Protokoll der 83. Abendaussprache [Anm. 1]


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. VII, o.S.

[Datum: Mi, 16.05.1928 - Protokollant: Heinz Wagner]


Für die 83. Abendaussprache wird von dem damaligen Geschäftsführer Werner Fiebig der 16. Mai, ein Mittwoch, festgelegt.

Nachdem die Gemeinschaft sich um 3/4 8 im Gartensaal versammelt hat, ergreift Blume das Wort und liest den neuen Kameraden, die an dem Tage vorher hier eingezogen sind, einen Beitrag aus der Chronik vor, der im Jahre 1924 von einem neu eintretenden Schüler geschrieben wurde und von ihm die Überschrift "Ein farbiges Blatt" erhalten hat.

Kurt Martinu spielt als musikalische Einleitung: Variationen über Beethoven; dann eröffnet der Geschäftsführer die Aussprache und erteilt sich selbst das Wort, um die Neuen etwas mit der Bedeutung der Abendaussprache vertraut zu machen. Er beginnt mit der Entwicklung der Abendaussprache, wie zuerst die Verhältnisse im Jahre 1922 geregelt wurden, wie bei dieser Gelegenheit die 6 Novemberpunkte aufgestellt wurden. Weiter erzählt er, wie bisher die Stimmrechtsverleihung gehandhabt wurde, daß nach einem Jahre Hierseins die Endabstimmung erfolge, während die Lehrer nach 3 Abendaussprachen stimmberechtigt seien. Das solle die Neuen aber nicht verhindern, Anträge zu stellen, die man an den Ausschuß zu richten habe; da es diesen aber seit Oktober 1927 nicht mehr gibt, müsse man die Anträge dem Geschäftsführer übergeben. Er berichtet von den Neuwahlen, die halbjährlich für alle Ämter stattfinden und daß jeder Stimmberechtigte ein Amt bekleiden kann. Nach Verlegung des ersten Tischspruches, der hier auf der Insel gesprochen wurde, geht man zur Tagesordnung über, und Samter erhält zu seinem Antrag: "Einschränkung der Pfingstferien auf 5 Tage" das Wort. Er sagt, daß diese Frage schon 1922 und 23 actuell gewesen sei. Für ihn seien zwei Gründe maßgebend:

1.) (der Hauptgrund) seien die Neuen erst eine Woche hier, und wenn jetzt nach dieser Woche eine Unterbrechung eintrete, erschwere man ihnen das Einleben.

2.) Wäre es auch für die Älteren gut, wenn nach zwei Arbeitswochen der Unterricht wieder zu seinem Rechte käme. Man könne sich auch in der Zeit bis zu den "Großen Ferien" besser auf das Ernefest vorbereiten.

Dr. Radvann wendet sich gegen den Antrag und sagt, daß, wenn man sich in der Unterrichtszeit wirklich konzentriere, eine Einschränkung überflüssig sei. Dann wären wir auch nicht berechtigt, die festgesetzten Ferien willkürlich zu ändern, da wir dem Ministerium unterstehen. Aus diesen Gründen stelle er den Gegenantrag, die Ferien so zu belassen, wie sie festgesetzt seien.

Samter versteht das Ausruhen in den Ferien, wenn ein größerer Zeitraum dazwischen liegt; da wir aber nur zwei Wochen Unterricht hätten, könnte man ein Ausruhen nicht in Betracht ziehen. Außerdem könne man auch größere Wanderungen in den 5 Tagen, die sein Antrag vorsieht, machen.

Herr Spree muss dem Antragsteller beipflichten und fragt, wie weit sich Arbeitstag und Unterrichtstag gleichen. Man antwortet ihm, daß an Arbeitstagen 2 Stunden Unterricht stattfinden. Als dann Bauer an unser 4-Wochensystem erinnerte, das durch den Antrag Samters gestört würde, stellte Jandt den 3. Antrag, die Ferien auf eine Woche zu beschränken. Nach ihm ergreift Blume das Wort, um Radvann auf seine Ausführungen zu erwidern. Er sagt, daß wir zwar dem Ministerium unterstehen, daß uns aber von dieser Seite

((o.S.))

noch nie Schwierigkeiten gemacht worden sind. Er erinnert an die Zensuren, die es bei uns nicht gibt, an die Arbeitswochen und viele andere Dinge. Wir wollen uns diese kleinen Freiheiten, anderen Schulen gegenüber, auch erhalten; er habe im Gegenteil den Eindruck, daß man in dieser Hinsicht noch viel mehr von uns erwartet. Übrigens sei die Sache, für die er die Verantwortung tragen wolle, nicht so wichtig; nur käme sie etwas zu spät, da sich sicher schon jemand für die 2. Woche verpflichtet hätte. Seine Anfrage ergibt 3 Schüler, die mit dieser Woche gerechnet haben. Er stellt dann den 4. Antrag, den Compromissantrag, wie er ihn selber nennt, die Ferien bis zum Sonntag festzusetzen und den Unterricht am Montag beginnen zu lassen. Die folgende Abstimmung ergibt dann:

für den ersten Antrag - 1 Stimme
für den zweiten Antrag - 13 Stimmen
für den dritten Antrag - 5 Stimmen
für den vierten Antrag - 26 Stimmen

Als der Antrag Blume angenommen worden ist, liest der Antragsteller aus der Chronik vor, wie es im Jahre 1922 mit den Pfingstferien war, um den Neuen unsere Lebensweise zu zeigen.



Man kommt zum 2. Punkt der Aussprache. Nachdem der Antragsteller Dr. Radvann das Wort erhalten hat, bittet er, seinen Antrag nicht als "Bierulk" aufzufassen und liest ihn dann vor:

1.) Die gesamte Zwischenstufe geht restlos um 9 h schlafen.
2.a.) Die Oberstufe geht spätestens um 10 h schlafen.
2.b.) Ausnahmen sind nur in wirklich dringenden Fällen gestattet. Für jeden Einzelfall ist die Erlaubnis des Kroniden rechtzeitig einzuholen.

Er führt weiter aus, daß der Antrag ja schon zur Hälfte bestanden hätte, daß nämlich die Zwischenstufe um 9 h ins Bett gehen müsse [Anm. 2]. Es handle sich hier in der Hauptsache um die Oberstufe. Das lange Arbeiten wäre überflüssig, wenn man sich mehr konzentrieren würde. Zweitens wäre vieles nicht geschehen, wenn der Antrag früher gekommen wäre. Bobs Teutenberg spricht gegen diesen Antrag, da er sich nach seiner Meinung nicht durchführen lässt; erstens ist es meistens zu spät um den Kroniden aufzusuchen, zweitens seien wir alt genug, um selbst zu entscheiden, ob wir aufbleiben wollen. Nachdem Dr. Radvann erklärt hat, daß hier von Bevormundung keine Rede sein kann und daß man den Kroniden findet, wenn man ihn wirklich sucht, stellt Samter fest, daß ein getrenntes Schlafengehen kaum stattfinde und fragt, wie der Kronide entscheiden kann, ob die Arbeit wichtig sei oder nicht. Dr. Moslé ergreift das Wort und erklärt allgemein, daß man zu der Oberstufe Vertrauen haben müsse, dagegen muß man die Zwischenstufe zum frühen Schlafengehen anhalten, um Körper und Willen der Jungens zu stärken. Dr. Radvann sagt darauf, daß sein Antrag das Arbeiten in der Nacht verhindern will. Dr. Moslé erwidert, daß er in der Nacht am besten arbeiten kann. Dann erhält Herr Blume das Wort und führt aus, daß er vor 1927 alles unterschrieben hätte, was sein Vorredner gesagt habe. Er täte es jetzt nicht mehr, da das vorige Jahr bewiesen hätte, daß in den Kreisen, die der Antrag angeht, keine Überlegung bestand; darum müsse jemand da sein, der für solche Fälle die Verantwortung trägt (er erinnert an den Lehrer, der an anderen Schulen die Pausen beaufsichtigt). Das muß sein, damit wir auch vor der Öffentlichkeit gedeckt sind. Er schlägt vor, eine Stimmungs-Abstimmung zu machen, da er diesen Antrag, wenn er nicht angenommen werden sollte, noch der Schulgemeinde

((o.S.))

übergeben will; er will jedenfalls nicht allein verantwortlich sein, und er stellt dann den Schlussantrag. Nachdem dieser angenommen ist, stimmt man über den Antrag Radvanns ab. Es ergibt sich, daß 42 Stimmen dafür sind. Der Antrag ist somit angenommen worden [Anm. 3].

Zum nächsten Punkt: "Anfragen und Anregungen" erhält Bobs Teutenberg das Wort und bittet die Lehrer, die Tischdienste pünktlich aus dem Unterricht zu entlassen, da es bei der großen Anzahl Gedecke auf jeden einzelnen ankomme.

Dann bittet er neue Sonntagsfährdienste vorzuschlagen. Nachdem sieben Schüler vorgeschlagen sind, stellt Blume den Antrag, Glasenapp als "verantwortlichen Mann" und Bobs Teutenberg als Dienstverteiler mit dieser Angelegenheit zu beauftragen. Dieser Antrag wird angenommen.

Es folgen Mitteilungen Blumes. Er teilt mit, daß Herr Bandmann Studienrat geworden ist; er grüßt alle von Fritz Dietz, der einen Brief geschrieben hat und überreicht Heinz Heimhold mit einem Spruch Fichtes das Reifezeugnis.

Da die Tagesordnung so weit erledigt ist, müsse der neue Aussprachenleiter gewählt werden. Die Wahl fällt auf Teutenberg (15) vor Schipkus (8) und Jandt (8 Stimmen).

Bauer spielt ein Andante von Beethoven und zum Schluß spricht Blume noch einmal zu den Neuen. Sie sollten sich durch das viele Reden nicht abschrecken lassen. Damit wir nicht an Arterienverkalkung erkranken, sind uns Besserungsvorschläge aus dem Kreise der Neuen immer willkommen. Er bittet dann noch um Vorschläge über die Gestaltung des Himmelfahrttages und schließt um 1/4 10 Uhr die Aussprache.

Heinz Wagner.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Faksimiliert abgedr. in: 60 Jahre Schulfarm Insel Scharfenberg 1922-1982. Jubiläums-Festschrift anläßlich des 60-jährigen Bestehens der Schulfarm Insel Scharfenberg (=Sonderheft der Fähre), Berlin 1982, S. 30-32.

Anm. 2:
S. Protokoll der 54. Abendaussprache vom 28.01.1925.

Anm. 3:
PS Wagner: WAGNER, Heinz, Auch das war Scharfenberg. Erinnerung an einige Episoden im Inselleben der Jahre 1926-29, S. 1f.: "Was [...] konnte den Chef dazu gebracht haben, seine Meinung so zu ändern? Hier kann ich nur vermuten, denn die nachstehend geschilderte Begebenheit kenne ich nur vom Hören-Sagen. Sie hat sich mir aber trotzdem so stark eingeprägt, daß sie mir nun als eine Erklärung für die Bemerkung Blumes einfiel. Es ist demnach wohl so gewesen, daß die Gruppe der im Bollehaus unten wohnenden Oberstüfler - etwa 5 bis 6 - noch bis in die Nacht im Bibliotheks-Raum versammelt war, diskutierte und agierte. Ob nun ein bestimmtes Thema der Auslöser war für das, was sich dann ereignete, weiß ich nicht. Es ist aber wohl sicher, daß der Schüler Heinz L. sich damit brüstete, eine Dosis Gift - Strychnin, Zyankali? - bei sich zu haben, und daß er sich durchaus getrauen würde, es zu nehmen, daran sollte niemand zweifeln! Die anderen waren verständlicherweise so verwirrt und verunsichert, daß ihn keiner hindern konnte, das Pulver zu schlucken. Er stürzte aus dem Haus ins Dunkle. Man suchte sofort und fand ihn dann auch in der Nähe des Hauses, tot und völlig verkrampft. Wir erfuhren von alledem nur gesprächsweise und ungenau, auch nichts über die Herkunft des Giftes. Es ist mir aber so die späte Reaktion des Chefs klar. Mit der Entscheidung für einen frühen und festgelegten Tagesschluß würde solch unkontrollierten, ausufernden Gruppierungen die ((2)) Möglichkeit entzogen, ähnliches Verhalten wie im Fall Heinz L. zu provozieren. Der Antrag Radvanns wurde angenommen. Für die "Kleineren" bedeutete das keine Veränderung [...]."



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