Protokoll der 63. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 252-257 und 258: Protokollarische Erklärung zur 63. Abendaussprache" von W. Blume (s. hier Anhang 1).

[Datum: Fr, 13.11.1925 - Protokollant: Rudolf Grieger]


Ein Kammerorchester, bestehend aus Jenke, Faas, Pewesin, Opalka spielte Lieder von G. Schein, mit denen die Abendaussprache ein- und ausgeleitet wird.

I. Zu Punkt 1 der Tagesordnung, Deklamationssonntag, schlägt der Antragsteller (Hoffmann) vor, einen Deklamationssonntag zu veranstalten, an dem sich alle beteiligen. Er denke sich diesen Deklamationssonntag in der Art unseres Sportsonntags, als eine Gelegenheit, gemeinsam zu löblichem Tun sich zusammenzuschließen, und mache diesen Vorschlag, um auch hier einen Überblick über die Leistungen zu bekommen, daß die Deklamationen von der Hörerschaft nach dem Prinzip unserer Aufsatzbeurteilung gewertet werden. Die Abstimmung ergibt, daß 23 dafür, 19 dagegen sind. Berisch möchte von einer Zettelbeurteilung absehen, und schlägt vor, eine Commission einzurichten. Unter Vertagung der Wertungsfrage wird eine Commission, bestehend aus 5 Mitgliedern gewählt (Hoffmann, Blume, Berisch, Link, Geister). Als Datum für den Deklamationssonntag wird nach verschiedenen Vorschlägen der 13. Dezember mit 29 gegen 17 Stimmen festgelegt.

II. 2. Punkt Weihnachtsfeier: Die Anfrage Blumes, wollen wir wieder eine Weihnachtsfeier begehen, wird einstimmig angenommen, da Vorschläge gewünscht werden, hält man es für angebracht, Herrn Wolff, den bewährten Weihnachtsmann früherer Jahre, nach seiner Meinung zu fragen. Er sagt, daß er sich mit dem Gedanken trage, wieder eine Revue zu bieten und schon Zusammenkünfte mit seinen Helfern im Gange seien. Opalka ist gegen eine Revue, vielmehr meint er, daß ihn die heitere Poesie des Weihnachtsmannes mehr und mehr unsympathisch berühre, aber Berischs Einwand, doch die Revue als traditionellen Mittelpunkt unserer Weihnachtsfeier beizubehalten, findet allgemeine Beistimmung, nur meint Blume, wäre es wohl angebracht, der Sache einen anderen Rahmen zu geben. Nach der Mitteilung Blumes, die

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Ferien beginnen am 22. Dezember, wird der 21. und 22. für eine Weihnachtsfeier vorgeschlagen. Der Vorschlag Schramms, doch den 22. zu wählen, wird mit der Abstimmung, die die Mehrheit von 29 Stimmen für den 21. ergibt, abgelehnt.

III. Punkt 3 der Tagesordnung befaßt sich mit dem Sparantrag Geister. Der Antragsteller wünscht, um den aus dem Gesamt-Kulturunterricht heraus entstandenen Zukunftstraum einer größeren Rheinreise zu verwirklichen, daß ein jeder schon jetzt anfange, zu sparen. Es müßte für jeden Sparer ein Konto eingerichtet werden, die Pfennige und Marks könnten in die Blechbüchse wandern und wenn jeder fleißig spart, würde im Fall einer Reise ein Grundfond zur Stelle sein, jeder erhalte dann das von ihm eingezahlte Geld, das sonst vielleicht ausgegeben worden wäre, ausgehändigt. Die Anfrage Blumes, wer eine Rheinreise mitzumachen plane, wird von allen freudig begrüßt. Heinrichsdorff betont, daß doch für Scharfenberg nur die Möglichkeit einer gemeinsamen Kasse bestände. Es wird über die Frage, ob nach dem Vorschlag Geisters oder nach dem Heinrichsdorffs verfahren werden soll, abgestimmt. Die Abstimmung ergibt Stimmengleichheit, auf jeden Vorschlag entfallen 19 Stimmen. Der Compromißvorschlag Fritz Blümels 2 Kassen einzurichten, von denen die 1. regelrechte Sparkasse, die andere eine gemeinsame Reisekasse darstellt, wird abgelehnt, ebenso der Vorschlag M. Grotjahns, 10% der Sparkasse zu nehmen und auf die Zuschußkasse zu verwenden. So muß der Vorsitzende den Ausschlag geben, in diesem Falle Blume, und er entscheidet sich dafür, daß das gesparte Geld jedem einzelnen, bei Beginn der Reise zurückerstattet wird. Blume wäre entschieden für die von M. Grotjahn vorgeschlagene Form, da bei ihr das notwendige Interesse des Einzelsparers mit den selbstverständlichen Forderungen der Gemeinschaft vereinigt sei. Da man aber diese Form abgelehnt habe, und eine Entscheidung "entweder - oder" von ihm wünsche, gäbe er mit vollem Bewußtsein die Entscheidung für die von Geister geplante Art; denn nach seinen Erfahrungen sei auf ein Mehrzahlen der

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Wohlhabenderen kaum zu rechnen, und dem ärmeren könne man es nicht übel nehmen, wenn er seine Spargroschen erst einmal dazu verwenden wolle, das Reisegeld zusammenzukriegen; ehe man an eine gemeinsame Extrakasse denken könne. Wem daran liege, daß wir die Reise wirklich machen zur Erweiterung unseres Horizontes und zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, dürfe sich nicht von blassen ideologischen Theorien leiten lassen.

IV. unter Punkt 4 stehen die Wahlen des Bullenbauwartes, Buchbinderwartes und Kunstberichterstatters aus. Zum Bullenbauwart werden vorgeschlagen Klose, Samter, Berisch, Voigt. Berisch erklärt sich bereit, dieses Amt anzunehmen, wobei die Bemerkung Blumes, dann behält Berisch, der sein Literaturberichterstatteramt aus fachlichen Gründen niedergelegt hat, als literarischer Mensch noch immer Fühlung mit der Zeitung, allgemeine Heiterkeit erregt. Als Kunstberichterstatter werden genannt: Samter, Rehse, Völkner. Rehse wird mit 28 Stimmen gewählt. Zur Besetzung des Buchbinderwartes werden drei Kandidaten genannt: Astheimer, Hoffmann, Grieger. Astheimer bittet, ihn nicht mit diesem Amte zu betrauen, da er beabsichtige, sich von der Buchbinderei zurückzuziehen. Grieger wird mit 29 Stimmen gewählt. Nun steht noch ein Antrag Oeser aus, der dahin geht, den technisch-naturwissenschaftlichen Bericht zu spalten, und zwar am Montag den technischen Bericht, und am Donnerstag die Naturwissenschaften. Erwin Oeser will fernerhin technischer Berichterstatter bleiben, und so muß die Naturwissenschaft neu besetzt werden. Genannt werden Heimhold und Heide. Heimhold erhält die entscheidende Stimmenmehrheit.

V. Der nächste Punkt betrifft eine Umordnung des Frühstückund Abendtisches. Blume teilt mit, daß der Ausschuß vorschlage, um die Stullenzählerei aus der Welt zu schaffen, es mit einer neuen, freieren Form zu versuchen, nach der jeder allein seine Schnitten beschmiert. Die Abstimmung ergibt einstimmige Annahme des Vorschlages. Der 1. Einwand Fräulein Kalähnes, daß durch den neuen Modus ein bedeutender Mehrverbrauch an Butter und Marmelade entstehe, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, und muß durch vernünftiges

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verwenden aller vermieden werden. Im 2. Einwand führt sie an, daß sie eine Verspätung der Aufwäscher befürchte, und bittet, mit dem Tischdienst schon früher zu beginnen. Der Tischdienst fängt somit statt 6 3/4 Uhr, 6 1/2 Uhr an, die Tische zu decken.

VI. Der 6. Punkt beschäftigt sich mit einer Unterrichtsangelegenheit. Die von unserem früheren Naturkundler M. Grotjahn eingerichteten Leitsätze über den naturwissenschaftlichen Unterricht wurden von ihm selbst erläutert und zur Debatte gestellt. Sie bezwecken ein stärkeres Ausgehen von dem auf der Insel vorhandenen, biologischen Material. Grundsätzlich stimmen alle Scharfenberger dem zu. Herr Lehmann, der jetzige Fachlehrer, hat bei der Durchsicht der Leitsätze auf Schwierigkeiten der Praxis hingewiesen. Sie haben ihren Grund einmal in der zu geringen Anzahl der Assistenten und zweitens in dem im Kern weithin mangelnden Interesse. Die Leitsätze sollen der Chronik einverleibt werden. Blume bittet Grotjahn, wenn es ihm mit Änderungsvorschlägen ernst sei, sich nicht mit Lehrplanvorschlägen zu begnügen, sondern ganz spezielle Anweisungen aus dem konkreten Material herauszuarbeiten.

VII. Unter Punkt 7 fallen Anregungen und Mitteilungen. Da die Umschau zu fachwissenschaftlich gehalten ist [Anm. 1], möchte Oeser, um den technisch Interessierten Genüge zu tun, ein Abonnement der illustrierten Technik vorschlagen, die monatlich 80 Pf. koste. Der Vorschlag wird mit 27 Stimmen angenommen. Im Anschluß hieran teilt Blume mit, daß die Frankfurter Zeitung, die uns einen Monat von Familie Heinrichsdorff gehalten [worden] sei, fortan von der Redaktion gestiftet werde. Um unserem Spiel im Freien mehr auf die Beine zu helfen, ist Herr Heller, wie Jenke mitteilt, bereit, am Sonntag [in] der Schulgemeinde am Vormittag sportliche Unternehmungen zu leiten. Mit 30 Stimmen wird das freundliche Anerbieten Herrn Hellers angenommen. Blume gibt ferner zu bedenken, daß die Anmut unserer gymnastischen Übungen nicht alleine durch Stockumreißen gefördert werde, er [er]innert an Gemeinschafts-

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beschlüsse, so sei der Dauerlauf obligatorisch, die Freiübungen beständen auch noch, desgleichen das Streichhölzerverbot für Nichtheizer. Ferner bittet er den Gartensaalwart doch vor dem Ofen wieder das Blech aufzustellen, da ihm sonst in diesem Raum infolge der Hitze Unterricht zu geben, unmöglich sei. Gegen Antrag Bandmann, doch den Klavierspielern am Vormittag das Klavierspiel zu gestatten, mit der Begründung, daß in der Regel ja im Bollehaus kein Unterricht stattfinde, wird von Walter Schramm und Herrn Wolff geltend gemacht, daß es einmal im Interesse einer guten Zeiteinteilung liege, den Vormittag wissenschaftlich auszunutzen, zweitens sei bei Aufhebung des Beschlusses ein Überhandnehmen von Geklimpere müßiger Hände zu befürchten. Die Abstimmung ergibt 5 Stimmen für die Anregung Bandmann. Der Antrag Blümel, dem Fachlehrer das Spielen auch morgens zu gestatten, da der Vormittag zu sehr besetzt sei, wird angenommen. Der Ausschuß schlägt vor, es am Bußtag so zu halten, wie im Vorjahre, d.h. Kirchgänger gehen zur Kirche, die übrigen treiben mit Herrn Scheibner Zeichnen und Handfertigkeit, für die Oberstufe ist Studientag. Heller hält es für angebracht, für den Fährkahn eine Matte zu beschaffen, um den Gästen einen sauberen Platz zu garantieren. Dann übergibt Blume dem Protokollanten eine schriftliche Erklärung, die er zuzufügen bittet: sie ist entstanden unter dem Eindruck einiger Vorkommnisse in der letzten Zeit, die ihn befürchten lassen, daß wir nie zu einem anständigeren und vornehmeren Gemeinschaftsleben kommen.

R. Grieger.


[Anhang: Die oben genannte Erklärung Blumes (S. 257):]

Protokollarische Erklärung zur 63. Abendaussprache.

Ich habe meine besten Möbel zum Bedauern meiner Mutter nach Scharfenberg bringen lassen, habe ein ganzes Zimmer unseres der Stadt gehörigen Hauses u. die notwendigen Farben zu einer künstlerischen Raumgestaltung zur Verfügung gestellt, habe auf städtische Kosten ein Kurszimmer und einen Hörsaal so einrichten lassen, wie es sicher nicht in der Absicht der Bewilligenden gelegen hat, eben nicht als Schulräume, das alles aus der Meinung heraus, daß nur der halb unbewußt wirkende Einfluß einer schöneren täglichen Umgebung hoffen läßt, den hier nun einmal eingewurzelten Berliner Sauherdenton einzudämmen, die hier namentlich im Verhalten der Schüler untereinander üblichen flegelhaften Umgangsformen zu beseitigen; wirken diese doch auf die Dauer auf die zarter empfindenden Naturen abstoßend oder abstumpfend; diese passen sich entweder mit der Zeit an oder ziehen sich in sich selbst zurück, so daß die an sich schon unendlich schwierige Entstehung wahren Gemeinschaftsgefühls unmöglich wird, das ohne einen gewissen Takt, ohne eine etwas beherrschtere Lebensführung stets eine Phrase bleiben wird.

Einige Beobachtungen in der letzten Zeit lassen mich zweifeln, ob der von mir eingeschlagene und für praktisch allein möglich gehaltene Weg, von anständiger gestalteter äußerer Umgebung aus zu schlichter innerlicher Vornehmheit zu gelangen, in Scharfenberg gangbar ist. Man kann hier in Schlafstuben kommen, die ungemütlicher und abstoßender berühren als die wenigstens sauberen Buden ehemaliger Kasernen; man kann immer noch - etwa an der Fähre oder auf dem Braunhofe in der Umgegend des Kartoffeldämfens Unterhaltungen hören und Roheitsdelikte sehen, gegen die man bei unseren Mitteln machtlos die Waffen streckt; es geht über das erlaubte Maß jeglicher Tolpatschigkeit hinaus, wenn ein neuer schwerer eichener Stuhl im Kurszimmer schon jetzt aus dem Leim geräkelt ist, oder wenn der Sitz der neuen Binsenbank im Saal durchgebrochen ist und mit einem neuen Eisenband repariert werden muß, wobei es selbstverständlich um mehr geht als das Geld.

Ich erkläre hiermit, nicht in einer Aufwallung augenblicklichen Unmuts, sondern schriftlich, als Beigabe zum Protokoll der heutigen Abendaussprache, daß ich, wenn durch derartige Vorkommnisse der beschrittene Weg zu einer inneren Hebung des Gemeinschaftslebens ungangbar gemacht wird und wir in dieser Richtung nicht endlich weiter kommen, ich meine Kräfte nicht lange mehr den Berliner Jungen widmen mag, sondern in einer anderen Landschaft mit anders geartete Jungen suchen werde.

Blume.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Vgl. Protokoll der 54. Abendaussprache vom 28.01.1925.



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