Protokoll der 42. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. IV, S. 56-59

[Datum: , ...11.1923 - Protokollant: Wilhelm Blume]


[...]. Schon am 26. Nov., dem Tag des ersten Schneefalls in diesem Jahr, war es beim Abendessen zu einer Explosion der Unzufriedenheit der Oberstüfler über allerhand "schwarze Wäsche" gekommen: Nägel aus der Werkstatt waren weggekommen; zwei Aufbauer hatten sich im Nebenküchenraum mit Salz geworfen etc. Eine Extraaussprache mit der Aufbauabteilung, von H. Ungerer einberufen, und die nachfolgend protokollierte 42. sollten eine letzte Aufrüttelung sein, um noch zu retten, was noch zu retten war. Es kamen dabei Dinge zur Sprache - wie einer der Neuen sein Messer

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verschenkt hatte, um den Empfänger zu veranlassen, für ihn den Hilfsdienst zu übernehmen oder daß in einer Stube eine Tafel Schokolade ohne Wissen des Besitzers verzehrt war, Dinge, die bei der alten Garde heiligen Zorn erregten. "Wir lassen uns durch Euch nicht unsere Tradition vermasseln!" Den Schuldigen - Helmut Lehmann und Erwin Berendt und Hans Hobus - sprach eine große Majorität "die öffentliche Mißbilligung" aus; einige schlossen sich dem Votum nicht an, weil sie solche moralischen Einwirkungen in solchen Fällen wie diesen nicht für wirkungssicher genug hielten und unser einziges schärferes Mittel nicht zu oft angewandt sehen wollten. Da Helmut Lehmann an beiden Fällen beteiligt ist, soll aber für ihn eine doppelte Mißbilligung gebucht werden. Auf Heinrichsdorffs Antrag wird ihm das Stimmrecht so lange entzogen, bis die Gemeinschaft es ihm wiedergeben will. Ein Antrag des Ausschusses, das gleichfalls neu eingeführte Handeltreiben untereinander ausdrücklich als gegen den guten Anstand verstoßend zu brandmarken, ward angenommen, nachdem in sehr ernster Weise aufs tiefste bedauert war, daß durch solches Aussprechen immer mehr "ungeschriebene Gesetze" uns geraubt würden. Ein Antrag Blume, daß jeder morgens unter der Glocke zum Dauerlauf erscheinen solle und nur von hieraus eine Dispensation möglich ist, wird angenommen. Ebenfalls ein Antrag P. Grotjahns, Erich Gawronski das Recht zu verleihen, an den Abendaussprachen weiter teilzunehmen in dem beim letzten Mal beschlossenen Sinne [Anm. 1], sowie ein Antrag G. Metz', für Hans Baader, den anderen Abiturienten, das Gleiche zu beschließen, finden Beistimmung. Auf Anregung R. Werneckes wird der Postdiest verpflichtet, fortan die eingetroffene Post regelmäßig auf dem Sofatisch des Gemeinschaftssaals zu deponieren. Seiner zweiten Anregung, für Vogelfutterkästen Bretter zu bewilligen, stimmt man gern zu, jedoch unter dem Hinweis, daß er die auch ohne Abendaussprachenbeschluß vom Werkzeugwart hätte haben können; seinen Vorschlag, für Ankauf des Futters

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hält man für unnötig, da Küchanabfälle genügend vorhanden seien, wenn sich nur jemand fände, sie regelmäßig hinzustreuen.

Sodann erzählt P. Grotjahn von der Montezumaschule in Kalifornien, die uns ihre englisch geschriebene Programmschrift zugesandt hatte. Unterschiede von unserer Art seien die Nichtabweichung des Unterrichtsplanes von dem normalen und das Zurücktreten der Gemeinschaftsarbeit, ein stärkeres Betonen des Sports. Vorbildlich erscheint die angestrebte Vereinigung von persönlicher Initiative und Gemeinschaftsgesinnung. Auf Anfragen der Verfassung und der Bedeutung des im Prospekt öfter vorkommenden Ausdrucks uniform geben Prof. Cohn und Blume Auskunft. An die Erwähnung der dort eingeführten "Fragebogen", die von den Eltern vor dem Eintritt auszufüllen sind, knüpft Blume die Besprechung der seiner Zeit vertagten Frage, ob man nicht für jedes neu eintretende Mitglied eine vierteljährliche Probezeit einführen wolle. Es werden mancherlei Gegengründe vorgebracht wie schon bei der ersten interimistischen Behandlung der Frage (Vgl. S. 53!). Man hält es doch für eine zu starke Quittung, jemanden für nicht passend zu erklären; Prof. Cohn erklärt, er könne sich nicht denken, daß es Eltern gäbe, die sich auf dieses Risiko einließen. Blume meint, die Eltern würden ihre Söhne schon kennen und erst garnicht herbringen, wenn sie sie nicht für geeignet hielten; und ein solches Vorbeugungsmittel wäre für uns gerade das Rechte. Gegen Ulm, der diese Neuerung für überflüssig hält, weil doch die Ausschlußantragmöglichkeit bestehe, bemerkt Glasenapp: "Das ist zweierlei; zum Ausschlußantrag rafft man sich nur auf, wenn etwas Schwerwiegendes vorliegt; dagegen die Nichtaufnahmemöglichkeit wird die Lauen fernhalten, die ebensogut anderswo sein könnten." Blume weist im Anschluß darauf hin, daß in der endgültigen Nichtaufnahme kein absolutes Werturteil liege, sondern nur die von der Gesamtheit gefühlte Meinung, der Betreffende passe in eine andere Gemeinschaft besser. Herr Bandmann kann sich eine solche Probezeit nur als sehr peinlich für den Neueintretenden vorstellen; andere betonen, Schüler, die solcher

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Probezeit selbst nicht unterworfen gewesen seien, könnten auch nicht über andere richten. Dem hält Blume entgegen, erst müsse eine gewisse Tradition gewachsen sein, ehe man an solche Repressalien denken könne. Der Antrag Blume wird gegen 7 Stimmen abgelehnt; doch ist man dafür, anfragenden Eltern folgende "Voraussetzungen für die Aufnahme in die Oberstufe" zuzusenden, damit sie über die Grundrichtung orientiert seien und so Mißgriffe vielleicht zu verhüten seien und Enttäuschungen zu vermeiden. R. Frey wünschte noch eine stärkere Betonung der Gemeinschaftsarbeit als eines Wesenszuges; mit diesem Amendement lauten die Sätze folgendermaßen:

1. Zeugnis der Reife für 0 II,

2. Normale körperliche Gesundheit, da das Leben in Scharfenberg Abhärtung und ein ziemliches Maß stählender Anspannung erfordert, nimmt doch die Mithilfe in Garten und Feld und sonstiger Gemeinschaftsarbeit einen Teil der Mußestunden in Anspruch und ist ein Wesenszug des hiesigen Lebens,

3. eine ausgesprochene Neigung für ein einfaches Leben draußen in der Natur, frei von den zersplitternden Wirkungen der Großstadt,

4. Begabung oder doch innere Neigung für eine bestimmte Fächergruppe, damit eine freudige und darum Erfolg verheißende Mitarbeit in einem bestehenden Wahlkurse möglich ist, dem Plusleistungen eine geringe Betonung oder gar den Fortfall der dem Schüler weniger liegenden Fächer gestattet,

5. Gefühl für ein kameradschaftliches Zusammenleben in einer sich selbst verwaltenden Siedlungsgemeischaft, in der alle für alle die zur Führung des gemeinsamen Lebens notwendigen Dienste verrichten, unter Verzicht auf etwaige Gewohnheiten, die der selbstgewachsenen Gemeinschaftstradition widersprechen: Rauchen, Alkohol, Sonderhalten von Lebensmitteln, Luxus, politische oder religiöse Unduldsamkeit,

6. der Wille, unter freieren Unterrichtsformen ohne Zwang u. Zensur sich in die zum Teil selbstgewählten Gebiete zu vertiefen und ohne Reglementierung an sich und für andere zu arbeiten.


Nb. Die Gemeinschaft der Lehrer und Schüler kann durch 2/3 Mehrheitsbeschluß die Mitglieder zum Ausscheiden veranlassen, die dem hier bewußt erstrebten Lebensstil sich aus innerer Überzeugung nicht anzuschließen vermögen. ---


Anmerkungen:

Anm. 1:
Vgl. Protokoll der 41. Abendaussprache vom 16.11.1923.



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