, die junge Menschen als für sich selbst bedeutsam erfahren
können und als sinnlich vermittelte Aktivitätsform, dürfte auch die
pädagogisch aussichtsreichste Weise sein, um auf den vielbeklagten Motivationsschwund in
der jungen Generation, ihre Zweifel am Sinn schulischen Lernens zu antworten. Er öffnet,
so ist bereits deutlich geworden, den Lernort Schule überdies hin zu anderen,
außerschulischen Lernorten und Erfahrungsfeldern und bringt schulisches Lernen damit in
Beziehung.
Handlungsorientiertes Lernen ist schließlich mit einem vierten Unterrichtsprinzip
verschränkt, nämlich
- der Verbindung von sachbezogenem und sozialem Lernen, die eine Skala von Aufgaben und
Möglichkeiten umfaßt; ich deute einige der wichtigsten wenigstens an:
- das kooperierende Lernen in Partner- und Kleingruppen;
- die Fähigkeit, anderen sachgemäß bei Schwierigkeiten im Lernprozeß
helfen zu können; man muß allerdings zugeben, daß eine praktisch
hilfreiche Didaktik für Lehrerinnen und Lehrer, das Helfen zu lehren, weitgehend erst
erarbeitet werden muß;
- das Erlernen von rationalen Formen der Konfliktbewältigung;
- die Fähigkeit, sich auch in größere Gruppen mit Anregungen, Kritik, eigenen
Argumentationen einbringen zu können.
3. Abschluß
Abschließend komme ich noch einmal auf den möglichen Vorwurf zurück:
Das ist ja alles völlig illusionär! Meines Erachtens wäre ein solcher Vorwurf nur
berechtigt, wenn jemand fordern würde: Das hier in Umrissen skizzierte pädagogische
Konzept muß in kürzester Zeit und von Anfang an in seinen anspruchsvollsten
pädagogischen Formen verwirklicht werden. Demgegenüber meine ich, daß man
zwar weite und anspruchsvolle Perspektiven haben muß, daß es aber im Blick auf solche
großen Perspektiven möglich und sinnvoll ist, erstens innerhalb jedes nationalen Schulsystems, zweitens auf der Ebene internationaler Kontakte, drittens aber innerhalb jeder
einzelnen Schule zu prüfen, welche Schritte in der angedeuteten Richtung
möglich sind. Aus dem deutschen Schulwesen weiß ich, daß an etlichen Schulen
mindestens Ansätze eines solchen Unterrichts über Schlüsselprobleme unserer
geschichtlichen Epoche praktiziert werden, sei es noch im Rahmen des Fachunterrichts, sei es im
fächerübergreifenden Unterricht oder in Form des Projektunterrichts zu Themen der
Friedenserziehung, der Umwelterziehung, der Übervölkerungsproblematik, zentraler
Probleme der Dritten Welt, der Gentechnik oder der Sexualerziehung.
Wenn wir als Erwachsene und zumal als Pädagogen unserer Verantwortung für die
nachwachsende Generation gerecht werden wollen, müssen wir, so meine ich, die
Hinführung zur Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen unserer historischen
Epoche theoretisch und praktisch in Angriff nehmen.
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Anmerkungen
[1] ) National Council of Educational Reform: First Report on Educational Reform, ed. by the Government of Japan, Tokyo 1985 - Second Report ..., Tokyo 1986. - Third Report ..., Tokyo 1987; Fourth and Final Report ..., Tokyo 1987. - Vgl. Ingolf Meese: Reformbestrebungen im japanischen Schulwesen. In: Vergleichende Pädagogik 1989 (Berlin-Ost), S. 409 - 417.
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[2] ) Die ausführlichste Fassung der im folgenden entwickelten Überlegungen habe ich - im Rahmen einer neuen Konzeption "Allgemeiner Bildung" - in der zweiten Abhandlung der Neuauflage meiner "Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik" (3. Aufl. Weinheim 1993) unter dem Titel "Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme" veröffentlicht.
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[3] ) Vgl. Landesinstitut für Schule und
Weiterbildung NRW (Hrsg.): Curriculumentwicklung in Nordrhein-Westfalen - Neue Technologien.
Soest 1985. - H. Pfeiffer / H.-G. Rolff: Technologische Grundbildung - oder: Wie Schulen auf die
Informationsgesellschaft vorbereiten. In: H.-G. Rolff u. a.: Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 4,
Weinheim/Basel 1986, S. 183 - 209. Vgl. auch W. Hendricks: Das Niedersächsische Projekt
"Neue Technologien und Schule". In: Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im
Unterricht (Hrsg.): Neue Technologien und technisch-ökonomische Bildung. Salzdetfurth
1987, S. 73 - 81. - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Neue Technologien und
Medien in Bildung und Gesellschaft. GEW-Skript Nr. 8, Frankfurt 1985
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[4] ) Vgl. W. Klafki: Kann Erziehungswissenschaft zur
Begründung pädagogischer Zielvorstellungen beitragen? - Über die Notwendigkeit, bei pädagogischen Entscheidungsfragen hermeneutische, empirische und
ideologiekritische Untersuchungen mit diskurs-ethischen Erörterungen zu verbinden. In: H.
Röhrs / H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und
pädagogische Verständigung. Wilhelm Flitner zur Vollendung seines 100. Lebensjahres
am 20. August 1989 gewidmet. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1989, S. 147 - 159.
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[5] ) Der Grundgedanke ist zunächst an einigen
deutschen Integrierten Gesamtschulen entwickelt worden. - Vgl. dazu: H. Brand / E. Liebau: Das
Team-Kleingruppen-Modell - ein Ansatz zur Pädagogisierung der Schule. München
1978. - J. Schlömerkemper: Lernen im Team-Kleingruppen-Modell. Frankfurt/M. 1986.
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[6] ) Vgl. die Studie "Exemplarisches Lehren und
Lernen" in meinem Buch "Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 3. erw. Aufl. Weinheim
1993.
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[7] ) Vgl. P. Fauser, K. J. Fintelmann, A. Flitner (Hrsg.): Lernen mit Kopf und Hand. Weinheim 1983. - W. Münzinger, E. Liebau: Proben auf's Exempel. Praktisches Lernen in Mathematik und Naturwissenschaften. Weinheim/Basel 1987. - J. Gidion / H. Rumpf / F. Schweitzer: Gestalten der Sprache. Deutschunterricht und praktisches Lernen. Weinheim/Basel 1987. - P. Fauser / F. Konrad / J. Wöppel: Lern-Arbeit. Arbeitslehre als praktisches Lernen. Weinheim/Basel 1989. - Heftschwerpunkt "Praktisches Lernen" der Zeitschrift für Pädagogik, Heft 6/1988, S. 729 - 797, insbes. den Beitrag von R. Lersch: Praktisches Lernen und Bildungsreform. Zur Dialektik von Nähe und Distanz der Schule zum Leben (S. 781 - 797).
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