Klafki, Wolfgang: Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Marburg 1998:
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k04.html
- 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 35-53.
Wolfgang Klafki
Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft
I. Vorbemerkungen
In diesem Beitrag möchte ich Grundlinien einer Konzeption von Erziehungswissenschaft
darstellen, an der ich seit etwa zwei Jahrzehnten arbeite. Im Prinzip geht es dabei um den Entwurf
einer allgemeinen Erziehungswissenschaft, m. a. W.: einer umfassenden systematischen Theorie
der Erziehung und der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Jedoch habe ich bisher zwar etliche
Beiträge zu generellen und zu speziellen Aspekten dieses Vorhabens vorgelegt, aber bisher
noch keinen umfassenden Systementwurf. [1]
In diesem Vortrag muß ich mich verständlicherweise in besonderem Maße auf
ausgewählte Grundzüge beschränken.
Ich füge noch zwei weitere Vorbemerkungen hinzu:
Zunächst: Mein Konzept hat etliche historische Wurzeln in der Geschichte des
pädagogischen Denkens, vor allem natürlich im europäischen Zusammenhang und
hier vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. U. a. nehme ich einige
Grundgedanken der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik unseres Jahrhunderts, von der ich
ursprünglich herkomme, auf. - Diese Geisteswissenschaftliche Pädagogik war eine
Strömung der deutschen Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an die sogenannte
Lebensphilosophie und die Theorie der Geisteswissenschaften des Philosophen und
Geisteshistorikers Wilhelm Dilthey vor allem in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bis 1933
entwickelt worden ist und die dann nach 1945 noch einmal für etwa 15 Jahre in der
Bundesrepublik großen Einfluß ausübte. Als ihre wichtigsten Repräsentanten
sind Eduard Spranger, Herman Nohl, Theodor Litt, Wilhelm Flitner und Erich Weniger zu nennen.
Ich habe bei Weniger und Litt studiert. [2]
Ebensoviele Anregungen wie der Geschichte des pädagogischen Denkens verdanke ich dem
Gespräch und der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen pädagogischen
Theoretikern. Auch in dieser Hinsicht kann ich jedoch im folgenden allenfalls ab und an knappe
Hinweise geben. - Insgesamt ist mein Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft eine
Variante innerhalb einer Gruppe von jüngeren erziehungstheoretischen Ansätzen der
deutschen und z. T. der internationalen Pädagogik, die man unter dem Sammelbegriff
"Kritische Erziehungstheorien" bzw. "Kritische Theorien der Erziehungswissenschaft"
zusammenfassen kann.
Nun zur zweiten Vorbemerkung: Mein Konzept entstammt selbstverständlich bestimmten
Zusammenhängen des europäischen bzw. des deutschen pädagogischen Denkens.
Aber ich bemühe mich darum, diese Begrenzung zu überschreiten und die
Grundgedanken auf einen weltweiten Horizont hin auszulegen. Als Japaner werden Sie kritisch
prüfen müssen, welche meiner Überlegungen Sie vor dem Hintergrund spezifisch
japanischer Kultur- und Denkzusammenhänge akzeptieren und welche Sie kritisch
zurückweisen oder doch wesentlich modifizieren müssen. Denn ich bin davon
überzeugt, daß wir heute in immer stärkerem Maße in einer Welt leben,
für die wir gemeinsam verantwortlich sind, und daß wir deshalb in immer
größerem Umfang interkulturell denken und uns wechselseitig austauschen
müssen.
II. Bestimmungselemente der kritisch-konstruktiven
Erziehungswissenschaft
Diesen Hauptteil meines Beitrages gliedere ich in zwei Hauptabschnitte:
Im ersten Hauptabschnitt behandle ich einige inhaltliche Grundprinzipien und
Grundkategorien, die das Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft
kennzeichnen.
Im zweiten Hauptabschnitt stehen die drei konstitutiven methodischen
Ansätze der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft im
Vordergrund.
A. Inhaltliche Prinzipien und Kategorien der
kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft
In diesem Hauptabschnitt werde ich fünf Prinzipien herausstellen. Dabei muß ich mit
Nachdruck betonen, daß ich diese Prinzipien zwar nur nacheinander aufführen kann,
daß sie aber der Sache nach nicht additiv nebeneinanderstehen, sondern wechselseitig
miteinander verzahnt sind und sich wechselseitig bedingen. Insofern können sie nicht
trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Vielmehr muß ich in meiner Darstellung immer
wieder auf solche Wechselbeziehungen verweisen.
1. Das erste Prinzip betrifft die Beziehung zwischen pädagogischer Theorie
und pädagogischer Praxis.
Erziehungswissenschaft wird in meinem Konzept als Theorie von der pädagogischen Praxis
und für pädagogische Praxis verstanden. Pädagogische Praxis aber ist als eine
bestimmte Form gesellschaftlicher Praxis zu verstehen; und Gesellschaft bzw.
gesellschaftliche Praxis werden grundsätzlich als geschichtlich betrachtet. Dem
entspricht es, daß auch pädagogische Praxis - die Erziehungspraxis in den Familien, in
Kindergärten, in Schulen, in sozialpädagogischen Bereichen usf. - immer als eine
geschichtlich gewordene und wandelbare Praxis aufgefaßt werden muß, die durch den
jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang vermittelt und auf diesen Zusammenhang
bezogen ist. Sie wandelt sich also mit diesem gesellschaftlichen Zusammenhang. Jedoch bedeutet
diese Bestimmung, daß pädagogische Praxis als gesellschaftlich vermittelte Praxis
begriffen werden muß, keineswegs notwendig, daß sie durch die jeweils gegebenen
gesellschaftlichen Verhältnisse streng determiniert ist. Das kann so sein,
muß aber nicht so sein. Genau an dieser Stelle hat nun das zweite inhaltliche Grundprinzip
der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft seinen Ort.
2. Auch dieses zweite Prinzip übernehme ich aus dem Denkzusammenhang der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, entwickle es aber über die dort anzutreffenden
Interpretationen hinaus. Dieses Prinzip wird als "relative Autonomie" bzw. "relative
Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis"
bezeichnet.
Was ist damit gemeint? Die These besagt folgendes: Im Zuge der neuzeitlichen europäischen
Entwicklung, vor allem seit der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, ist ein
tiefgreifender Wandel der Gesellschaft, der politischen Verhältnisse und der Kultur in Gang
gekommen. Der Prozeß der sogenannten Säkularisierung, der Verweltlichung hat sich
beschleunigt. Relativ geschlossene geografisch-wirtschaftlich-kulturelle Lebensräume beginnen
sich aufzulösen, werden sozusagen durchlässig, und die in ihnen bisher geltenden
religiös-moralischen Normen werden nicht mehr als selbstverständlich hingenommen,
sondern kritisch befragt. Die Aufklärung übt Kritik an tradierten
politisch-gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und sozialen Hierarchien. Die Philosophie
der Aufklärung und eine wachsende Zahl von Menschen berufen sich auf die Kraft der
Vernunft, auf die Fähigkeit jedes Menschen zu eigenem Denken und eigenem Urteil, auf
allgemeine Menschenrechte, die jedem Menschen als Person eigentlich zustehen und deren
Anerkennung und Verwirklichung nun gefordert wird. Innerhalb dieses Prozesses wird auch das
Kind und der junge Mensch als werdende Person mit eigenem Anspruch entdeckt,
als ein Wesen, das ein Recht auf die Entwicklung aller seiner menschlichen Möglichkeiten,
insbesondere auch seiner Vernunftfähigkeit hat. Damit ist der Anspruch verbunden, daß
Kindheit und Jugend als vollwertige Lebensphasen mit eigenem Recht und eigenen Sichtweisen
anerkannt werden müßten. Besonders prägnant ist dieser Gedanke bekanntlich von
Rousseau vertreten worden.
Dieser "Entdeckung" des Eigenrechts des jungen Menschen als einer potentiell zur
Selbstbestimmung, zur Mündigkeit fähigen Person entspricht es nun, wenn seit dieser
Zeit auch im pädagogischen Denken neue Ansätze wirksam werden; der
pädagogische Revolutionär Rousseau ist eben schon genannt worden. Immer deutlicher
entwickelt sich nun bei pädagogisch interessierten Denkern die Auffassung, daß die
Erziehung im gesellschaftlich-politischen und kulturellen Zusammenhang eine eigene,
besondere Aufgabe hat, daß sie verantwortlich ist dafür, jungen Menschen die
Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Interessen, die Entwicklung zur Mündigkeit und zur
Selbstbestimmungsfähigkeit zu ermöglichen. Das bedeutet aber, daß nun für
die Erziehung eine relative Selbständigkeit beansprucht wird, gegenüber den Religionen
und den Kirchen, dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen und Mächten, z. B. auch der
Wirtschaft. Dem entspricht ein Prozeß, in dem auch die Theorie der Erziehung - meistens ist
sie sogar der Vorreiter - eine relative Selbständigkeit gegenüber der Theologie, der
Philosophie, den Weltanschauungen, der Politik, den anderen Kulturbereichen gewinnt oder
mindestens fordert. Hier muß jedoch einem verbreiteten Mißverständnis des
Prinzips der "relativen Autonomie" oder - synonym damit - der "relativen Eigenständigkeit"
der Pädagogik in Theorie und Praxis entgegengetreten werden: Pädagogische Theorie
und pädagogische Praxis dürfen sich nicht von Politik, Gesellschaft und Kultur isolieren.
Sie sind auf diese umfassenderen Zusammenhänge bezogen und müssen es bleiben. Denn
sie können die jungen Menschen nicht von der geschichtlichen Wirklichkeit fernhalten wollen,
sondern müssen die Aufwachsenden schrittweise zum Verstehen, zur Selbstbestimmung in
diesen Zusammenhängen, zur Mitgestaltung der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen
Entwicklung in eigener Verantwortung und nach eigenem Urteil zu befähigen versuchen.
Relative Autonomie oder Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis meint also
nicht Loslösung von Politik, Gesellschaft, Kultur, sondern eine spezifische Form der
selbstverantwortlichen Bezogenheit auf diese umgreifenden Zusammenhänge.
3. Damit hängt nun unmittelbar ein drittes Prinzip zusammen, das für mein Konzept
charakteristisch ist: Innerhalb der pädagogisch-philosophischen Denktradition gibt es im
Anschluß an die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts einen Traditionsstrang, der
sich um den Begriff "Bildung" konzentriert. Es ist jener Denkzusammenhang, der etwa zwischen
1770 und 1830/1840 vor allem im deutschsprachigen Raum, aber - und das ist mir besonders wichtig
- mit einem weltweiten Horizont in verschiedenen Varianten entfaltet worden ist: von Lessing,
Herder und Kant über Pestalozzi, Goethe, Schiller, Humboldt, Herbart,
Schleiermacher, Fröbel und Diesterweg bis zu Hegel . [3] Das Grundprinzip des hier
entwickelten Bildungsbegriffs ist in Immanuel Kants großartiger Formel vom möglichen
"Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" umschrieben worden.
Dieses Heraustreten aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" sei, so Kant, mit dem
Anbruch der Neuzeit immer deutlicher als individuelle und gesellschaftliche Aufgabe der Menschen
erkennbar geworden.
Nun zeigt jener bildungstheoretische Denkzusammenhang im einzelnen verschiedene Varianten, er
weist auch manche Widersprüche und deutliche historische Grenzen auf. Aber darauf kann ich
an dieser Stelle nicht genauer eingehen. Ich hebe nur hervor, daß einige der Kerngedanken der
bildungstheoretischen Ansätze jener Zeit unter anderem vom jungen Marx aufgenommen
und gesellschaftskritisch weitergedacht worden sind. Später haben Teilelemente jener
bildungstheoretischen Ansätze in manchen liberalen und demokratisch-sozialistischen pädagogischen Programmen weitergewirkt, in unserem
Jahrhundert auch innerhalb der Reformpädagogik und nicht zuletzt auch in der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Diese Hinweise muß man
allerdings durch einen weiteren ergänzen: Neben solchen bemerkenswerten Versuchen der
Anknüpfung an eine große Tradition gibt es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch
starke Gegenbewegungen und eine Geschichte des Verfalls, der Verdrängung und der
Verkehrung der progressiven Bildungstheorien. Und diese Gegenbewegung hat sich faktisch in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis weit in unser Jahrhundert hinein in
größerem Umfang durchgesetzt als die vorher erwähnten
Anknüpfungsversuche.
Für die Entwicklung meines Konzepts sind nun im Zusammenhang der Wiederbesinnung auf
die großen klassischen Traditionen der Bildungstheorie auch einige Anregungen wichtig
geworden, die ich bildungstheoretischen Beiträgen aus dem Kreis der sogenannten
"Kritischen Theorie" verdanke, d. h. der Sozialphilosophie Theodor W. Adornos, Max
Horkheimers und Jürgen Habermas' sowie einigen von dieser "Kritischen Theorie"
beeinflußten Erziehungswissenschaftlern, so vor allem Heinz Joachim Heydorn,
Herwig Blankertz und Klaus Mollenhauer. [4]
Damit habe ich in aller Kürze die theoriegeschichtlichen Wurzeln gekennzeichnet, die mich zu
dem Versuch einer Neufassung des Bildungsbegriffs im Hinblick auf unsere Gegenwart und die
voraussehbare Zukunft geführt haben. Dabei meine ich, daß dieser Bildungsbegriff nicht
an die spezifischen Bedingungen der europäischen Geistesgeschichte und, noch enger, der
deutschen Geistesgeschichte gebunden ist, aus denen heraus seine Anfänge entsprungen
sind.
Bildung muß heute, so meine ich, als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter
Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten verstanden werden:
- Erstens als Fähigkeit zur Selbstbestimmung jedes einzelnen über seine
individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher,
ethischer, religiöser Art;
- zweitens als Mitbestimmungsfähigkeit; denn jeder Mensch hat Anspruch,
Möglichkeit und Mitverantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen
kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse;
- drittens als Solidaritätsfähigkeit: denn der eigene Anspruch auf Selbst-
und Mitbestimmung kann nur gerechtfertigt werden, wenn er nicht nur mit der Anerkennung,
sondern mit dem Einsatz für diejenigen und dem Zusammenschluß mit
denjenigen verbunden ist, denen eben solche Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten
vorenthalten oder begrenzt werden, sei es durch gesellschaftlichpolitische Verhältnisse,
durch wirtschaftliche Unterprivilegierung, durch politische Einschränkung oder
Unterdrückungen.
4. Hier schließt das vierte Prinzip an. Mit dem vorher umrissenen Bildungsbegriff ist das
generelle Prinzip des Erkenntnis- und Handlungsinteresses
kritisch-konstrukutiver Erziehungswissenschaft benannt: Erziehungspraktiken
und pädagogische Theorien bzw. erziehungswissenschaftliche Entwürfe werden unter
dem Kriterium beurteilt, was sie zur Entwicklung der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und
Solidaritätsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen, aber auch erwachsener Menschen, die
Weiterbildung benötigen oder anstreben, beitragen können. Dazu gehört nicht
zuletzt die Aufklärung der Hindernisse so verstandener Erziehungs- bzw. Bildungsarbeit,
insbesondere auch der Hemmnisse, die in gesellschaftlichen Bedingungen liegen. Darauf zielt die
Bestimmung "kritisch" im Sinne von "gesellschaftskritisch".
Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft orientiert ihre Forschungsfragen und ihre
Bemühungen um Theoriebildung also an diesen Leitlinien. Sie will in Kooperation mit der
Praxis zur Entwicklung humaner und demokratischer Erziehung beitragen. Auf dieses Gestaltungs-
und Veränderungsinteresse weist die Kennzeichnung "konstruktiv" hin, im Unterschied
zu einer bloß deskriptiven oder analytischen Erkenntnisintention. - Die Einsicht in die
wechselseitige Bedingtheit von Erziehung zur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und
Solidaritätsfähigkeit einerseits und der Entwicklung einer demokratischen und humanen
Gesellschaft andererseits muß eine so verstandene Erziehungswissenschaft unausweichlich
dazu führen, ihre kritische Intention immer auch gesellschaftskritisch wahrzunehmen.
Sie muß also in pädagogischer Sicht alle Gesellschaften, die eigene, aber auch
alternative, z. B. sogenannte sozialistische Gesellschaften daraufhin befragen, ob in ihnen wirklich,
nicht nur der jeweils herrschenden Selbstdeutung nach, Erziehung zur Selbstbestimmungs-,
Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit geschieht oder mindestens möglich
ist.
5. Das fünfte Prinzip knüpft an das zuerst genannte an, das den wechselseitigen Bezug
zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis im Konzept der kritisch-
konstruktiven Erziehungswissenschaft betonte. Aus den vorangehenden Thesen folgt konsequent,
daß die Theorie-Praxis-Beziehung als ein Verhältnis
gleichberechtigter Partner verstanden werden muß.
Das bedeutet: Einerseits kann die Theorie bzw. die Erziehungswissenschaft keinen Anspruch auf
Dominanz gegenüber der Praxis beanspruchen. Sie würde sich dadurch in Widerspruch
zu einem ihrer Leitprinzipien setzen, nämlich zum Selbstbestimmungs- und
Mitbestimmungsgedanken. Die pädagogischen Praktiker, d. h. die Eltern, die
Kindergärtnerinnen, die Lehrer, die Sozialpädagogen, die Erwachsenenbildner usw. sind
sowenig wie die jungen Menschen und bildungswillige Erwachsene, um die es letztlich geht,
bloß "ausführende Organe" der Theorie. Anders formuliert: Zwischen Theorie und Praxis
besteht kein technologisches Verhältnis. Die pädagogische Theorie kann und darf der
Praxis keine Techniken (im strengeren Sinne dieses Wortes) und kein technologisch anwendbares
Wissen liefern. Denn sie kann der Praxis deren eigene Verantwortung nicht abnehmen wollen.
Aussagen der Theorie, die notwendigerweise einen verallgemeinernden Charakter haben,
müssen vielmehr im jeweiligen Praxisfeld und im Einzelfall von den Praktikern
selbstverantwortlich auf die gegebene Situation, auf die individuellen Kinder oder Jugendlichen oder
Erwachsenen hin konkretisiert werden. Und weiterhin: Die pädagogische Praxis kann auch aus
folgendem Grunde kein bloß ausführendes Organ der Theorie sein: Wenn die Theorie
wirklich eine Theorie für die Praxis sein will, dann muß die Praxis immer wieder an der
Formulierung der Fragestellungen, der Probleme beteiligt werden, die die Theorie in ihrer Forschung
untersucht.
Aber es gilt auch das Umgekehrte: Es gibt keinen prinzipiellen Vorrang der Praxis vor der Theorie,
wie die meisten Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik programmatisch behauptet
haben. Die Theorie ist der Praxis nicht generell nachgeordnet, sie dient auch nicht nur der
Aufklärung der immer schon vorausgehenden Praxis. Theorie kann der Praxis durchaus auch
in reformerischer Absicht vorgreifen, z. B. neue Schulmodelle, neue Methoden, neue
sozialpädagogische Handlungskonzepte, neue pädagogische Institutionen entwerfen, sie
kann der Praxis also neue, noch nicht realisierte Möglichkeiten zeigen. Das ist ein wichtiger
Aspekt der Kennzeichnung meines Konzepts als "konstruktiver" Erziehungswissenschaft.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Theorie und Praxis sind im Verständnis kritisch-
konstruktiver Theorie zwei gleichwertige, wechselseitig aufeinander bezogene Instanzen.
B. Zur methodologischen Struktur kritisch-konstruktiver
Erziehungswissenschaft
Hier geht es um die methodologische Struktur kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft.
Meine Hauptthese lautet in dieser Hinsicht: Erziehungswissenschaft kann die Aufgaben, die ich im
vorangehenden Abschnitt beschrieben habe, nur erfüllen, wenn sie mindestens drei
methodische Grundansätze verfolgt und miteinander verbindet:
- den historisch-hermeneutischen Ansatz,
- den erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) Ansatz und
- den gesellschaftskritisch-ideologiekritischen Ansatz.
Auch hier betone ich mit Nachdruck: Diese drei Ansätze stehen im Sinne meines Konzepts
nicht additiv nebeneinander, sondern sie verweisen jeweils aufeinander; sie stehen in
einem notwendigen, forschungslogischen Zusammenhang. Da soll heißen: Die
Reflexion auf die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen jedes Ansatzes, auf seine spezifischen
Leistungen und seine Grenzen kann deutlich machen, daß jeder Ansatz durch die anderen
ergänzt werden muß. Denn jeder dieser Ansätze schließt Voraussetzungen
und Annahmen ein, deren Gültigkeit methodisch nur durch die jeweils anderen Ansätze
aufgeklärt bzw. überprüft werden kann.
Meine Position grenze ich also kritisch gegen zwei Auffassungen ab: Zum einen gegen einen
Methodenmonismus, der einen dieser Ansätze als den einzig fruchtbaren Weg zu
wissenschaftlicher Erkenntnis, in unserem Falle: zur erziehungswissenschaftlichen Erkenntnis
verabsolutiert; zum zweiten gegen einen formalen Methodenpluralismus, wie man ihn vielfach
in der Wissenschaftspraxis antrifft; er läßt die drei Grundansätze beziehungslos
nebeneinander stehen, fragt aber nicht nach ihren inneren Beziehungen.
Ich werde im folgenden die drei Ansätze kurz erläutern und meine Behauptungen
einlösen, daß sie in einem notwendigen Beziehungs- und
Ergänzungsverhältnis zueinander stehen.
Der historisch-hermeneutische Ansatz
Man muß die Aufklärung jenes Methoden-Zusammenhanges m. E. vom historisch-hermeneutischen Ansatz her beginnen. Denn Erziehung bezeichnet immer sinnhafte, m.
a. W. bedeutungshaltige Handlungen und Prozesse bzw. sinnorientierte
Institutionen, die solche Handlungen und Prozesse ermöglichen sollen. Und
pädagogische Auffassungen bzw. Theorien sind explizite Auslegungen pädagogischer
Sinngebungen bzw. Bedeutungszusammenhänge. Aber auch die durch erzieherische
Handlungen und Institutionen ausgelösten Re-Aktionen der zu Erziehenden bzw. der
erwachsenen Adressaten von pädagogischen Angeboten, etwa in der Erwachsenenbildung,
sind sinnhaltige, intentionale, d. h. zielorientierte Handlungen. Das
gilt sowohl dann, wenn solche Re-Aktionen den pädagogischen Zielsetzungen der
Erwachsenen entsprechen, als auch dann, wenn sie von ihnen abweichen oder ihnen zuwiderlaufen, z.
B., wenn junge Menschen sich den erzieherischen Einwirkungen ihrer Eltern oder ihrer Lehrer zu
entziehen versuchen, wenn sie ihnen widersprechen oder wenn sie etwa erklären oder indirekt
deutlich machen, daß sie in bestimmten Anforderungen oder Angeboten der Schule keinen Sinn
zu finden vermögen.
Alle pädagogischen Sinngebungen und die durch sie ausgelösten Re-Aktionen der zu
erziehenden bzw. erwachsenen Adressaten stehen zum einen in umfassenderen
erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen, zum anderen in
darüber hinausreichenden geschichtlich-gesellschaftlichen
Kontexten. Zugleich sind solche historisch-gesellschaftlich vermittelten Sinngebungen aber auf die
Zukunft bezogen, auf vermutete oder angestrebte zukünftige Geschichte, auf jene
Lebenssituationen, Aufgaben und Möglichkeiten, mit denen Kinder, Jugendliche oder als
lernfähig und lernbedürftig angesprochene Erwachsene sich vermutlich einmal werden
auseinandersetzen müssen oder auf die sie selbst bereits in ihren eigenen Vorstellungen
vorausgreifen. Auf dieses eben umrissene Gefüge von geschichtshaltigen
Sinn-Setzungen und Sinn-Zusammenhängen, in dem sich innerhalb
umgreifender gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse Erziehung als ein besonderer
Komplex von menschlichen Handlungen und Institutionen und auf sie gerichteter Vorstellungen bez.
"Theorien" vollzieht, richtet sich der historisch-hermeneutische Ansatz. "Hermeneutik"
bezeichnet hier also alle Bemühungen, Sinn- bzw. Bedeutungszusammenhänge mit
wissenschaftlichen Methoden, d. h. intersubjektiv überprüfbar und intersubjektiv
diskutierbar zu erfassen. Der Begriff "Hermeneutik" geht auf das griechische Wort "hermeneuein"
zurück; das Wort meint: nach dem Sinn, nach der Bedeutung einer Aussage, einer Handlung,
einer Theorie, eines Textes zu suchen.
Auf methodische Detailfragen der Hermeneutik kann ich hier nicht eingehen. Ich muß aber
kurz vier wichtige Aspekte, m. a. W.: Differenzierungen der historisch-hermeneutischen Perspektive
skizzieren:
Erstens gilt es nach wie vor, jene Aufgabe weiterzuverfolgen, auf die sich in
Deutschland vor allem die Geisteswissenschaftliche Pädagogik konzentriert hatte,
nämlich darauf, die Geschichte des pädagogischen Denkens, der
pädagogischen Ideen und "Erfindungen" immer erneut aufzuarbeiten, um die im
gegenwärtigen pädagogischen Denken und in der gegenwärtigen
Erziehungswirklichkeit steckende Geschichte bewußtzumachen, aber auch, um die Grenzen
dieses Erbes, das in der jeweils gegenwärtigen pädagogischen Praxis und Theorie
nachwirkt, zu erkennen und damit ggf. den Blick für neuartige, gegenwärtige und
zukünftige Aufgaben freizumachen.
Zweitens:Geschichte der Pädagogik kann nicht auf die Geschichte der
pädagogischen Ideen und Theorien bzw. Vorstellungen begrenzt werden, sondern diese Ideen,
Theorien, Vorstellungen müssen auf die Realgeschichte der Erziehung und der
Erziehungsinstitutionen, also der Familien, Schulen, Erziehungsheime, der beruflichen
Lehrlingsausbildung usf. bezogen und damit konfrontiert werden. Es muß also nach
wechselseitigen Einflüssen, Entsprechungen oder auch Brüchen zwischen den Ideen,
Vorstellungen, Theorien und der jeweiligen Realität gefragt werden. Beide Aspekte aber,
sowohl die Ideen- bzw. Theoriegeschichte als auch die Real- bzw. Institutionengeschichte
müssen gesellschaftsgeschichtlich betrieben werden; d. h. ihre Beziehungen zu
umgreifenden kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Zusammenhängen
müssen erforscht werden.
Drittens:Pädagogisch-hermeneutische Forschung richtet sich nicht nur auf
Texte und Dokumente und nicht nur auf die geschichtliche Perspektive, sondern auch auf die
Sinnzusammenhänge der jeweils aktuellen
Erziehungswirklichkeit, die sich nicht oder nicht nur in Texten und Dokumenten
niederschlagen, sondern in konkreten pädagogischen Interaktionen, Handlungen, sinnlich
vermittelten Ausdrucksformen wie dem Tanzen, der Mimik, der Gestik oder in Phänomenen
wie etwa der pädagogisch relevanten Atmosphäre einer Familie, eines Kindergartens,
einer Volkshochschul-Arbeitsgemeinschaft usf. - Die Entwicklung einer entsprechenden
Hermeneutik der aktuellen Erziehungswirklichkeit ist zwar schon früher
gefordert worden, aber die Entwicklung entsprechender Forschungen und dafür geeigneter
Methoden ist erst seit etwa zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik intensiver in Gang gekommen.
Hier hat die jüngere Kommunikationsforschung, die phänomenologische Soziologie und
der "Symbolische Interaktionismus" viele Anregungen vermittelt. [5] Ich nenne einige Beispiele für solche Forschungen: Untersuchungen
zur Lehrersprache oder zur Schülersprache bzw. über unterrichtliche Kommunikation
oder nichtverbale Kommunikationsformen. - Ermittlung und Deutung pädagogisch
bedeutsamer, gegenständlicher und sozialer Sinnsetzungen und Sinnbeziehungen von Kindern
oder Jugendlichen in bestimmten "Lebenswelten", vor allem in ihrem außerschulischen und
außerbetrieblichen Leben bzw. in jugendlichen Subkulturen, insbesondere mit Hilfe
teilnehmender Beobachtung. - Interviewstudien mit qualitativer Interpretation der so gewonnenen
Aussagen von Eltern, Kindern, Jugendlichen, Studierenden, Lehrern, Sozialpädagogen,
Erwachsenenbildungs-Dozenten, Volkshochschulteilnehmern usf., unter anderem auch durch
Gruppengespräche. - Untersuchung der Bedeutungen, die in sinnlich vermittelten
Ausdrucksformen von Kindern und Jugendlichen stecken, etwa ihrer Kleidung, der von ihnen
bevorzugten Musik, ihrer Gestik, des Tanzes usw.
Viertens:Gerade eine Erziehungswissenschaft, die an der Frage nach
Möglichkeiten und Behinderungen der Entwicklung der Selbstbestimmungs-,
Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit orientiert ist, wird schließlich
biographische Untersuchungen als eine weitere Variante historischer und aktuell-hermeneutischer Forschung fördern. Wir müssen Erkenntnisse darüber gewinnen,
wie sich z. B. die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit, von Kritikfähigkeit,
Selbstvertrauen usf. oder der gegenläufigen Einstellungen und Dispositionen -
Unselbständigkeit, Fixierung auf Autoritäten, soziale Beziehungsschwierigkeiten usf. -
im Entwicklungsprozeß bestimmter Individuen vollziehen, in jenem von der frühesten
Kindheit an beginnenden Prozeß von Aneignungen und Auseinandersetzungen des sich
entwickelnden Individuums im Einflußbereich seiner familiären und darüber
hinausgehender sozialer Beziehungen, pädagogisch gemeinter Einwirkungen und umfassender
gesellschaftlicher Einflüsse. [6]
Der empirische (erfahrungswissenschaftliche) Ansatz
In den vorangehenden Ausführungen zum hermeneutischen Ansatz ist bereits auf
Zusammenhänge mit dem empirischen Ansatz hingewiesen worden. Diesem Problem
der empirischen Forschung im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft wende ich
mich jetzt zu.
Zunächst erinnere ich noch einmal an die zugrundeliegende Kernthese: Eine konsequente
Reflexion auf die Leistungsfähigkeit, die Grenzen und die Implikationen der in der historisch-
hermeneutischen Perspektive zu gewinnenden erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse führt
unausweichlich auf die Notwendigkeit der Ergänzung durch empirische Forschung. Ich deute
es wieder in Beispielen an: In jeder Lehrplanentscheidung, in jeder Empfehlung, bestimmte
Methoden in der Kindergartenerziehung oder in der Schule einzusetzen, in jeder Aussage über
Aufgaben z. B. des Fremdsprachenunterrichts oder des naturwissenschaftlichen Unterrichts, in jeder
Diskussion über pädagogisch sinnvolle, wirkungsvolle Institutionen und Formen des
Jugendstrafvollzugs oder der Bekämpfung der Drogenabhängigkeit usf. stecken
Annahmen empirischer Art, also etwa Annahmen über die vorhandene oder nichtvorhandene
Ansprechbarkeit, die Motivation oder die Motivierbarkeit der betreffenden jungen Menschen,
über ihre Leistungsmöglichkeiten, über die Effektivität bestimmter
Methoden, über tatsächlich vorhandene oder notwendige pädagogische
Einstellungen und Fähigkeiten der erziehenden Personen usf. Die Haltbarkeit oder
Nichthaltbarkeit solcher Annahmen über reale oder realisierbare
Wirkungszusammenhänge, Beziehungen, sogenannte "Gesetzmäßigkeiten" oder
mindestens statistische Regelmäßigkeiten muß erforscht werden, und das ist nur
mit Hilfe erfahrungswissenschaftlicher, empirischer Methoden möglich.
Auch in dieser Hinsicht kann es nicht darum gehen, die z. T. komplizierten Detailfragen der
generellen Methodik und spezieller Methoden der empirischen Forschung hier zu diskutieren. In
meinem Zusammenhang kommt es darauf an, die Zentralthese vom notwendigen Methodenverbund
nun auch von der anderen Seite her, vom empirischen Ansatz im Bezug zum historisch-
hermeneutischen Ansatz, zu belegen.
Ich nehme also die Kernthese vom Methodenverbund noch einmal auf, nun zugespitzt auf empirische
Forschung: Empirie ist einerseits auch im Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft
unverzichtbar. Andererseits bleibt sie ein "halbierter Rationalismus", wenn sie erstens
die in die erfahrungswissenschaftliche Forschung selbst immer schon eingegangenen
Bedeutungs-Setzungen, zweitens die Sinnbezüge ihrer
Forschungsgegenstände und drittens die möglichen Konsequenzen ihrer
Forschungsverfahren und Forschungsresultate ausblendet, m. a. W.: sofern sie die Notwendigkeit der
Kooperation mit historisch-hermeneutischer (und, um hier schon vorwegzugreifen, mit
gesellschaftskritisch-ideologiekritischer) Forschung verkennt. Und dies ist nun leider in der Praxis
empirischer Forschung nicht selten der Fall.
Ich habe eben bereits die drei Dimensionen, in denen die Verflechtung von empirischen und
historisch-hermeneutischen Methoden nachweisbar notwendig ist, angesprochen. Diese drei
Dimensionen kommentiere ich jeweils kurz.
Zunächst: In die Fragen, Hypothesen oder Hypothesenzusammenhänge,
m. a. W.: Theorien, die in der Einleitungsphase jeder empirischen Untersuchung formuliert und
operationalisiert werden, gehen immer schon Vorbedingungen und Annahmen mit
erziehungsgeschichtlichem bzw. gesellschaftsgeschichtlichem Hintergrund ein, nämlich
pädagogische Meinungen, ggf. scheinbare Selbstverständlichkeiten, pädagogische
Zielvorstellungen oder die Kritik daran, historisch überkommene Begriffe usw. Das gilt
für jede Unterrichtsbeobachtungsstudie ebenso wie für eine Teilnehmerbefragung von
Besuchern einer Erwachsenenbildungsveranstaltung nach ihren Interessen, das gilt für jede
Untersuchung des Erziehungsstils in Kindergärten, es gilt für jede
Längsschnittstudie über die Entwicklung dissozialer bzw. kriminell gewordener
Jugendlicher oder für jede Verlaufsanalyse über bestimmte Aspekte eines Schulversuchs
usw. Wer etwa bei einer empirischen Vergleichsuntersuchung über die Leistungsentwicklung
von Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Schulen nicht kritisch danach fragt, ob
in den Leistungsbegriff, den er zugrundelegt, vielleicht überkommene, gesellschaftlich
problematische oder pädagogisch bereits in Frage gestellte tradierte Vorstellungen von
"Leistung" eingehen, der betreibt seine Forschung mit "halbierter Rationalität". Und das
gleiche gilt, wo es z. B. um eine empirische Untersuchung über Jugendkriminalität geht,
wenn sich der oder die betr. Forscher nicht die Sinnbestimmungen klar machen, die in ihren Begriff
von "Kriminalität" eingehen.
Nun zum zweiten Aspekt: Nicht nur in den Fragestellungen und
Grundbegriffen empirisch-pädagogischer Forschung stecken historisch-hermeneutisch
aufzuklärende Voraussetzungen. Auch die "Gegenstände" dieser Forschung sind
selbst sinnhafte, bedeutungshaltige Phänomene, nicht bloße Gegebenheiten im Sinne von
Naturfakten. Das gilt für alle Handlungen, Beziehungen, Institutionen, Vorgänge,
Bedingungen, die empirisch-pädagogische Forschung mit Hilfe von Beobachtungen,
Befragungen, Interviews, Experimenten u. ä. untersucht. - Wenn das richtig ist, so folgt
daraus: Empirisch-pädagogische Forschung muß bei der Gestaltung ihrer
Untersuchungsverfahren dieser Sinnhaltigkeit ihrer
Forschungsgegenstände gerecht werden. Sie muß z. B. die
Untersuchungseinheiten, die sie beobachtet, etwa in der Unterrichtsforschung, als
Sinneinheiten definieren, darf also nicht die Sinnschwelle unterschreiten. Was aber sind z. B.
bei einer Unterrichtsbeobachtungsstudie, die sich auf die Lehrer-Schüler-Interaktion bezieht,
Sinn-Einheiten? Sind es einzelne Lehrer- und Schüleräußerungen, für die
man vorweg Kategorien formuliert, deren Summen man dann auszählt und miteinander
vergleicht? Oder muß man größere Einheiten und dafür geeignete Methoden
der Registrierung entwickeln? Solche Fragen sind primär nicht empirisch zu beantworten,
sondern es sind hermeneutische Fragen.
Schließlich zum dritten Aspekt: Daß empirisch-pädagogische
Forschung in ihrer Abschlußphase, bei der Formulierung der Ergebnisse, fast immer in
Folgerungen ausmündet, die über die bloße Registrierung von Fakten und
Korrelationen hinausgehen, deutet sich schon darin an, daß diese Abschlußphase meistens
als "Interpretation der Resultate" bezeichnet wird. Zum Beispiel werden hier die
gewonnenen Befunde, die notwendigerweise immer in eingegrenzter Frageperspektive gewonnen
wurden, auf umfassendere Wirklichkeits- oder Theoriezusammenhänge
zurückbezogen, aus denen jene eingegrenzten Fragestellungen zunächst methodisch
herausgelöst werden mußten. Oder es werden Folgerungen im Hinblick auf eine Nutzung
der Ergebnisse in der pädagogischen Praxis formuliert. M. a. W.: Man befragt die Resultate
auf ihre mögliche Bedeutung in bestimmten theoretischen oder praktischen Sinn- bzw.
Handlungszusammenhängen. Das aber heißt, auf den methodologischen Begriff
gebracht, einmal mehr nichts anderes als: Man verfährt im Prinzip historisch-hermeneutisch,
und man muß es tun.
Der gesellschaftskritisch-ideologiekritische Ansatz
Ich komme nun zum letzten, dem dritten methodischen Grundansatz, den ich als konstitutiv für
das methodische Problem kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft benannte: zum
gesellschaftskritisch-ideologiekritischen Ansatz. Schon bei der Erörterung des historisch-
hermeneutischen und des empirischen Ansatzes und ihrer wechselseitigen Beziehungen habe ich
mehrfach den Sachverhalt angesprochen, daß Erziehungsprobleme in vielfältiger Weise
mit umgreifenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen und
Prozessen verbunden sind; abkürzend nenne ich diesen Zusammenhang hier
"gesamtgesellschaftlich". Der heutige Stand des Problembewußtseins, an dessen Entwicklung
die kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft beteiligt war, ist zweifellos nur durch die
Auseinandersetzung mit jüngeren politisch-ökonomischen bzw. kritisch-
gesellschaftswissenschaftlichen Analysen erziehungswissenschaftlich relevanter Fragen seit der Mitte
der 60er Jahre möglich geworden. Und zwar handelt es sich hier um einen internationalen
Forschungszusammenhang. - Dieser gegenwärtige Problemstand läßt sich als ein
Komplex differenzierter Fragestellungen kennzeichnen, durch die es möglich erscheint und z.
T. bereits gelungen ist, zum einen für frühere erziehungsgeschichtliche
Perioden, zum anderen für die Gegenwart die meistens vielschichtigen und oft
widersprüchlichen, überdies sich wandelnden Beziehungen und
Kräfteverhältnisse aufzuschlüsseln, die zwischen ökonomischen,
sozialstrukturellen, demographischen, kulturellen, politischen Kräften, Strukturen und
Prozessen einerseits und den Entwicklungen und Verhältnissen im Bereich der
Erziehungspraxis und der Erziehungstheorie andererseits bestehen. Ich erinnere hier nur an die vielen
Untersuchungen und Diskussionen zum Problem der Chancengleichheit bzw. Chancenungleichheit im
Bildungssystem verschiedener Gesellschaften.
Die Kennzeichnung dieses dritten Grundansatzes als "gesellschaftskritisch-ideologiekritsch" weist auf
die beiden Hauptaspekte hin: Zum einen geht es um eine Analyse von ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedingungen pädagogischer Praktiken,
Institutionen, Entscheidungen, Prozesse, zum anderen um die Ideologiekritik des
pädagogischen Bewußtseins. Ideologiekritik setzt dabei
ökonomisch-gesellschaftlich-politische Bedingungsanalysen in irgendeinem Grade immer
voraus.
Was mit ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedingungsanalysen im Hinblick auf
pädagogische Phänomene gemeint ist, verdeutlichte ich durch einige konkretisierende
Fragen: Welche ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Bedingungen, Interessen,
Kräfteverhältnisse sind im Berufsbildungssystem eines bestimmten Landes wirksam? -
Oder: Welche politischen und gesellschaftlichen Gruppen nehmen auf die Zielsetzungen und die
Inhalte der Erziehung in den Bildungsinstitutionen eines Landes Einfluß? - Oder: Wie verteilen
sich die Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen sozialen Schichten auf die
verschiedenen Schularten? Wieviel Kinder von Eltern der Arbeiterschicht erreichen z. B. eine
höhere Schulausbildung oder die Hochschulzulassung? - Wie kommen eigentlich
Entscheidungen über die Höhe des Kindergeldes für Familien oder über die
Finanzierung bestimmter Schularten oder über die Richtwerte zulässiger
Klassenstärken in den Schulen zustande usw. usf.?
Den zweiten Aspekt des jetzt erörterten methodischen Grundansatzes habe ich als
"ideologiekritisch" bezeichnet. Den Begriff "Ideologie" meine ich dabei in der
engeren und strengeren Bedeutungsvariante dieses Begriffes. [7] Er meint ein Bewußtsein über gesellschaftliche
Tatbestände und Vorgänge, das wissenschaftlich als falsch erwiesen werden kann und
das bestehende gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse direkt oder
indirekt stabilisiert, scheinbar rechtfertigt und damit der Kritik und der möglichen
Veränderung entzieht. Es leuchtet unmittelbar ein, daß für eine
Erziehungswissenschaft, die am Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsprinzip
orientiert ist, erziehungswissenschaftliche Ideologiekritik unverzichtbar ist.
Ich verdeutliche die Begriffe "Ideologie" und "Ideologiekritik" an einem Beispiel, von dem ich
weiß, daß es für ihre Situation in Japan wie auch für unsere Situation in
Deutschland, aber darüber hinaus für viele weitere Länder und Kulturen akute
Bedeutung hat: Die Ungleichheit der Bildungschancen und der Berufschancen für
Mädchen und Jungen wird auch heute noch häufig folgendermaßen
begründet: Im allgemeinen seien die Mädchen eben "von Natur aus" intellektuell
weniger begabt, also z. B. weniger geeignet für wissenschaftliche Ausbildungswege und
entsprechende, spätere Berufe, insbesondere für Naturwissenschaften und Technik, und
deshalb seien sie ja auch weniger an diesen Bereichen interessiert; aber sie seien auch weniger
politisch begabt und daher weniger interessiert an politischen Problemen, und das sähe man ja
auch daran, daß viel weniger Frauen als Männer in entsprechenden Berufen bzw. in der
Politik tätig seien. - Hier liegt ein Musterbeispiel für Ideologie vor, für
gesellschaftlich bedingtes und folgenreiches falsches
Bewußtsein. Denn eine vollständig oder in hohem Maße in der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung begründete
Ungleichheit wird ohne genaue Prüfung als eine naturgegebene
Unterschiedlichkeit betrachtet! Diese tatsächlich gegebene Ungleichheit erscheint
damit als gerechtfertigt. Ungleichheit wird aber damit stabilisiert, weil die Frage nach ihren
historisch-gesellschaftlichen Ursachen ausgeblendet wird. - Wer diesen Zusammenhang aber
aufklärt und die gesellschaftlichen Bedingungen erforscht, durch die solche Vorstellungen im
Bewußtsein vieler Menschen zustande kommen, der betreibt Ideologiekritik.
III. Abschluß
In diesem Beitrag konnte ich nur die Grundlinien des Konzepts einer kritisch-konstruktiven
Erziehungswissenschaft darstellen. Beispiele sind nur angedeutet worden. Auch die
Übertragung dieses allgemein-erziehungswissenschaftlichen Entwurfs auf Teilbereiche der
Pädagogik konnte nicht ausführlicher zur Sprache kommen . [8] Solche Übertragungen auf bestimmte Arbeitsbereiche der
Erziehungswissenschaft habe ich in mehreren Veröffentlichungen, vor allem für die
Didaktik als Theorie des Unterrichts und für die Schultheorie, versucht.
[Zur Eingangsseite "Wolfgang Klafki: Erziehung - Humanität - Demokratie ..."]
Anmerkungen
[1] ) Vgl. dazu meinen Sammelband "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", Weinheim 1976 und die teilweise geänderte, um den
Anhang der deutschen Fassung gekürzte japanische Version dieses Buches, Tokyo 1984, bes.
die erste Abhandlung "Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik -
Empirie - Ideologiekritik". - Ergänzend weise ich auf zwei weitere meiner Publikationen hin:
Thesen und Argumentationsansätze zum Selbstverständnis kritisch-konstruktiver
Erziehungswissenschaft. In: E. König / P. Zedler (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche
Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme. Paderborn/München 1982, S. 15 - 52. -
Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft. In: R. Winkel (Hrsg.): Deutsche Pädagogen der
Gegenwart. Düsseldorf 1984, S. 137 - 162.
[Zurück zum Text]
[2] ) Vgl. die Abhandlung "Die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik - Leistung, Grenzen, kritische Transformation" in diesem Band.
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[3] ) Vgl. dazu meine Abhandlung "Die Bedeutung der
klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung".
In: Zeitschrift für Pädagogik 1986, S. 455 - 476, jetzt in der erweiterten Auflage meines
Buches "Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 2. Aufl. Weinheim 1991, 4. Aufl.
1994.
[Zurück zum Text]
[4] ) Vgl. die entsprechenden Literaturangaben in der
Abhandlung "Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie" in dem in Anm. 1) genannten
Sammelband "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", japanische Ausgabe, Tokyo
1984, Anmerkungen 1) und 51).
[Zurück zum Text]
[5] ) Vgl. K Mollenhauer: Theorien zum
Erziehungsprozeß. München 1972. - D. Baacke: Kommunikation und Kompetenz.
Grundlagen einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. 2. Aufl. München 1975. -
W. Lippitz: "Lebenswelt" oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze
eines phänomenologisch begründeten anthropologischen und sozialwissenschaftlichen
Denkens in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 1980. - M. Brumlik: Symbolischer
Interaktionismus. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1, hrsg. von D. Lenzen und
K. Mollenhauer, Stuttgart 1983, S. 232 - 245.
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[6] ) Vgl. als Beispiel aus dem Bereich
zeitgeschichtlicher Kindheits- und Jugendforschung meinen Beitrag über "Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus in autobiographischer Sicht" in diesem Band.
[Zurück zum Text]
[7] ) Vgl. dazu den Aufsatz "Ideologiekritik" in dem in
Anm. 1) genannten Band "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", japanische
Ausgabe Tokyo 1984.
[Zurück zum Text]
[8] ) Vgl. W. Klafki "Grundlinien kritisch-konstruktiver
Didaktik" und "Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik", beide
Abhandlungen in meinen "Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 2. erw. Aufl. Weinheim
1991, 4. Aufl. 1994, - Beide Arbeiten werden außerdem in einem Sammelband von
Aufsätzen in japanischer Übersetzung erscheinen, den die Kollegen Prof. Hayashi, Prof.
Takahashi und Dozent Sakurai z. Zt. vorbereiten. - Zur Schultheorie vgl. meinen Beitrag "Kriterien einer guten Schule" im vorliegenden Band.
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