Menschenrechte und Formanalyse. Zwischen materialistischer Kritik und emanzipatorischer Reformulierung

Menschenrechte beanspruchen ihrem Wortsinn nach universelle Gültigkeit, als Rechte aller Menschen, die ihnen ihr Mensch-Sein ohne gesellschaftliche Grenzen ermöglichen sollen. Dabei sind Menschenrechte nicht geradlinig entstanden, sondern entwickeln sich aus verschiedenen historischen Kämpfen entlan...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Adam, Lisa
Beteiligte: Georgi, Fabian (Dr. phil.)
Format: Masterarbeit
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2022
Schlagworte:
Online-Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Menschenrechte beanspruchen ihrem Wortsinn nach universelle Gültigkeit, als Rechte aller Menschen, die ihnen ihr Mensch-Sein ohne gesellschaftliche Grenzen ermöglichen sollen. Dabei sind Menschenrechte nicht geradlinig entstanden, sondern entwickeln sich aus verschiedenen historischen Kämpfen entlang gesellschaftlicher Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse. Was unter anderem mit der Emanzipation des weißen, besitzenden Mannes von der Feudalherrschaft begann, hat seither vielen Emanzipationsbewegungen Vorschub geleistet, deren Kämpfe sich in das eingeschrieben haben, was als ‚Menschsein‘ definiert wird. Mit Aufkommen des bürgerlich-kapitalistischen Staates sind Menschenrechte von naturrechtlich begründeten Rechten in positives Recht übergegangen und haben so eine neue Form erhalten. Gerade weil Menschenrechte heute allgegenwärtig sind, ist es notwendig sie aus einer gesellschaftskritischen Perspektive zu analysieren. Ziel ist es, einen Beitrag aus einem materialistischen Standpunkt heraus zu den in den letzten Jahrzehnten aufstrebenden Menschenrechts-Diskursen zu liefern und doch bei aller Kritik die Perspektive beizubehalten, an den Menschenrechten aus einem emanzipatorischen Anspruch heraus festzuhalten. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern ihre Entstehung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sie in ihrer Universalität begrenzt. Andererseits soll ihr emanzipatorisches Potential, die Politisierung von Unterdrückung und Herrschaft durch die Bezugnahme emanzipatorischer Bewegungen auf sie, in den Vordergrund gerückt werden. Die Arbeit bezieht sich somit auf das grundsätzliche Problem, inwiefern materialistische, radial-emanzipatorische Gesellschaftskonzeptionen politisch-strategisch mit Menschenrechts-Ansätzen vereinbar sind. Gerade weil Marx und Engels keinen eigenständigen Menschenrechtsbegriff entwickelten, weist die materialistische Forschung hier eine Leerstelle auf, der sich bislang wenige Theoretiker:innen angenommen haben. Die Arbeit gibt jedoch keinen allgemeinen Überblick über Diskussionsstandpunkte sich als marxistisch verstehender Theorien, sondern liefert einen Beitrag zu einem eigenständigen materialistischen Menschenrechtsbegriff. Es wird die Dialektik von Form und Inhalt als Methode gewählt, um mithilfe dieser die Grenzen und Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Formen und der menschenrechtlichen Inhalte aufzudecken. „Form“ wird im marxistischen Sinne als breit gefasster Strukturbegriff verwendet. Wichtig ist hierbei die Historisierung der gesellschaftlichen Formen und damit die Veränderbarkeit ihrer (Herrschafts-)Strukturen. Die Formanalyse der modernen Menschenrechte ist gewinnbringend, da so die abstrakt behandelten moralischen Menschenrechte konkreten historischen Dynamiken zugeführt werden und ihre herrschaftliche Durchsetzung greifbar wird. Deshalb werden die bürgerlichen Formen Gesellschaft, Staat und Recht hinsichtlich ihrer historischen Entstehung und deren Auswirkungen auf die den liberalen Menschenrechten zugrundeliegenden Konzepten von Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum analysiert. Anschließend an diese Herrschaftskritik bleibt zu begründen, weshalb es dennoch für radikal-emanzipatorische Gesellschaftsansprüche gewinnbringend sein kann, am Begriff der Menschenrechte festzuhalten. Es wird erläutert, dass die gängige Begründung durch menschliche Würde nicht ausreichend ist, da sie unkonkret bleibt. Die alternative Begründung eines materialistischen Menschenrechtsverständnisses kann von der allgemeinen Annahme des Menschen als empathisches und soziales Wesen abgeleitet werden, dessen Leiden an konkreten, historischen gesellschaftlichen Herrschaftsformen minimiert werden soll. Für den Entwurf eines materialistischen Menschenrechtsbegriffs muss bedacht werden, dass ein festgeschriebenes Verständnis von Menschenrechten genau jene Bewegung entlang historischer Kontexte verhindert, die für ihre emanzipatorische Begründung und Ausrichtung erforderlich sind. Ein materialistisches Menschenrechtsverständnis zu entwickeln heißt, die wandelbaren und individuellen Bedürfnisse emanzipatorischer Kämpfe in Begriffen zu transzendieren. Emanzipation ist kein festgelegtes Ergebnis eines linearen Prozesses, sondern Resultat spezifisch historischer Kämpfe und ihrer materiellen Verdichtungen, ein Hinauswachsen über bestehende gesellschaftliche Formen. Die emanzipatorische Ausrichtung des Menschenrechtsverständnisses als transzendierte Bedürfnisse bedeutet auch anzuerkennen, dass Menschenrechte nicht nur bestehende, menschenunwürdige Zustände kritisieren können. In ihrer Kritik ist ein Streben zu menschenrechtlichen Strukturveränderungen als Fundament politischer Praxis enthalten. Hier schließt ein materialistisch-emanzipatorischer Menschenrechtsansatz an den utopischen Gehalt Kritischer Theorie an, denn die transzendierten Menschenrechtsbegriffe sind anknüpfungsfähig für nachfolgende Emanzipationskämpfe und können so über ihre ehemaligen gesellschaftlichen Bezugsrahmen hinausgetragen werden. Menschenrechte mit utopischen Zielen zu vermitteln stellt den Versuch dar, das Utopische nicht allein abstrakt zu behandeln, sondern konkret zu füllen und das Versprechen auf eine Welt materiell realisierter Menschenrechte zu erneuern.
DOI:10.17192/ed.2023.0001