Protokoll der 35. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. III, S. 63-65


[Datum: Mi, 29.08.1923 - Protokollant: K. B.]


Nachdem Herr Bandmann und Erwin Kroll ein Largo und ein Allegro von Händel gespielt haben, nimmt die Abendaussprache ihren üblichen Verlauf: es werden zunächst einige Stiftungen bekannt gegeben, so daß unser neuer Drahtabtreter von Hans Woldt stammt, daß Erwin Kroll einen Rechen anfertigt, daß ein Bekannter von Herrn Netzband 3 Millionen gestiftet und daß Herr Karwinkel für eine lächerlich geringe Summe den Küchenherd repariert hat und noch sämtliche Öfen nachsehen und, wenn nötig, dichten und verstreichen will. Ferner werden eine Karte von Frl. Rotten, die gegenwärtig in Montreux (Schweiz) ist und, trotzdem sie nicht mehr in Scharfenberg ist, immer noch für die gute Sache wirkt und hofft, zum Erntefest in Scharfenberg erscheinen zu können und ein Brief von Karl Wilker, der in Kohlgraben ebenfalls den Verkehr mit Scharfenberg aufrecht erhält und das endlich fertiggestellte und erstaunlich umfangreiche Inventarverzeichnis gezeigt. - Die Anregungen aus der Aufbauklasse, die kurz vor den Ferien im Gesamtunterricht niedergeschrieben wurden, waren mannigfaltiger Art, gaben jedoch wenig Ansatz zu durchgreifenden Reformen und Änderungen, im wesentlichen waren es Wünsche und Kleinigkeiten, die auf der Stelle erledigt wurden: es wollte einer in der Nähe des Pächerhauses einen Papierkorb aufgestellt wissen, einer wies darauf hin, daß das Waschen im Fährkahn demselben nicht dienlich sei, einer wünschte mehr Plätze zum Arbeiten im Freien, einer klagte über Interesselosigkeit am Spielen und an der Natur, die doch hier in Scharfenberg mehr als anderswo ein Gegenstand des allgemeinen Interesses sein dürfte, eine Klage über die geringe Schonung der Pferde führte zu einem Beschluß, daß keiner bei den Pferden etwas zu suchen habe, eine Anregung zur Reformierung

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der reformbedürftigen Chronik veranlaßte Herrn Bandmann zu dem Vorschlag, die Chronikberichte, die nicht mehr tagebuchmäßig, sondern mehr die einzelnen sachlichen Gebiete zusammenfassend geführt werden, durch Aufruf bei Tisch oder in der Abendaussprache zu verteilen. Herr Blume weist darauf hin, daß ein Ähnliches bereits durch Anschlag an der Saaltür geschehen sei, worauf erst ganz zuletzt wenige Beiträge eingelaufen seien - über der Chronikkalamität stehe wie über vielem in Scharfenberg das verhängnisvolle Wort "facultatis" - er sei aber gern bereit, nochmals darauf einzugehen und jetzt gleich den Anfang zu machen, worauf sich Fritz Geister meldet, über die Musik in Scharfenberg, Martin Grotjahn über naturwissenschaftliche Nebenarbeit, Rudi Frey über die Einsteinabende und Hans Baader über den Besuch der Gasanstalt zu schreiben. Da der 3. Band der Chronik auch bald voll zu werden droht, wird vorgeschlagen, für die gestifteten 3 Mill. eine neue Chronik zu kaufen. Dem entgegen stehen der Antrag Reschke, das Geld für die Apotheke zu verwenden und der Antrag Bandmann, auf Anschaffung eines Fiebertermometers. Der Antrag Bandmann wird mit der Begründung abgelehnt, daß die alte Germanen auch kein Fiebertermometer gehabt hätten und daß sich bei uns in den 1 1/2 Jahren noch nie das Bedürfnis nach einem solchen ausgesprochen hätte. (Indessen überraschte der besorgte Antragsteller in der nächsten Abendaussprache die Gemeinschaft mit einem Fiebertermometer, das er der Gemeinschaft gestiftet hatte, worauf der Wunsch ausgesprochen wurde, alle Anträge auf Anschaffung abzulehnen.) Der Antrag Reschke wird mit 22:14 Stimmen angenommen und das Geld dem Apotheker auf Anschaffung nötig[er] Apotheks-Utensilien ausgehändigt. - Eine weitere Anregung aus der Aufbauklasse möchte gern einen Studientag auch für die Aufbauklasse eingerichtet haben, es wird jedoch bezweifelt, daß die Aufbauklasse schon imstande sei, einen Studientag voll und ganz auszunützen, was auch gar nicht von ihr verlangt werden soll, da sie doch naturgemäß noch mehr das Bedürfnis habe, im Freien herumzutollen. Man einigt sich, die Angelegenheit erst im Aufbau unter sich im Gesamtunterricht vorzuberaten. Eine Anfrage Ungerer über das Prügeln bezw. Nichtprügeln in Scharfenberg führt zu mehr persönlichen Auseinandersetzungen. Einen - nicht nur von Seiten der Aufbauklasse geäußerten Wunsch, das vor den Ferien Sitte gewordene Kartoffelschälen durch die Schüler wieder einzustellen oder möglichst einzuschränken, entgegnet Frau Prengel unter Anführung einiger konkreter Beispiele daß sie sonst, jedesmal wenn es Salzkartoffeln gäbe, nicht fertig würde und sie bitte ihr wenigstens Mittwoch während der Gemeinschaftsarbeit einige Leute zur Verfügung zu stellen. Dadurch bei der Essensfrage angelangt wird gegen das private Halten von Lebensmitteln protestiert, das bereits schon durch die Schulgemeinde untersagt wurde [Anm. 1] und auf den Beschluß der Abendaussprache hingewiesen, daß jedes Obst, auch Fallobst, in der Küche abzuliefern sei [Anm. 2]. Heinz Böhm hält eine Verbesserung des Essens für erwünscht, worauf Herr Blume erwidert, daß in der ersten

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Zeit nach den Ferien das Essen weniger Fettgehalt hatte, weil keine Margarine eingekauft werden konnte, da keine da war und die meisten kein Verpflegungsgeld bezahlt hatten, jetzt sei die Sache aber anders und es müsse qualitativ und quantitativ mindestens ebenso gekocht werden, wie vor den Ferien, im übrigen aber sei die Angelegenheit, da unvermeidbarerweise mit dem Geldsäckel der Eltern verbunden, eine Sache der Schulgemeinde, ebenso wie die Ferienfrage, da sie mit der Kohlenfrage aufs engste verknüpft sei. Die Petroleumfrage, eine dauernde Scharfenberger Kalamität, wird nach längerer ermüdender Diskussion dahin entschieden, daß in drei Gemeinschaftsräumen bis 9 Uhr abends Licht auf Kosten der Gemeinschaft gebrannt wird [...]. Nach dieser wenig unterhaltenden Angelegenheit schließt die Abendaussprache 9.50, nachdem Herr Bandmann die abgestumpften Gemüter durch eine Polonaise von Chopin aufgefrischt hat.

K. B.


Anmerkungen:

Anm. 1:
S. Protokoll der 5. Schulgemeinde vom 03.06.1923, in: Berlin, LA, SIS: CH, III, S. 45f., hier S. 46.

Anm. 2:
S. Protokoll der 14. Abendaussprache vom 14.09.1922



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