Protokoll der 45[,1]. Abendaussprache [Anm. 1]


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. IV, S. 93 und 95, sowie an S. 93 angeklebter, 3seitiger Brief.

[Datum: , ...03.1924 - Protokollant: Wilhelm Blume]


1. Auf die Anfrage des Bibliothekars Hans Woldt werden einige Bücher, die der Schulbibliothek früher gestiftet waren, wie Wisser, der Schmugglersohn und Willy, der Schiffsjunge als Schundliteratur den Flammen überliefert.

2. Walter Schramm begründet nach ausführlicherer Erklärung einen Stenographiekursus, dem sich 5 Schüler anschließen.

3. Nach einem Referat des Eleven H. Kanzke wird das Amt eines stellvertretenden Geflügelwarts eingerichtet und Heinz Link damit betraut.

4. Eine Anregung Bandmanns, die "Abendveranstaltungen", um Kollisionen zu vermeiden, vorher wochenweise festzulegen, wird abgelehnt; man wünscht, solche Zusammenkünfte möchten den "Veranstaltungscharakter" verlieren und zu früherer Schlichtheit und Spontaneität zurückkehren.

5. Eine lebhafte, z.T. von innerer Erregung durchzitterte Aussprache knüpft sich an das Verlesen zweier Briefe aus Schüler- und Elternkreis. Der eine war ein Pronunziamento des Aufbauschülers Horst Heidtmann über das Kapitel "Aufbauenttäuschungen", das dem Leiter durch den Verfasser als Aufsatz über ein freies Thema eingereicht war. Die Debatte hatte ein dreifaches Ergebnis:

a.) kam zum Ausdruck, daß durch unsere von der Schulstrafe absehende Praxis das Ehrgefühl der Schüler sehr verfeinert war; der Verfasser, der andeutete, wie bitter sie als ehemalige Gemeindeschüler den Inhalt des Wortes "Strafe" am eigenen Leibe "nur zu oft" hätten auskosten müssen, fordert mit Zustimmung seiner meisten Kameraden die Abschaffung der im Mathematikunterricht eingeführten "Ehrenliste", in die diejenigen Schüler eingetragen werden, die ihre Arbeiten nicht gemacht haben; es berührt etwas seltsam, als Herr Bandmann konstatiert, daß die Liste mit Zustimmung der Majorität eingeführt ist, und Herr Blume den Briefeschreiber fragt, wie sich mit seiner Abneigung gegen Strafen der von ihm selbst vorgeschlagene Modus [Anm. 2]

((94))

[...]

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vertrage, die Kameraden, die beim Runkelputzen in einer bestimmten Zeit eine vorher abgemachte Zahl nicht schaffen, mit Hieben zu belohnen; Horst Heidtmann stellt diese Angelegenheit als vereinzelten Spaß hin; und der Hauptbetroffene, Heinz Faas, will es jetzt nicht mehr "als so schlimm" angesehen wissen. Die Ehrenliste wird aufgehoben;

b.) kam zum Ausdruck, daß die Aufbauer nicht "alle x-Jahre" ihre Aufgaben in Mathematik nicht gemacht haben, sondern x-mal in einer Woche; es haben eben doch sehr viele gezeigt, daß sie ohne jene von Horst Heidtmann angedeuteten Strafen nicht arbeiten; die "Liste" sollte ein moralisch, nicht handgreiflich wirkender Versuch sein, die gerade in Mathematik notwendige konsequente Mitarbeit zu erzielen;

c.) kam zum Ausdruck, daß Horst Heidtmann im Empfinden des "Nachtragens" seitens der Lehrer überempfindlich war; eine Erklärung Wolffs über diesen Punkt mit konkreten Beispielen blieb nicht ohne Eindruck.

Der zweite Brief stammte von Herrn Metz und wollte im Anschluß an eine Schulgemeindeäußerung klarstellen, daß auch ein dauerndes Nichtfolgenkönnen in wissenschaftlichen Dingen zum Ausschluß des Schülers führen müsse. Das Prinzipielle an dieser Klarstellung ersieht man am besten aus dem Brief selber, der den Schluß dieses Bandes bildet [Anm. 3].

6. Bei dem Punkt Unterrichtsfragen der Oberstufe wird sehr lebhaft der Wunsch nach genauer Durchnahme der Elektrizität geäußert und beschlossen, neben dem Französischen rec. ein Französisch normal einzurichten, in dem auch das Übersetzen ins Französische, Nacherzählungen in 2 Zusatzstunden geübt werden sollen für Teilnehmer, die es wünschen.

7. An Stelle des ausgeschiedenen Postagenten wird Rudolf Grieger, als Lampenputzer Erich Dietz gewählt.

8. Schramm gibt eine Anregung über Anschaffung anständig wirkenden Geschirrs.



Anhang: Aufsatz von Horst Heidtmann "Aufbauenttäuschungen"

Heidtmann /Aufbauenttäuschungen!

Was wir an unseren Lehrern nicht schön finden. Da könnte man wohl vieles, sehr vieles sagen! Aber greifen wir aus dem Chaos die-

((Rückseite))

ser nicht schönen Eigenschaften unserer Lehrer eins heraus, die Strafen. Wir kennen dieses Wort gut, zu gut möchte man am liebsten sagen. Wir, die wir doch zum größten Teil aus "Berliner Gemeindeschulen" hierher verpflanzt worden sind!, haben die Bedeutung dieses Wortes nur zu oft erfahren! Unsere ersten Eindrücke die wir auf Scharfenberg gewonnen war[en] gut. Jeder von uns hat sich damals wohl gefühlt, ob wir uns heute noch wohl fühlen bezweifle ich stark. Und zu diesem "Nicht-wohlfühlen" trägt auch viel die Strafe, die Herr Bandmann bei uns eingeführt hat, bei! Er ließ, da er sich wahrscheinlich nicht anders zu helfen wußte, was ja für einen in der Jugendbewegung mehr oder weniger stehenden Junglehrer sehr traurig ist, die sogenannte von ihm so genannte "Ehren-" und "Siegesliste" der Aufbauklasse anlegen. Diese Liste, in der alle Leute die mit mehr oder weniger Verschulden ihre Arbeiten nicht gemacht haben, was alle x-Jahre mal passiert, aufgenommen werden, gereicht nicht uns zur Schande sondern Herrn Bandmann! Herr Bandmann, der immer so viel von Takt und Taktgefühl spricht, wagt es uns eine moralische Backpfeife nach der anderen zu verabfolgen, indem er jeden Aufbauer, der mal aus irgendeinem Grunde, und einen Grund hat jeder, seine Arbeiten nicht gemacht hat, in diese Liste aufnehmen läßt. Ich möchte mal sehen wer sich von den Aufbauern diese Handlungen, die wahrscheinlich zur Hebung des Taktgefühls beitragen sollen, erwartet hätte. "Nein" und tausendmal "Nein" würden sie euch entgegendonnern, wenn sie es dürften, wenn sie es wagen könnten, ohne daß sie dabei befürchten müßten sich eure Mißgunst zuzuziehen! Das ist ja das Elend das "Traurige", daß man in "Scharfenberg" nicht seine freie Meinung äußern kann. Denn jeder Scharfenberger Lehrer trägt uns dies bis in den Unterricht hinein nach! Wie denkt das "Scharfenberger" Lehrerkollegium darüber!



Anhang: Brief von Herrn Metz

Berlin W. 57, den
27. Februar 19[24]
Blumenthalstr. 16

Lieber Herr Blume!

Bei der Aussprache über Ihren Antrag, künftig eine dreimonatliche Probezeit für neu aufzunehmende Schüler vorzusehen, ist die Eltern-Versammlung am Sonntag über eine Bemerkung des Herrn Faas - ich meine den Vater, der erstmalig an der Versammlung teilnahm und dessen Name mir nicht genau bekannt ist - hinweggegangen, die m.E. einer Berichtigung bedarf. Ich selbst habe zunächst nicht auf diese Bemerkung geantwortet, um nicht die Aussprache über den in Rede stehenden Punkt noch mehr ins Uferlose auszudehnen, hatte mir aber vorgenommen, später darauf zurückzukommen. Bei der vorgerückten Zeit hat sich leider keine Gelegenheit geboten.

Herr Faas hat sich in seinen Ausführungen dahin geäußert, daß für die Ausschließung eines Schülers seine Leistungen nicht in Betracht kommen dürfen, vielmehr stände es den Eltern frei, ihre Söhne solange auf der Schule zu belassen, wie es ihnen behagte, bzw. sie d........... aufbringen. Meines Erachtens konnte eine solche Auffassung bi.............. für andere Schulen gelten, wenigstens hatten diese keine ..................... hiergegen zu verwahren, weil Platzmangel nicht in Frage k.................. es doch aber bei der Scharfenberg-Schule, die bei Ihrer S.................... auch besondere Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit ................ hat die Allgemeinheit, sei es Staat oder Stadt, für die S.......................... kleinen Schülerzahl unverhältnismäßig größere Aufwendungen ........................ als für andere Anstalten. Auch die Hergabe der Insel gehört ..................... außergewöhnlichen Aufwendungen. Diese sind nach meiner A.................. nur zu verantworten, wenn die Schule etwas Besonderes leistet ..................... Schülern eine weit bessere Ausbildung gewährt als die ....................

((2))

Durchschnittsanstalten und sie damit befähigt, im späteren Leben höhere Leistungen zu vollbringen. Jeder Schüler, der den Anforderungen nicht entspricht, erfordert bei überplanmäßigem Verbleiben auf der Insel erhöhte Zuschüsse von der Allgemeinheit und nimmt, was wichtiger ist, geeigneteren Schülern den knappen Platz weg. Ich bin also, im Gegensatz zu Herrn Faas der Meinung, daß nicht nur mangelndes Vermögen, sich dem Gemeinschaftsleben der Insel anzupassen, oder moralische Mängel oder dergl. ausschlaggebend für den Ausschluß eines Schülers sein können, sondern, daß auch ein dauerndes Nichtfolgen in wissenschaftlichen Dingen dazu führen muß, einen solchen Schüler auszuschließen. In der Regel werden Schüler und Eltern zu dieser Erkenntnis von selbst kommen; ich halte aber die ausdrückliche Feststellung für wichtig und empfehle deshalb, eine solche für eine kommende Gelegenheit vorzumerken. Ich glaube mich hierbei in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Eltern zu befinden und auch Ihre Ansicht wiederzugeben.

Die diesmal der Eltern-Versammlung angefügte Unterhaltung hat allgemeinen Anklang gefunden, wie auch aus den Erörterungen auf der Heimfahrt hervorgeht. Besonders sind die alten Volkslieder beifällig auf genommen worden und mich persönlich freut, daß damit die Schüler Gefallen an einfacheren, geistigen Genüssen erhalten. Die .....r bei einzelnen Schülern zum Ausdruck gekommene Vorliebe für .....rste geistige Kost erhält nach meiner Auffassung damit ein gewisses Gegengewicht und ich und sicher mancher andere Vater wird seine Freude daran haben, wenn auch in dieser Beziehung die Einfachheit unbe.....et der sonstigen wissenschaftlichen Leistungen zu ihrem Recht kommt. Jedenfalls scheint die Unterhaltung zweckmäßiger als frühere musikalische Versuche, denen die Schüler noch nicht gewachsen waren. Mit langsamem Aufbau und gehöriger Auswahl werden sich auch noch ....ermusikabende einmal erreichen lassen. Uns Eltern ist es eine

((3))

Freude gewesen, bei dieser Aufführung eine ganze Anzahl Schüler näher kennen zu lernen als bisher. Das wird auch dem Gedanken engerer Gemeinschaft zwischen Schule und Eltern förderlich sein.

Mit besten Grüßen bleibe ich Ihr ergebener

E. Metz [Anm. 4]


Anmerkungen:

Anm. 1:
In der Chronik erscheinen zwei Abendaussprachen als 45. Abendaussprache. Sie werden hier als 45,1 und 45,2 bezeichnet.

Anm. 2:
S. Anhang 1 zu dieser Aussprache.

Anm. 3:
S. Anhang 2 zu dieser Aussprache.

Anm. 4:
Die vielen Leerstellen erklären sich aus der Bruchstückhaftigkeit des Briefes.



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