Protokoll der 59. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 209-212 und 215 [Anm. 1]

[Datum: , 01.07.1925 - Protokollant: [anonym]


Zwei Klavierstücke: "Deutsches Lied" und "In der Kirche" von Tschaikowskij leiten die Abendaussprache ein.

P.I. Herr Blume gibt nach Begrüßung der zahlreich anwesenden älteren Scharfenberger das Ergebnis der Abstimmung über das Probevierteljahr bekannt. Von 41 Stimmberchtigten war zwei Mitgliedern für diese Wahl die Stimmberechtigung entzogen worden [...] [Anm. 2], sodaß die zur Nichtannahme nötige 2/3 Mehrheit 26 Stimmen betrug. Jacobi und Gurau hatten diese Zahl weit überschritten. Bei Jacobi fürchtete man hauptsächlich, daß sein längeres Verweilen auf der Insel nicht zur Hebung des guten Tones beitragen könne. Gurau dagegen wurde ziemlich einstimmig wegen seiner allzu städtischen Einstellung abgelehnt. Dann gab der Vorsitzende die Wahlergebnisse der übrigen 14 bekannt und fügte bei jedem einige Wünsche für die Zukunft aus dem ihm vom Ausschuß übergebenen Material hinzu.

P.II. Arnold Fritz führt zur Begründung seines Antrages auf Einschränkung des Radfahrens auf der Insel an: 1. Das Fahren ist für uns überflüssig, ein schneller Dauerlauf erzielt dasselbe. [2.] Außerdem ist es oft vorgekommen, daß von Kameraden die Räder unerlaubt gebraucht und manchmal sogar Teile abmontiert wurden. Nur Landwirten und Feuerwehrleuten soll das Radfahren gestattet sein. In der Debatte wird Einschränkung des zwecklosen Radelns gewünscht. Zum Verbot kommt es nicht, da das häufige Fahren eine ganz natürliche Folgeerscheinung der Freude über ein neues Rad ist und mit der Zeit wohl, wenn der Reiz der Neuheit vorüber - oder die ersten Speichen geknickt sind, von selbst nachlassen wird. Nach einem Hinweis auf die vor Jahren geschaffene Bannmeile [Anm. 3] wird Antrag Arnold Fritz abgelehnt.

P. III. Der Antrag Teutenberg auf Verminderung der Wapo bei geringer Badebeteiligung wird nach Festsetzung des Verhältnisses: 1 Wapo für 6 Badende angenommen.

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P. IV. Antrag Steinauer auf Absetzung des Tintenwartes wird nach einer kurzen Erklärung des Antragstellers über die Besserung der bemängelten Tintenversorgung von ihm selbst zurückgezogen.

P. V. Antrag Berisch auf Abschaffung des Feuilletonberichtes stützt sich auf die bisherigen schlechten Erfahrungen und auf die Tatsache, daß man es Menschen nicht recht machen kann. Während der politische Bericht sich nur auf politische Tatsachen, manchmal auch auf Zusammenhänge erstreckt, so ist durch die Mannigfaltigkeit der Feuilletongebiete eine Zersplitterung erklärbar. Als Gegenbeweis führt Noeggerath die Vorträge W. Schramms an, die alle Interessen gerecht und eingehend behandelt hätten. Da Berisch Schramms Vorträge für zu lang in der kurzen Zeit beim Abendessen hält, schlägt Schramm vor, Feuilletons Mittags und Politik Abends zu behandeln. Völkner schlägt vor, jeder solle einmal das Referat übernehmen. Blümel und Frey treten für Teilung der einzelnen Gebiete ein. Völkners Vorschlag wird abgelehnt, Vorschlag Frey - Blümel dergestalt angenommen, daß sich die Verteilung auf die Wochentage wie folgt verteilt: Montag: Kunst und Wissenschaft, Donnerstag: Naturwissenschaft und Technik, Mittwoch: Sport.

P. VI. In seinem Antrag auf Wahl eines Kommissars für offene Abende erklärt Berisch, daß der augenblickliche Mangel an Unterhaltungsabenden nicht aus Mangel an Zeit entstanden ist. Er verspricht sich eine Besserung durch einen Organisator, der die Vorschläge sammelt, den Stoff verteilt - kurz der die Sache in die Hand nimmt. Ihm wird entgegenet, daß, wer Lust habe, doch allein aus eigenem Antrieb einen Abend veranstalten könne, sei es nun einen Unterhaltungsabend oder einen philosophischen, naturwissenschaftlichen oder technischen Abend. Aber scheinbar liege gar kein Bedürfnis für solche Veranstaltungen vor. Berisch erwidert darauf, daß lediglich die Trägheit Abende verhindere.

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Deshalb solle man sich einen Kommissar wählen, der die Sache in Schwung bringt. Blume entgegnet, die dazu Berufenen könnten es aus sich heraus machen. Blümel zieht den Schlußstrich unter die Debatte, indem er das Fehlen des Interesses konstatiert und verlangt, ein Gesetz, das das Scharfenberger Prinzip der Selbsttätigkeit im weiteren Sinne angreift, nicht anzunehmen. Antrag Berisch wird abgelehnt.

P. VII. Antrag Metz, Opalka gegen eine elektrische Lichtanlage. Metz: Der Antrag ist nicht aus irgendwelchen romantischen Gefühlen entstanden. Das Petroleumlicht ist etwas Wesentliches in unserem Scharfenberger Leben, da es die gemeinschaftsbildende Geselligkeit bei gelegentlichen Abenden, beim Abendessen usw. durch seinen traulichen Charakter mehr unterstützt, als es die kalte an Materialismus mahnende Helligkeit des elektrischen Lichtes zu tun vermag. Das echte Scharfenbergertum droht durch eine mehr materielle Einstellung zu verflachen. Deshalb kann und muß man auch zu äußerlichen Mitteln greifen, um dadurch das Innerliche zu erziehen. Wir werden schon genug von städtischen und staatlichen Behörden verwöhnt. Wollen wir dann noch die Gabe des Reiches, vermittelt durch die Ruhmsucht einer egoistischen Frau, annehmen, wo im Reiche noch so viel Lebenswichtiges zu unterstützen ist ? Das wäre unfair gehandelt! Im Anschluß hieran wird ein Brief Paul Heinrichsdorffs der den Punkt der allzuguten Behandlung von Seiten der Behörden berüht und vor der Gefahr eines allzu bequemen Lebens warnt und auf Scharfenberg die Tendenz zur Sattheit möglichst unterdrückt wissen will. Frey: Romantik ist heute nicht angebracht. Wir müssen mit der Kultur mitgehen. Wenn wir dann das Prinzip der Einfachheit nicht aufrecht erhalten können, müssen wir uns eben zu einem neuen Leitgedanken bekennen. Frl. Kalähne spricht sich aus Gesund- und Sicherheitsgründen scharf gegen den Antrag aus, während Fritz Blümel sich den inneren Gründen der Antragsteller anschließt. W. Grundschöttel konstatiert, daß bei früheren

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Debatten über den Kauf eines Petroleummotors zur Erzeugung von Elektrizität niemand aus prinzipiellen Gründen dagegen gesprochen habe. Darauf lehnt Metz den Vorwurf Freys , daß der Antrag aus romantischen Gründen entstanden sei, ab und weist Grundschöttels Konstatierung mit dem Hinweis auf die damalige starke Tradition zurück. Berisch fühlt sich von dem Gedanken, daß das Symbol des Scharfenbergertums - grob gesagt - eine Petroleumlampe sei, peinlich berührt und betont zum Schluß, wenn wir auch den Grundsatz der Einfachheit hätten, so sei doch unter Einfachheit nicht Primitivität zu verstehen. Nach einer kleinen kulturhistorischen Einleitung äußert sich Schramm dahin, daß man mit dem Kulturfortschritt mitgehen müsse und es keinen Zweck habe, sich einer solchen Macht von kulturellem Wert zu widersetzen. Wir müssen eine neue Stileinheit schaffen, denn Verharren und Feststehen ist der Tod unserer ganzen Richtung. Hans Blobelt malt uns dann einige Zukunftsbilder: Stall und Scheune in elektrischer Beleuchtung. An Projektionsapparat wird erinnert [Anm. 4]. Metz bittet, da Lehmann gegen das Reich etwas ausfallend sprach, sachlich zu bleiben und bezweifelt die Notwendigkeit eines Epidiaskops. Blume meint, daß es gut gewesen wäre, auch gleich am Anfang der Debatte sachlich zu bleiben und nicht von einer Dame, bei der wir uns, wenn die Mittel bewilligt werden, sehr bedanken müssen, in wenig taktvoller Weise zu sprechen. 2. ist es ja noch fraglich, ob das Reich das Geld bewilligt. Im Reichsministerium des Innern werden die Herren schon wissen, was sie mit dem Gelde tun; da hätte die Annahme des Anerbietens durchaus nichts mit fair und unfair zu tun. 3. haben wir im Scharfenberger Unterricht das Prinzip der Anschaulichkeit, das uns die Beschaffung eines Epidiaskops eigentlich zur Pflicht macht, um die heutigen Übelstände zu beseitigen. 4. ist die Umstellung auf eine neuzeitliche Lichtanlage keine so wichtige Veränderung. Hätten wir damals den Motor gekauft, oder wäre von vornherein das Licht auf der Insel gewesen, so wären wir heute nicht

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weiter, aber auch nicht zurück. Eine Selbstverständlichkeit, wie es die Anlage von elektrischem Licht heute bedeute, könne keine Veranlassung zu irgend einer Wesensänderung im Gemeinschaftsleben sein. Blume versteht den Antragsteller vollkommen; hält die Einwände, die man gegen ihn gemacht hat, etwa die Blobelts für lächerlich und am Antragsteller vorbeizielend, müsse aber trotzdem gegen Metz stimmen. Für Metz' Antrag erklärten sich 5, 48 dagegen.

Punkt VIII. Wiedergutmachungsprinzip, von der Schulgemeinde zurückverwiesen [Anm. 5], wird der vorgeschrittenen Zeit wegen abgesetzt.

Punkt IX. Vorschläge zur Gestaltung des Erntefestes. Man will dem Fest Rahmen und Einkleidung eines Dorffestes geben mit Schützenverein, Turnverein Jahn, Feuerwehr, Bauern, Handwerkerinnungen, Bänkelsingern, Theatertruppe, die Lienhards Eulenspiegel [Anm. 6] aufführen. Der Vorschlag einer Messe wird mit Skepsis aufgenommen, da trotz der Bemühungen des Handfertigkeitslehrers Herrn Scheibner keine Qualitätsarbeit vorliegt.

Punkt X. Anfragen und Anregungen. Den aus der Räucherkammer vertriebenen Sportgeräten wurde in der Gerätekammer ein vorläufiges Unterkommen gesichert. Ferner wird noch einmal darauf hingewiesen, Zeitungsausschnitte nach dem Essen zu erledigen.

Zum Schluß spielt Peter Völkner eine eigene Improvisation.


Anmerkungen::

Anm. 1:
S. 213f. fehlen unbeschrieben.

Anm. 2:
Heinz Link und Hans Samter; s. Protokoll der 57. Abendaussprache.

Anm. 3:
S. Protokoll der 33. Abendaussprache [1923].

Anm. 4:
S. Protokoll der 56. Abendaussprache vom 27.05.1925.

Anm. 5:
S. Protokoll der 11. Schulgemeinde vom 21.06.1925, in: Berlin, LA, SIS: CH, V, S. 196-202, hier S. 199f.

Anm. 6:
LIENHARD, Friedrich, Till Eulenspiegel. Bühnendichtung, 2 Teile [1: Eulenspiegels Ausfahrt; 2: Eulenspiegels Heimkehr], Straßburg 1897.



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