Evaluation der modifizierten strukturierten Notrufabfrage bei akutem Thoraxschmerz im Rahmen des Projekts „Telemedizin im Rettungsdienst in Mittelhessen“

HINTERGRUND Im deutschen Rettungsdienstsystem lässt sich in den vergangenen Jahren ein zunehmender Personalmangel bei steigenden Einsatzzahlen beobachten. Um auch zukünftig ausreichend notärztlich besetzte Rettungsmittel für kritische Not-fälle vorhalten zu können, müssen nicht dringend indizierte...

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Main Author: Stadtbäumer, Ben
Contributors: Timmermann, Lars (Prof.) (Thesis advisor), Humburg, Dennis
Format: Doctoral Thesis
Language:German
Published: Philipps-Universität Marburg 2024
Subjects:
Online Access:PDF Full Text
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Description
Summary:HINTERGRUND Im deutschen Rettungsdienstsystem lässt sich in den vergangenen Jahren ein zunehmender Personalmangel bei steigenden Einsatzzahlen beobachten. Um auch zukünftig ausreichend notärztlich besetzte Rettungsmittel für kritische Not-fälle vorhalten zu können, müssen nicht dringend indizierte Notarzteinsätze re-duziert werden. Um dies zu erreichen, wurde von der „Arbeitsgemeinschaft Tele-medizin im Rettungsdienst Mittelhessen“ eine modifizierte standardisierte Notruf-abfrage „Brustschmerz“ vorgestellt, die das häufige Meldebild „Akutes Koronar-syndrom“ bereits durch die Leitstelle in stabile (ACS 1) und vital bedrohte Pati-ent*innen (ACS 2) einteilen soll. Bei ausreichender Sicherheit dieser Abfrage könnten die stabilen Patient*innen von Rettungsfachpersonal mit telenotärztli-cher Unterstützung versorgt werden und die knappen notärztlichen Ressourcen stünden für kritische Einsätze zur Verfügung. Diese Studie evaluiert die modifi-zierte standardisierte Notrufabfrage „Brustschmerz“ aus der Zentralen Leitstelle des Landkreises Marburg-Biedenkopf hinsichtlich ihrer Präzision in der Einteilung von Patient*innen mit Akutem Koronarsyndrom in stabil vs. kritisch im Vergleich mit dem präklinischen Erscheinungsbild. METHODEN Im Zeitraum von Januar bis August 2021 wurden Daten von Rettungsdienstein-sätzen im Landkreis Marburg-Biedenkopf mit dem Meldebild „Akutes Koronar-syndrom“ erhoben, die zuvor von der Leitstelle anhand der modifizierten standar-disierten Notrufabfrage „Brustschmerz“ in die Gruppen ACS 1 (= stabil) und ACS 2 (= kritisch) klassifiziert wurden. Beide Gruppen wurden hinsichtlich Altersstruk-tur, Geschlechterverteilung und Vitalparametern verglichen. Der präklinische Zu-stand wurde mittels eines für die Studie entwickelten Scoresystems auf einer Skala von 0 - 20 Punkten eingeschätzt und ein Cut-Off-Wert für einen kritischen Zustand auf ≥3 festgelegt. Sensitivität und Spezifität der Notrufabfrage wurden im Vergleich zur Einteilung durch den Score ausgewertet. ERGEBNISSE Von insgesamt 635 Fällen mit dem Meldebild „ACS“ konnten 595 Datensätze ausgewertet werden (93,7%). Die Gruppe ACS 1 war mit n=101 Personen deut-lich kleiner als die Gruppe ACS 2 (n=494). Im Vergleich von Altersstruktur und Geschlechterverteilung zwischen den beiden Gruppen konnten keine statistisch signifikanten Unterschiede festgestellt werden, ebenso in den Durchschnittswer-ten der erhobenen Vitalparameter. In 88% der Fälle wurden vital bedrohte Pati-ent*innen auch als solche erkannt (Sensitivität), die Spezifität der Notrufabfrage lag hingegen bei 18,7%. DISKUSSION In der hier vorgestellten Studie wurde erstmals eine modifizierte standardisierte Notrufabfrage zum Meldebild „Akutes Koronarsyndrom“ evaluiert und hinsichtlich einer Voraussage des präklinischen Zustandes der Patient*innen ausgewertet. Mit 17% der Einsätze, die als stabil (ACS 1) zugeordnet wurden, könnte nach Implementierung eines Telenotarztsystems etwa jeder sechste Notarzteinsatz zu diesem Meldebild zugunsten von kritischeren Einsätzen vermieden werden. Die Sensitivität von 88% und Spezifität von 18,7% sprechen für eine Notrufabfrage, die auf eine möglichst hohe Patient*innensicherheit ausgelegt ist und nicht auf diagnostische Genauigkeit. Limitierend für die Aussagekraft dieser Studie ist das relativ kleine Patient*innenkollektiv und die ausschließliche Anwendung in einem Landkreis. Um die Ergebnisse dieser Studie zu bestätigen, sind weitere Studien mit einem größeren Studienkollektiv und dem Einschluss mehrerer Landkreise mit unterschiedlicher demographischer Struktur notwendig. In der Literatur gibt es bisher nur vereinzelt Auswertungen von standardisierten Notrufabfragen, auch weil diese in deutschen Leitstellen bisher nicht ubiquitär eingesetzt werden. Notrufabfragen, die eine Differenzierung in der medizinischen Notwendigkeit von Notarzteinsätzen ermöglichen, wurden bisher nicht unter-sucht. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind ein erster Beitrag in der Neuausrichtung von Rettungsdienstabläufen und einer notwendigen Umstrukturierung in der Ver-teilung von zunehmend knappen notärztlichen Ressourcen. Weitere Studien müssen zeigen, ob sich dieser Ansatz auch auf andere Landkreise und weitere Meldebilder übertragen lässt. Offen bleibt auch, inwiefern die Spezifität und damit die Effektivität einer solchen Abfrage erhöht werden kann, ohne die Patient*in-nensicherheit zu gefährden.
DOI:10.17192/z2024.0286