Die Heil- und Pflegeanstalt Herborn Anfang des 20. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie aufgearbeitet anhand von Sektionsprotokollen
Im Jahr 1911 wurde im hessischen Herborn aufgrund stetig steigender Krankenzahlen eine neue Heil- und Pflegeanstalt (HPA) gegründet. Von Beginn an wurden alle Todesfälle in der Klinik genauestens dokumentiert und, sobald die strukturellen Gegebenheiten es zuließen, die Verstorbenen in aller Regel au...
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Contributors: | |
Format: | Doctoral Thesis |
Language: | German |
Published: |
Philipps-Universität Marburg
2022
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Subjects: | |
Online Access: | PDF Full Text |
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Summary: | Im Jahr 1911 wurde im hessischen Herborn aufgrund stetig steigender Krankenzahlen eine neue Heil- und Pflegeanstalt (HPA) gegründet. Von Beginn an wurden alle Todesfälle in der Klinik genauestens dokumentiert und, sobald die strukturellen Gegebenheiten es zuließen, die Verstorbenen in aller Regel auch seziert. So entstanden zwischen 1911 und 1930 Sektionsprotokolle (mit einer Lücke von 1917 bis 1926), die durchgeführte, aber auch ausgebliebene Sektionen dokumentierten.
In dieser Arbeit richtet sich die primäre Frage danach, welchen Erkenntnisgewinn diese Sektionen in der psychiatrischen Anstalt erbrachten. Interessant ist hier neben der Sektionspraxis selbst und den Umständen, unter denen sie stattfand, der Inhalt der Sektionsprotokolle. Auf Basis dieser Quelle wird schließlich ein Teil der Anstaltsgeschichte der HPA Herborn, aber auch der Psychiatriegeschichte von 1911 bis 1930 aufgearbeitet werden.
Hierzu wurden zunächst die Todesursachen und Diagnosen untersucht, auch mit Blick auf zeitgeschichtliche Umstände wie den Ersten Weltkrieg, welche einen großen Einfluss auf das Anstaltsgeschehen und die dort praktizierten Sektionen hatten. Diese Auswertung wurde schließlich durch die Krankenakten und Bestandslisten ergänzt und im Licht der zeitgenössischen Fachliteratur diskutiert.
Die Sektionen in der HPA Herborn wurden zu Beginn des Untersuchungszeitraums ab 1911 regelmäßig und mit vorgegebener Struktur durchgeführt. Erst zu Kriegsbeginn, insbesondere aufgrund des Pflegekräftemangels, wurde diese Praxis unterbrochen. Im zweiten untersuchten Abschnitt wurde ab 1927 zunächst zwar wieder regelmäßiger seziert, jedoch blieben zunehmend Sektionen ohne dokumentierte Begründung aus. Hinzu kamen Fälle, bei denen die Angehörigen der Verstorbenen Sektionen abgelehnten. Die Sektionen dienten insbesondere der Bestimmung der Todesursache. Die Psychiater handelten hier also so wie sezierende Ärzte in rein somatischen Fächern. Sie suchten damit den wissenschaftlichen Anspruch der Psychiatrie zu unterstreichen und diese hierdurch schrittweise als medizinisches Fach zu etablieren. In dieser Arbeit wurde ein solcher wissenschaftlicher Anspruch der Herborner Psychiater durch die umfangreiche Publikationstätigkeit des dortigen Arztes Werner H. Becker belegt. Außerdem konnte
eine fachliche Kooperation der HPA Herborn mit den Pathologischen Instituten in Marburg und der Universität in Frankfurt am Main aufgezeigt werden.
Nach Auswertung der Daten werden die vorherrschende Rolle der Syphilis in der Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts, der nosologische Prozess der Benennung der Schizophrenie sowie nicht zuletzt als „Erschöpfungszustände“ subsummierte Todesursachen deutlich:
In fortgeschrittenen Stadien der Syphilis Erkrankte wurden aufgrund ihrer psychischen Symptome in psychiatrische Anstalten wie die HPA Herborn eingewiesen. Jedoch hatte diese Erkrankung solch destruktive somatische Folgen, dass die Betroffenen hieran schließlich auch verstarben. Die Auswertung der Protokolle zeigt, dass der Anteil der im untersuchten Zeitabschnitt mit oder an einer Syphilis Verstorbenen bedeutend größer als bislang bekannt war: mit bis zu 48% im Jahr 1913 betraf dies fast die Hälfte aller dort Verstorbenen. Diese klinische Relevanz der Syphilis spiegelt sich auch im zeitgenössischen Fachdiskurs anhand zahlreicher Artikel und Forschungsprojekte wider. Als weiteres Ergebnis konnte der nosologische Prozess des Schizophrenie-Begriffs anhand der Protokolle nachvollzogen und herausgearbeitet werden: Während zu Beginn noch der Begriff der „Dementia praecox“ verwendet wurde, findet sich in den späteren Jahren vermehrt der Begriff der Schizophrenie.
In den Kriegsjahren wurde der grausame Hungertod zahlreicher Patienten und Patientinnen in der HPA Herborn durch unterschiedlich formulierte „Erschöpfungszustände“ als Todesursachen dokumentiert und schließlich kaschiert. Dies zeigt sich besonders eindrücklich während des Kriegsjahres 1917, als etwa 40% des gesamten Krankenbestandes verstarb.
Neben der im Rahmen der Verwissenschaftlichung der Psychiatrie im Vordergrund stehenden Sektionstätigkeit konnte im Verlauf der Arbeit, nicht zuletzt durch die Aufarbeitung einer exemplarischen Krankenakte, auch ein schemenhaftes Bild des Lebens der Kranken in der HPA Herborn herausgearbeitet und neu gedeutet werden, auf welche Weise dieses schließlich oft zu Ende gegangen war.
Auf Basis von Sektionsprotokollen und Krankenakten ist in dieser Arbeit ein Zugang zur Geschichte der deutschen Anstaltspsychiatrie im frühen 20. Jahrhundert gelungen. Die zahlreichen Ergebnisse dürften für zukünftige Forschungsarbeiten von Interesse bleiben. |
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Physical Description: | 258 Pages |
DOI: | 10.17192/z2023.0171 |