Klafki, Wolfgang: Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k04.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 35-53.


Wolfgang Klafki

Grundzüge kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft


I. Vorbemerkungen

In diesem Beitrag möchte ich Grundlinien einer Konzeption von Erziehungswissenschaft darstellen, an der ich seit etwa zwei Jahrzehnten arbeite. Im Prinzip geht es dabei um den Entwurf einer allgemeinen Erziehungswissenschaft, m. a. W.: einer umfassenden systematischen Theorie der Erziehung und der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Jedoch habe ich bisher zwar etliche Beiträge zu generellen und zu speziellen Aspekten dieses Vorhabens vorgelegt, aber bisher noch keinen umfassenden Systementwurf. [1] In diesem Vortrag muß ich mich verständlicherweise in besonderem Maße auf ausgewählte Grundzüge beschränken.

Ich füge noch zwei weitere Vorbemerkungen hinzu:

Zunächst: Mein Konzept hat etliche historische Wurzeln in der Geschichte des pädagogischen Denkens, vor allem natürlich im europäischen Zusammenhang und hier vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. U. a. nehme ich einige Grundgedanken der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik unseres Jahrhunderts, von der ich ursprünglich herkomme, auf. - Diese Geisteswissenschaftliche Pädagogik war eine Strömung der deutschen Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an die sogenannte Lebensphilosophie und die Theorie der Geisteswissenschaften des Philosophen und Geisteshistorikers Wilhelm Dilthey vor allem in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bis 1933 entwickelt worden ist und die dann nach 1945 noch einmal für etwa 15 Jahre in der Bundesrepublik großen Einfluß ausübte. Als ihre wichtigsten Repräsentanten sind Eduard Spranger, Herman Nohl, Theodor Litt, Wilhelm Flitner und Erich Weniger zu nennen. Ich habe bei Weniger und Litt studiert. [2] Ebensoviele Anregungen wie der Geschichte des pädagogischen Denkens verdanke ich dem Gespräch und der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen pädagogischen Theoretikern. Auch in dieser Hinsicht kann ich jedoch im folgenden allenfalls ab und an knappe Hinweise geben. - Insgesamt ist mein Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft eine Variante innerhalb einer Gruppe von jüngeren erziehungstheoretischen Ansätzen der deutschen und z. T. der internationalen Pädagogik, die man unter dem Sammelbegriff "Kritische Erziehungstheorien" bzw. "Kritische Theorien der Erziehungswissenschaft" zusammenfassen kann.

Nun zur zweiten Vorbemerkung: Mein Konzept entstammt selbstverständlich bestimmten Zusammenhängen des europäischen bzw. des deutschen pädagogischen Denkens. Aber ich bemühe mich darum, diese Begrenzung zu überschreiten und die Grundgedanken auf einen weltweiten Horizont hin auszulegen. Als Japaner werden Sie kritisch prüfen müssen, welche meiner Überlegungen Sie vor dem Hintergrund spezifisch japanischer Kultur- und Denkzusammenhänge akzeptieren und welche Sie kritisch zurückweisen oder doch wesentlich modifizieren müssen. Denn ich bin davon überzeugt, daß wir heute in immer stärkerem Maße in einer Welt leben, für die wir gemeinsam verantwortlich sind, und daß wir deshalb in immer größerem Umfang interkulturell denken und uns wechselseitig austauschen müssen.


II. Bestimmungselemente der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft

Diesen Hauptteil meines Beitrages gliedere ich in zwei Hauptabschnitte:

Im ersten Hauptabschnitt behandle ich einige inhaltliche Grundprinzipien und Grundkategorien, die das Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft kennzeichnen.

Im zweiten Hauptabschnitt stehen die drei konstitutiven methodischen Ansätze der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft im Vordergrund.


A. Inhaltliche Prinzipien und Kategorien der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft

In diesem Hauptabschnitt werde ich fünf Prinzipien herausstellen. Dabei muß ich mit Nachdruck betonen, daß ich diese Prinzipien zwar nur nacheinander aufführen kann, daß sie aber der Sache nach nicht additiv nebeneinanderstehen, sondern wechselseitig miteinander verzahnt sind und sich wechselseitig bedingen. Insofern können sie nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Vielmehr muß ich in meiner Darstellung immer wieder auf solche Wechselbeziehungen verweisen.

1. Das erste Prinzip betrifft die Beziehung zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis.

Erziehungswissenschaft wird in meinem Konzept als Theorie von der pädagogischen Praxis und für pädagogische Praxis verstanden. Pädagogische Praxis aber ist als eine bestimmte Form gesellschaftlicher Praxis zu verstehen; und Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Praxis werden grundsätzlich als geschichtlich betrachtet. Dem entspricht es, daß auch pädagogische Praxis - die Erziehungspraxis in den Familien, in Kindergärten, in Schulen, in sozialpädagogischen Bereichen usf. - immer als eine geschichtlich gewordene und wandelbare Praxis aufgefaßt werden muß, die durch den jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang vermittelt und auf diesen Zusammenhang bezogen ist. Sie wandelt sich also mit diesem gesellschaftlichen Zusammenhang. Jedoch bedeutet diese Bestimmung, daß pädagogische Praxis als gesellschaftlich vermittelte Praxis begriffen werden muß, keineswegs notwendig, daß sie durch die jeweils gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse streng determiniert ist. Das kann so sein, muß aber nicht so sein. Genau an dieser Stelle hat nun das zweite inhaltliche Grundprinzip der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft seinen Ort.

2. Auch dieses zweite Prinzip übernehme ich aus dem Denkzusammenhang der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, entwickle es aber über die dort anzutreffenden Interpretationen hinaus. Dieses Prinzip wird als "relative Autonomie" bzw. "relative Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis" bezeichnet.

Was ist damit gemeint? Die These besagt folgendes: Im Zuge der neuzeitlichen europäischen Entwicklung, vor allem seit der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, ist ein tiefgreifender Wandel der Gesellschaft, der politischen Verhältnisse und der Kultur in Gang gekommen. Der Prozeß der sogenannten Säkularisierung, der Verweltlichung hat sich beschleunigt. Relativ geschlossene geografisch-wirtschaftlich-kulturelle Lebensräume beginnen sich aufzulösen, werden sozusagen durchlässig, und die in ihnen bisher geltenden religiös-moralischen Normen werden nicht mehr als selbstverständlich hingenommen, sondern kritisch befragt. Die Aufklärung übt Kritik an tradierten politisch-gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und sozialen Hierarchien. Die Philosophie der Aufklärung und eine wachsende Zahl von Menschen berufen sich auf die Kraft der Vernunft, auf die Fähigkeit jedes Menschen zu eigenem Denken und eigenem Urteil, auf allgemeine Menschenrechte, die jedem Menschen als Person eigentlich zustehen und deren Anerkennung und Verwirklichung nun gefordert wird. Innerhalb dieses Prozesses wird auch das Kind und der junge Mensch als werdende Person mit eigenem Anspruch entdeckt, als ein Wesen, das ein Recht auf die Entwicklung aller seiner menschlichen Möglichkeiten, insbesondere auch seiner Vernunftfähigkeit hat. Damit ist der Anspruch verbunden, daß Kindheit und Jugend als vollwertige Lebensphasen mit eigenem Recht und eigenen Sichtweisen anerkannt werden müßten. Besonders prägnant ist dieser Gedanke bekanntlich von Rousseau vertreten worden.

Dieser "Entdeckung" des Eigenrechts des jungen Menschen als einer potentiell zur Selbstbestimmung, zur Mündigkeit fähigen Person entspricht es nun, wenn seit dieser Zeit auch im pädagogischen Denken neue Ansätze wirksam werden; der pädagogische Revolutionär Rousseau ist eben schon genannt worden. Immer deutlicher entwickelt sich nun bei pädagogisch interessierten Denkern die Auffassung, daß die Erziehung im gesellschaftlich-politischen und kulturellen Zusammenhang eine eigene, besondere Aufgabe hat, daß sie verantwortlich ist dafür, jungen Menschen die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Interessen, die Entwicklung zur Mündigkeit und zur Selbstbestimmungsfähigkeit zu ermöglichen. Das bedeutet aber, daß nun für die Erziehung eine relative Selbständigkeit beansprucht wird, gegenüber den Religionen und den Kirchen, dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen und Mächten, z. B. auch der Wirtschaft. Dem entspricht ein Prozeß, in dem auch die Theorie der Erziehung - meistens ist sie sogar der Vorreiter - eine relative Selbständigkeit gegenüber der Theologie, der Philosophie, den Weltanschauungen, der Politik, den anderen Kulturbereichen gewinnt oder mindestens fordert. Hier muß jedoch einem verbreiteten Mißverständnis des Prinzips der "relativen Autonomie" oder - synonym damit - der "relativen Eigenständigkeit" der Pädagogik in Theorie und Praxis entgegengetreten werden: Pädagogische Theorie und pädagogische Praxis dürfen sich nicht von Politik, Gesellschaft und Kultur isolieren. Sie sind auf diese umfassenderen Zusammenhänge bezogen und müssen es bleiben. Denn sie können die jungen Menschen nicht von der geschichtlichen Wirklichkeit fernhalten wollen, sondern müssen die Aufwachsenden schrittweise zum Verstehen, zur Selbstbestimmung in diesen Zusammenhängen, zur Mitgestaltung der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Entwicklung in eigener Verantwortung und nach eigenem Urteil zu befähigen versuchen. Relative Autonomie oder Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis meint also nicht Loslösung von Politik, Gesellschaft, Kultur, sondern eine spezifische Form der selbstverantwortlichen Bezogenheit auf diese umgreifenden Zusammenhänge.

3. Damit hängt nun unmittelbar ein drittes Prinzip zusammen, das für mein Konzept charakteristisch ist: Innerhalb der pädagogisch-philosophischen Denktradition gibt es im Anschluß an die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts einen Traditionsstrang, der sich um den Begriff "Bildung" konzentriert. Es ist jener Denkzusammenhang, der etwa zwischen 1770 und 1830/1840 vor allem im deutschsprachigen Raum, aber - und das ist mir besonders wichtig - mit einem weltweiten Horizont in verschiedenen Varianten entfaltet worden ist: von Lessing, Herder und Kant über Pestalozzi, Goethe, Schiller, Humboldt, Herbart, Schleiermacher, Fröbel und Diesterweg bis zu Hegel . [3] Das Grundprinzip des hier entwickelten Bildungsbegriffs ist in Immanuel Kants großartiger Formel vom möglichen "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" umschrieben worden. Dieses Heraustreten aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" sei, so Kant, mit dem Anbruch der Neuzeit immer deutlicher als individuelle und gesellschaftliche Aufgabe der Menschen erkennbar geworden.

Nun zeigt jener bildungstheoretische Denkzusammenhang im einzelnen verschiedene Varianten, er weist auch manche Widersprüche und deutliche historische Grenzen auf. Aber darauf kann ich an dieser Stelle nicht genauer eingehen. Ich hebe nur hervor, daß einige der Kerngedanken der bildungstheoretischen Ansätze jener Zeit unter anderem vom jungen Marx aufgenommen und gesellschaftskritisch weitergedacht worden sind. Später haben Teilelemente jener bildungstheoretischen Ansätze in manchen liberalen und demokratisch-sozialistischen pädagogischen Programmen weitergewirkt, in unserem Jahrhundert auch innerhalb der Reformpädagogik und nicht zuletzt auch in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Diese Hinweise muß man allerdings durch einen weiteren ergänzen: Neben solchen bemerkenswerten Versuchen der Anknüpfung an eine große Tradition gibt es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch starke Gegenbewegungen und eine Geschichte des Verfalls, der Verdrängung und der Verkehrung der progressiven Bildungstheorien. Und diese Gegenbewegung hat sich faktisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis weit in unser Jahrhundert hinein in größerem Umfang durchgesetzt als die vorher erwähnten Anknüpfungsversuche.

Für die Entwicklung meines Konzepts sind nun im Zusammenhang der Wiederbesinnung auf die großen klassischen Traditionen der Bildungstheorie auch einige Anregungen wichtig geworden, die ich bildungstheoretischen Beiträgen aus dem Kreis der sogenannten "Kritischen Theorie" verdanke, d. h. der Sozialphilosophie Theodor W. Adornos, Max Horkheimers und Jürgen Habermas' sowie einigen von dieser "Kritischen Theorie" beeinflußten Erziehungswissenschaftlern, so vor allem Heinz Joachim Heydorn, Herwig Blankertz und Klaus Mollenhauer. [4]

Damit habe ich in aller Kürze die theoriegeschichtlichen Wurzeln gekennzeichnet, die mich zu dem Versuch einer Neufassung des Bildungsbegriffs im Hinblick auf unsere Gegenwart und die voraussehbare Zukunft geführt haben. Dabei meine ich, daß dieser Bildungsbegriff nicht an die spezifischen Bedingungen der europäischen Geistesgeschichte und, noch enger, der deutschen Geistesgeschichte gebunden ist, aus denen heraus seine Anfänge entsprungen sind.

Bildung muß heute, so meine ich, als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten verstanden werden:


4. Hier schließt das vierte Prinzip an. Mit dem vorher umrissenen Bildungsbegriff ist das generelle Prinzip des Erkenntnis- und Handlungsinteresses kritisch-konstrukutiver Erziehungswissenschaft benannt: Erziehungspraktiken und pädagogische Theorien bzw. erziehungswissenschaftliche Entwürfe werden unter dem Kriterium beurteilt, was sie zur Entwicklung der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen, aber auch erwachsener Menschen, die Weiterbildung benötigen oder anstreben, beitragen können. Dazu gehört nicht zuletzt die Aufklärung der Hindernisse so verstandener Erziehungs- bzw. Bildungsarbeit, insbesondere auch der Hemmnisse, die in gesellschaftlichen Bedingungen liegen. Darauf zielt die Bestimmung "kritisch" im Sinne von "gesellschaftskritisch".

Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft orientiert ihre Forschungsfragen und ihre Bemühungen um Theoriebildung also an diesen Leitlinien. Sie will in Kooperation mit der Praxis zur Entwicklung humaner und demokratischer Erziehung beitragen. Auf dieses Gestaltungs- und Veränderungsinteresse weist die Kennzeichnung "konstruktiv" hin, im Unterschied zu einer bloß deskriptiven oder analytischen Erkenntnisintention. - Die Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit von Erziehung zur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit einerseits und der Entwicklung einer demokratischen und humanen Gesellschaft andererseits muß eine so verstandene Erziehungswissenschaft unausweichlich dazu führen, ihre kritische Intention immer auch gesellschaftskritisch wahrzunehmen. Sie muß also in pädagogischer Sicht alle Gesellschaften, die eigene, aber auch alternative, z. B. sogenannte sozialistische Gesellschaften daraufhin befragen, ob in ihnen wirklich, nicht nur der jeweils herrschenden Selbstdeutung nach, Erziehung zur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit geschieht oder mindestens möglich ist.

5. Das fünfte Prinzip knüpft an das zuerst genannte an, das den wechselseitigen Bezug zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis im Konzept der kritisch- konstruktiven Erziehungswissenschaft betonte. Aus den vorangehenden Thesen folgt konsequent, daß die Theorie-Praxis-Beziehung als ein Verhältnis gleichberechtigter Partner verstanden werden muß.

Das bedeutet: Einerseits kann die Theorie bzw. die Erziehungswissenschaft keinen Anspruch auf Dominanz gegenüber der Praxis beanspruchen. Sie würde sich dadurch in Widerspruch zu einem ihrer Leitprinzipien setzen, nämlich zum Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsgedanken. Die pädagogischen Praktiker, d. h. die Eltern, die Kindergärtnerinnen, die Lehrer, die Sozialpädagogen, die Erwachsenenbildner usw. sind sowenig wie die jungen Menschen und bildungswillige Erwachsene, um die es letztlich geht, bloß "ausführende Organe" der Theorie. Anders formuliert: Zwischen Theorie und Praxis besteht kein technologisches Verhältnis. Die pädagogische Theorie kann und darf der Praxis keine Techniken (im strengeren Sinne dieses Wortes) und kein technologisch anwendbares Wissen liefern. Denn sie kann der Praxis deren eigene Verantwortung nicht abnehmen wollen. Aussagen der Theorie, die notwendigerweise einen verallgemeinernden Charakter haben, müssen vielmehr im jeweiligen Praxisfeld und im Einzelfall von den Praktikern selbstverantwortlich auf die gegebene Situation, auf die individuellen Kinder oder Jugendlichen oder Erwachsenen hin konkretisiert werden. Und weiterhin: Die pädagogische Praxis kann auch aus folgendem Grunde kein bloß ausführendes Organ der Theorie sein: Wenn die Theorie wirklich eine Theorie für die Praxis sein will, dann muß die Praxis immer wieder an der Formulierung der Fragestellungen, der Probleme beteiligt werden, die die Theorie in ihrer Forschung untersucht.

Aber es gilt auch das Umgekehrte: Es gibt keinen prinzipiellen Vorrang der Praxis vor der Theorie, wie die meisten Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik programmatisch behauptet haben. Die Theorie ist der Praxis nicht generell nachgeordnet, sie dient auch nicht nur der Aufklärung der immer schon vorausgehenden Praxis. Theorie kann der Praxis durchaus auch in reformerischer Absicht vorgreifen, z. B. neue Schulmodelle, neue Methoden, neue sozialpädagogische Handlungskonzepte, neue pädagogische Institutionen entwerfen, sie kann der Praxis also neue, noch nicht realisierte Möglichkeiten zeigen. Das ist ein wichtiger Aspekt der Kennzeichnung meines Konzepts als "konstruktiver" Erziehungswissenschaft. Zusammenfassend ist festzuhalten: Theorie und Praxis sind im Verständnis kritisch- konstruktiver Theorie zwei gleichwertige, wechselseitig aufeinander bezogene Instanzen.


B. Zur methodologischen Struktur kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft

Hier geht es um die methodologische Struktur kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Meine Hauptthese lautet in dieser Hinsicht: Erziehungswissenschaft kann die Aufgaben, die ich im vorangehenden Abschnitt beschrieben habe, nur erfüllen, wenn sie mindestens drei methodische Grundansätze verfolgt und miteinander verbindet:

Auch hier betone ich mit Nachdruck: Diese drei Ansätze stehen im Sinne meines Konzepts nicht additiv nebeneinander, sondern sie verweisen jeweils aufeinander; sie stehen in einem notwendigen, forschungslogischen Zusammenhang. Da soll heißen: Die Reflexion auf die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen jedes Ansatzes, auf seine spezifischen Leistungen und seine Grenzen kann deutlich machen, daß jeder Ansatz durch die anderen ergänzt werden muß. Denn jeder dieser Ansätze schließt Voraussetzungen und Annahmen ein, deren Gültigkeit methodisch nur durch die jeweils anderen Ansätze aufgeklärt bzw. überprüft werden kann.

Meine Position grenze ich also kritisch gegen zwei Auffassungen ab: Zum einen gegen einen Methodenmonismus, der einen dieser Ansätze als den einzig fruchtbaren Weg zu wissenschaftlicher Erkenntnis, in unserem Falle: zur erziehungswissenschaftlichen Erkenntnis verabsolutiert; zum zweiten gegen einen formalen Methodenpluralismus, wie man ihn vielfach in der Wissenschaftspraxis antrifft; er läßt die drei Grundansätze beziehungslos nebeneinander stehen, fragt aber nicht nach ihren inneren Beziehungen.

Ich werde im folgenden die drei Ansätze kurz erläutern und meine Behauptungen einlösen, daß sie in einem notwendigen Beziehungs- und Ergänzungsverhältnis zueinander stehen.


Der historisch-hermeneutische Ansatz

Man muß die Aufklärung jenes Methoden-Zusammenhanges m. E. vom historisch-hermeneutischen Ansatz her beginnen. Denn Erziehung bezeichnet immer sinnhafte, m. a. W. bedeutungshaltige Handlungen und Prozesse bzw. sinnorientierte Institutionen, die solche Handlungen und Prozesse ermöglichen sollen. Und pädagogische Auffassungen bzw. Theorien sind explizite Auslegungen pädagogischer Sinngebungen bzw. Bedeutungszusammenhänge. Aber auch die durch erzieherische Handlungen und Institutionen ausgelösten Re-Aktionen der zu Erziehenden bzw. der erwachsenen Adressaten von pädagogischen Angeboten, etwa in der Erwachsenenbildung, sind sinnhaltige, intentionale, d. h. zielorientierte Handlungen. Das gilt sowohl dann, wenn solche Re-Aktionen den pädagogischen Zielsetzungen der Erwachsenen entsprechen, als auch dann, wenn sie von ihnen abweichen oder ihnen zuwiderlaufen, z. B., wenn junge Menschen sich den erzieherischen Einwirkungen ihrer Eltern oder ihrer Lehrer zu entziehen versuchen, wenn sie ihnen widersprechen oder wenn sie etwa erklären oder indirekt deutlich machen, daß sie in bestimmten Anforderungen oder Angeboten der Schule keinen Sinn zu finden vermögen.

Alle pädagogischen Sinngebungen und die durch sie ausgelösten Re-Aktionen der zu erziehenden bzw. erwachsenen Adressaten stehen zum einen in umfassenderen erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen, zum anderen in darüber hinausreichenden geschichtlich-gesellschaftlichen Kontexten. Zugleich sind solche historisch-gesellschaftlich vermittelten Sinngebungen aber auf die Zukunft bezogen, auf vermutete oder angestrebte zukünftige Geschichte, auf jene Lebenssituationen, Aufgaben und Möglichkeiten, mit denen Kinder, Jugendliche oder als lernfähig und lernbedürftig angesprochene Erwachsene sich vermutlich einmal werden auseinandersetzen müssen oder auf die sie selbst bereits in ihren eigenen Vorstellungen vorausgreifen. Auf dieses eben umrissene Gefüge von geschichtshaltigen Sinn-Setzungen und Sinn-Zusammenhängen, in dem sich innerhalb umgreifender gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse Erziehung als ein besonderer Komplex von menschlichen Handlungen und Institutionen und auf sie gerichteter Vorstellungen bez. "Theorien" vollzieht, richtet sich der historisch-hermeneutische Ansatz. "Hermeneutik" bezeichnet hier also alle Bemühungen, Sinn- bzw. Bedeutungszusammenhänge mit wissenschaftlichen Methoden, d. h. intersubjektiv überprüfbar und intersubjektiv diskutierbar zu erfassen. Der Begriff "Hermeneutik" geht auf das griechische Wort "hermeneuein" zurück; das Wort meint: nach dem Sinn, nach der Bedeutung einer Aussage, einer Handlung, einer Theorie, eines Textes zu suchen.

Auf methodische Detailfragen der Hermeneutik kann ich hier nicht eingehen. Ich muß aber kurz vier wichtige Aspekte, m. a. W.: Differenzierungen der historisch-hermeneutischen Perspektive skizzieren:

Erstens gilt es nach wie vor, jene Aufgabe weiterzuverfolgen, auf die sich in Deutschland vor allem die Geisteswissenschaftliche Pädagogik konzentriert hatte, nämlich darauf, die Geschichte des pädagogischen Denkens, der pädagogischen Ideen und "Erfindungen" immer erneut aufzuarbeiten, um die im gegenwärtigen pädagogischen Denken und in der gegenwärtigen Erziehungswirklichkeit steckende Geschichte bewußtzumachen, aber auch, um die Grenzen dieses Erbes, das in der jeweils gegenwärtigen pädagogischen Praxis und Theorie nachwirkt, zu erkennen und damit ggf. den Blick für neuartige, gegenwärtige und zukünftige Aufgaben freizumachen.

Zweitens:Geschichte der Pädagogik kann nicht auf die Geschichte der pädagogischen Ideen und Theorien bzw. Vorstellungen begrenzt werden, sondern diese Ideen, Theorien, Vorstellungen müssen auf die Realgeschichte der Erziehung und der Erziehungsinstitutionen, also der Familien, Schulen, Erziehungsheime, der beruflichen Lehrlingsausbildung usf. bezogen und damit konfrontiert werden. Es muß also nach wechselseitigen Einflüssen, Entsprechungen oder auch Brüchen zwischen den Ideen, Vorstellungen, Theorien und der jeweiligen Realität gefragt werden. Beide Aspekte aber, sowohl die Ideen- bzw. Theoriegeschichte als auch die Real- bzw. Institutionengeschichte müssen gesellschaftsgeschichtlich betrieben werden; d. h. ihre Beziehungen zu umgreifenden kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Zusammenhängen müssen erforscht werden.

Drittens:Pädagogisch-hermeneutische Forschung richtet sich nicht nur auf Texte und Dokumente und nicht nur auf die geschichtliche Perspektive, sondern auch auf die Sinnzusammenhänge der jeweils aktuellen Erziehungswirklichkeit, die sich nicht oder nicht nur in Texten und Dokumenten niederschlagen, sondern in konkreten pädagogischen Interaktionen, Handlungen, sinnlich vermittelten Ausdrucksformen wie dem Tanzen, der Mimik, der Gestik oder in Phänomenen wie etwa der pädagogisch relevanten Atmosphäre einer Familie, eines Kindergartens, einer Volkshochschul-Arbeitsgemeinschaft usf. - Die Entwicklung einer entsprechenden Hermeneutik der aktuellen Erziehungswirklichkeit ist zwar schon früher gefordert worden, aber die Entwicklung entsprechender Forschungen und dafür geeigneter Methoden ist erst seit etwa zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik intensiver in Gang gekommen. Hier hat die jüngere Kommunikationsforschung, die phänomenologische Soziologie und der "Symbolische Interaktionismus" viele Anregungen vermittelt. [5] Ich nenne einige Beispiele für solche Forschungen: Untersuchungen zur Lehrersprache oder zur Schülersprache bzw. über unterrichtliche Kommunikation oder nichtverbale Kommunikationsformen. - Ermittlung und Deutung pädagogisch bedeutsamer, gegenständlicher und sozialer Sinnsetzungen und Sinnbeziehungen von Kindern oder Jugendlichen in bestimmten "Lebenswelten", vor allem in ihrem außerschulischen und außerbetrieblichen Leben bzw. in jugendlichen Subkulturen, insbesondere mit Hilfe teilnehmender Beobachtung. - Interviewstudien mit qualitativer Interpretation der so gewonnenen Aussagen von Eltern, Kindern, Jugendlichen, Studierenden, Lehrern, Sozialpädagogen, Erwachsenenbildungs-Dozenten, Volkshochschulteilnehmern usf., unter anderem auch durch Gruppengespräche. - Untersuchung der Bedeutungen, die in sinnlich vermittelten Ausdrucksformen von Kindern und Jugendlichen stecken, etwa ihrer Kleidung, der von ihnen bevorzugten Musik, ihrer Gestik, des Tanzes usw.

Viertens:Gerade eine Erziehungswissenschaft, die an der Frage nach Möglichkeiten und Behinderungen der Entwicklung der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit orientiert ist, wird schließlich biographische Untersuchungen als eine weitere Variante historischer und aktuell-hermeneutischer Forschung fördern. Wir müssen Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sich z. B. die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit, von Kritikfähigkeit, Selbstvertrauen usf. oder der gegenläufigen Einstellungen und Dispositionen - Unselbständigkeit, Fixierung auf Autoritäten, soziale Beziehungsschwierigkeiten usf. - im Entwicklungsprozeß bestimmter Individuen vollziehen, in jenem von der frühesten Kindheit an beginnenden Prozeß von Aneignungen und Auseinandersetzungen des sich entwickelnden Individuums im Einflußbereich seiner familiären und darüber hinausgehender sozialer Beziehungen, pädagogisch gemeinter Einwirkungen und umfassender gesellschaftlicher Einflüsse. [6]


Der empirische (erfahrungswissenschaftliche) Ansatz

In den vorangehenden Ausführungen zum hermeneutischen Ansatz ist bereits auf Zusammenhänge mit dem empirischen Ansatz hingewiesen worden. Diesem Problem der empirischen Forschung im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft wende ich mich jetzt zu.

Zunächst erinnere ich noch einmal an die zugrundeliegende Kernthese: Eine konsequente Reflexion auf die Leistungsfähigkeit, die Grenzen und die Implikationen der in der historisch- hermeneutischen Perspektive zu gewinnenden erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse führt unausweichlich auf die Notwendigkeit der Ergänzung durch empirische Forschung. Ich deute es wieder in Beispielen an: In jeder Lehrplanentscheidung, in jeder Empfehlung, bestimmte Methoden in der Kindergartenerziehung oder in der Schule einzusetzen, in jeder Aussage über Aufgaben z. B. des Fremdsprachenunterrichts oder des naturwissenschaftlichen Unterrichts, in jeder Diskussion über pädagogisch sinnvolle, wirkungsvolle Institutionen und Formen des Jugendstrafvollzugs oder der Bekämpfung der Drogenabhängigkeit usf. stecken Annahmen empirischer Art, also etwa Annahmen über die vorhandene oder nichtvorhandene Ansprechbarkeit, die Motivation oder die Motivierbarkeit der betreffenden jungen Menschen, über ihre Leistungsmöglichkeiten, über die Effektivität bestimmter Methoden, über tatsächlich vorhandene oder notwendige pädagogische Einstellungen und Fähigkeiten der erziehenden Personen usf. Die Haltbarkeit oder Nichthaltbarkeit solcher Annahmen über reale oder realisierbare Wirkungszusammenhänge, Beziehungen, sogenannte "Gesetzmäßigkeiten" oder mindestens statistische Regelmäßigkeiten muß erforscht werden, und das ist nur mit Hilfe erfahrungswissenschaftlicher, empirischer Methoden möglich.

Auch in dieser Hinsicht kann es nicht darum gehen, die z. T. komplizierten Detailfragen der generellen Methodik und spezieller Methoden der empirischen Forschung hier zu diskutieren. In meinem Zusammenhang kommt es darauf an, die Zentralthese vom notwendigen Methodenverbund nun auch von der anderen Seite her, vom empirischen Ansatz im Bezug zum historisch- hermeneutischen Ansatz, zu belegen.

Ich nehme also die Kernthese vom Methodenverbund noch einmal auf, nun zugespitzt auf empirische Forschung: Empirie ist einerseits auch im Konzept kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft unverzichtbar. Andererseits bleibt sie ein "halbierter Rationalismus", wenn sie erstens die in die erfahrungswissenschaftliche Forschung selbst immer schon eingegangenen Bedeutungs-Setzungen, zweitens die Sinnbezüge ihrer Forschungsgegenstände und drittens die möglichen Konsequenzen ihrer Forschungsverfahren und Forschungsresultate ausblendet, m. a. W.: sofern sie die Notwendigkeit der Kooperation mit historisch-hermeneutischer (und, um hier schon vorwegzugreifen, mit gesellschaftskritisch-ideologiekritischer) Forschung verkennt. Und dies ist nun leider in der Praxis empirischer Forschung nicht selten der Fall.

Ich habe eben bereits die drei Dimensionen, in denen die Verflechtung von empirischen und historisch-hermeneutischen Methoden nachweisbar notwendig ist, angesprochen. Diese drei Dimensionen kommentiere ich jeweils kurz.

Zunächst: In die Fragen, Hypothesen oder Hypothesenzusammenhänge, m. a. W.: Theorien, die in der Einleitungsphase jeder empirischen Untersuchung formuliert und operationalisiert werden, gehen immer schon Vorbedingungen und Annahmen mit erziehungsgeschichtlichem bzw. gesellschaftsgeschichtlichem Hintergrund ein, nämlich pädagogische Meinungen, ggf. scheinbare Selbstverständlichkeiten, pädagogische Zielvorstellungen oder die Kritik daran, historisch überkommene Begriffe usw. Das gilt für jede Unterrichtsbeobachtungsstudie ebenso wie für eine Teilnehmerbefragung von Besuchern einer Erwachsenenbildungsveranstaltung nach ihren Interessen, das gilt für jede Untersuchung des Erziehungsstils in Kindergärten, es gilt für jede Längsschnittstudie über die Entwicklung dissozialer bzw. kriminell gewordener Jugendlicher oder für jede Verlaufsanalyse über bestimmte Aspekte eines Schulversuchs usw. Wer etwa bei einer empirischen Vergleichsuntersuchung über die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Schulen nicht kritisch danach fragt, ob in den Leistungsbegriff, den er zugrundelegt, vielleicht überkommene, gesellschaftlich problematische oder pädagogisch bereits in Frage gestellte tradierte Vorstellungen von "Leistung" eingehen, der betreibt seine Forschung mit "halbierter Rationalität". Und das gleiche gilt, wo es z. B. um eine empirische Untersuchung über Jugendkriminalität geht, wenn sich der oder die betr. Forscher nicht die Sinnbestimmungen klar machen, die in ihren Begriff von "Kriminalität" eingehen.

Nun zum zweiten Aspekt: Nicht nur in den Fragestellungen und Grundbegriffen empirisch-pädagogischer Forschung stecken historisch-hermeneutisch aufzuklärende Voraussetzungen. Auch die "Gegenstände" dieser Forschung sind selbst sinnhafte, bedeutungshaltige Phänomene, nicht bloße Gegebenheiten im Sinne von Naturfakten. Das gilt für alle Handlungen, Beziehungen, Institutionen, Vorgänge, Bedingungen, die empirisch-pädagogische Forschung mit Hilfe von Beobachtungen, Befragungen, Interviews, Experimenten u. ä. untersucht. - Wenn das richtig ist, so folgt daraus: Empirisch-pädagogische Forschung muß bei der Gestaltung ihrer Untersuchungsverfahren dieser Sinnhaltigkeit ihrer Forschungsgegenstände gerecht werden. Sie muß z. B. die Untersuchungseinheiten, die sie beobachtet, etwa in der Unterrichtsforschung, als Sinneinheiten definieren, darf also nicht die Sinnschwelle unterschreiten. Was aber sind z. B. bei einer Unterrichtsbeobachtungsstudie, die sich auf die Lehrer-Schüler-Interaktion bezieht, Sinn-Einheiten? Sind es einzelne Lehrer- und Schüleräußerungen, für die man vorweg Kategorien formuliert, deren Summen man dann auszählt und miteinander vergleicht? Oder muß man größere Einheiten und dafür geeignete Methoden der Registrierung entwickeln? Solche Fragen sind primär nicht empirisch zu beantworten, sondern es sind hermeneutische Fragen.

Schließlich zum dritten Aspekt: Daß empirisch-pädagogische Forschung in ihrer Abschlußphase, bei der Formulierung der Ergebnisse, fast immer in Folgerungen ausmündet, die über die bloße Registrierung von Fakten und Korrelationen hinausgehen, deutet sich schon darin an, daß diese Abschlußphase meistens als "Interpretation der Resultate" bezeichnet wird. Zum Beispiel werden hier die gewonnenen Befunde, die notwendigerweise immer in eingegrenzter Frageperspektive gewonnen wurden, auf umfassendere Wirklichkeits- oder Theoriezusammenhänge zurückbezogen, aus denen jene eingegrenzten Fragestellungen zunächst methodisch herausgelöst werden mußten. Oder es werden Folgerungen im Hinblick auf eine Nutzung der Ergebnisse in der pädagogischen Praxis formuliert. M. a. W.: Man befragt die Resultate auf ihre mögliche Bedeutung in bestimmten theoretischen oder praktischen Sinn- bzw. Handlungszusammenhängen. Das aber heißt, auf den methodologischen Begriff gebracht, einmal mehr nichts anderes als: Man verfährt im Prinzip historisch-hermeneutisch, und man muß es tun.


Der gesellschaftskritisch-ideologiekritische Ansatz

Ich komme nun zum letzten, dem dritten methodischen Grundansatz, den ich als konstitutiv für das methodische Problem kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft benannte: zum gesellschaftskritisch-ideologiekritischen Ansatz. Schon bei der Erörterung des historisch- hermeneutischen und des empirischen Ansatzes und ihrer wechselseitigen Beziehungen habe ich mehrfach den Sachverhalt angesprochen, daß Erziehungsprobleme in vielfältiger Weise mit umgreifenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen und Prozessen verbunden sind; abkürzend nenne ich diesen Zusammenhang hier "gesamtgesellschaftlich". Der heutige Stand des Problembewußtseins, an dessen Entwicklung die kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft beteiligt war, ist zweifellos nur durch die Auseinandersetzung mit jüngeren politisch-ökonomischen bzw. kritisch- gesellschaftswissenschaftlichen Analysen erziehungswissenschaftlich relevanter Fragen seit der Mitte der 60er Jahre möglich geworden. Und zwar handelt es sich hier um einen internationalen Forschungszusammenhang. - Dieser gegenwärtige Problemstand läßt sich als ein Komplex differenzierter Fragestellungen kennzeichnen, durch die es möglich erscheint und z. T. bereits gelungen ist, zum einen für frühere erziehungsgeschichtliche Perioden, zum anderen für die Gegenwart die meistens vielschichtigen und oft widersprüchlichen, überdies sich wandelnden Beziehungen und Kräfteverhältnisse aufzuschlüsseln, die zwischen ökonomischen, sozialstrukturellen, demographischen, kulturellen, politischen Kräften, Strukturen und Prozessen einerseits und den Entwicklungen und Verhältnissen im Bereich der Erziehungspraxis und der Erziehungstheorie andererseits bestehen. Ich erinnere hier nur an die vielen Untersuchungen und Diskussionen zum Problem der Chancengleichheit bzw. Chancenungleichheit im Bildungssystem verschiedener Gesellschaften.

Die Kennzeichnung dieses dritten Grundansatzes als "gesellschaftskritisch-ideologiekritsch" weist auf die beiden Hauptaspekte hin: Zum einen geht es um eine Analyse von ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedingungen pädagogischer Praktiken, Institutionen, Entscheidungen, Prozesse, zum anderen um die Ideologiekritik des pädagogischen Bewußtseins. Ideologiekritik setzt dabei ökonomisch-gesellschaftlich-politische Bedingungsanalysen in irgendeinem Grade immer voraus.

Was mit ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Bedingungsanalysen im Hinblick auf pädagogische Phänomene gemeint ist, verdeutlichte ich durch einige konkretisierende Fragen: Welche ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Bedingungen, Interessen, Kräfteverhältnisse sind im Berufsbildungssystem eines bestimmten Landes wirksam? - Oder: Welche politischen und gesellschaftlichen Gruppen nehmen auf die Zielsetzungen und die Inhalte der Erziehung in den Bildungsinstitutionen eines Landes Einfluß? - Oder: Wie verteilen sich die Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen sozialen Schichten auf die verschiedenen Schularten? Wieviel Kinder von Eltern der Arbeiterschicht erreichen z. B. eine höhere Schulausbildung oder die Hochschulzulassung? - Wie kommen eigentlich Entscheidungen über die Höhe des Kindergeldes für Familien oder über die Finanzierung bestimmter Schularten oder über die Richtwerte zulässiger Klassenstärken in den Schulen zustande usw. usf.?

Den zweiten Aspekt des jetzt erörterten methodischen Grundansatzes habe ich als "ideologiekritisch" bezeichnet. Den Begriff "Ideologie" meine ich dabei in der engeren und strengeren Bedeutungsvariante dieses Begriffes. [7] Er meint ein Bewußtsein über gesellschaftliche Tatbestände und Vorgänge, das wissenschaftlich als falsch erwiesen werden kann und das bestehende gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse direkt oder indirekt stabilisiert, scheinbar rechtfertigt und damit der Kritik und der möglichen Veränderung entzieht. Es leuchtet unmittelbar ein, daß für eine Erziehungswissenschaft, die am Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsprinzip orientiert ist, erziehungswissenschaftliche Ideologiekritik unverzichtbar ist.

Ich verdeutliche die Begriffe "Ideologie" und "Ideologiekritik" an einem Beispiel, von dem ich weiß, daß es für ihre Situation in Japan wie auch für unsere Situation in Deutschland, aber darüber hinaus für viele weitere Länder und Kulturen akute Bedeutung hat: Die Ungleichheit der Bildungschancen und der Berufschancen für Mädchen und Jungen wird auch heute noch häufig folgendermaßen begründet: Im allgemeinen seien die Mädchen eben "von Natur aus" intellektuell weniger begabt, also z. B. weniger geeignet für wissenschaftliche Ausbildungswege und entsprechende, spätere Berufe, insbesondere für Naturwissenschaften und Technik, und deshalb seien sie ja auch weniger an diesen Bereichen interessiert; aber sie seien auch weniger politisch begabt und daher weniger interessiert an politischen Problemen, und das sähe man ja auch daran, daß viel weniger Frauen als Männer in entsprechenden Berufen bzw. in der Politik tätig seien. - Hier liegt ein Musterbeispiel für Ideologie vor, für gesellschaftlich bedingtes und folgenreiches falsches Bewußtsein. Denn eine vollständig oder in hohem Maße in der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung begründete Ungleichheit wird ohne genaue Prüfung als eine naturgegebene Unterschiedlichkeit betrachtet! Diese tatsächlich gegebene Ungleichheit erscheint damit als gerechtfertigt. Ungleichheit wird aber damit stabilisiert, weil die Frage nach ihren historisch-gesellschaftlichen Ursachen ausgeblendet wird. - Wer diesen Zusammenhang aber aufklärt und die gesellschaftlichen Bedingungen erforscht, durch die solche Vorstellungen im Bewußtsein vieler Menschen zustande kommen, der betreibt Ideologiekritik.


III. Abschluß

In diesem Beitrag konnte ich nur die Grundlinien des Konzepts einer kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft darstellen. Beispiele sind nur angedeutet worden. Auch die Übertragung dieses allgemein-erziehungswissenschaftlichen Entwurfs auf Teilbereiche der Pädagogik konnte nicht ausführlicher zur Sprache kommen . [8] Solche Übertragungen auf bestimmte Arbeitsbereiche der Erziehungswissenschaft habe ich in mehreren Veröffentlichungen, vor allem für die Didaktik als Theorie des Unterrichts und für die Schultheorie, versucht.


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Anmerkungen


[1] ) Vgl. dazu meinen Sammelband "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", Weinheim 1976 und die teilweise geänderte, um den Anhang der deutschen Fassung gekürzte japanische Version dieses Buches, Tokyo 1984, bes. die erste Abhandlung "Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik - Empirie - Ideologiekritik". - Ergänzend weise ich auf zwei weitere meiner Publikationen hin: Thesen und Argumentationsansätze zum Selbstverständnis kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. In: E. König / P. Zedler (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme. Paderborn/München 1982, S. 15 - 52. - Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft. In: R. Winkel (Hrsg.): Deutsche Pädagogen der Gegenwart. Düsseldorf 1984, S. 137 - 162.

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[2] ) Vgl. die Abhandlung "Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik - Leistung, Grenzen, kritische Transformation" in diesem Band.

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[3] ) Vgl. dazu meine Abhandlung "Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung". In: Zeitschrift für Pädagogik 1986, S. 455 - 476, jetzt in der erweiterten Auflage meines Buches "Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 2. Aufl. Weinheim 1991, 4. Aufl. 1994.

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[4] ) Vgl. die entsprechenden Literaturangaben in der Abhandlung "Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie" in dem in Anm. 1) genannten Sammelband "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", japanische Ausgabe, Tokyo 1984, Anmerkungen 1) und 51).

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[5] ) Vgl. K Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972. - D. Baacke: Kommunikation und Kompetenz. Grundlagen einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. 2. Aufl. München 1975. - W. Lippitz: "Lebenswelt" oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 1980. - M. Brumlik: Symbolischer Interaktionismus. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1, hrsg. von D. Lenzen und K. Mollenhauer, Stuttgart 1983, S. 232 - 245.

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[6] ) Vgl. als Beispiel aus dem Bereich zeitgeschichtlicher Kindheits- und Jugendforschung meinen Beitrag über "Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus in autobiographischer Sicht" in diesem Band.

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[7] ) Vgl. dazu den Aufsatz "Ideologiekritik" in dem in Anm. 1) genannten Band "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", japanische Ausgabe Tokyo 1984.

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[8] ) Vgl. W. Klafki "Grundlinien kritisch-konstruktiver Didaktik" und "Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik", beide Abhandlungen in meinen "Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 2. erw. Aufl. Weinheim 1991, 4. Aufl. 1994, - Beide Arbeiten werden außerdem in einem Sammelband von Aufsätzen in japanischer Übersetzung erscheinen, den die Kollegen Prof. Hayashi, Prof. Takahashi und Dozent Sakurai z. Zt. vorbereiten. - Zur Schultheorie vgl. meinen Beitrag "Kriterien einer guten Schule" im vorliegenden Band.

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