Protokoll der 20. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. I, o.S.

[Datum: Fr, 10.11.1922 - Protokollant: Fritz Geister]


Grundschöttel leitet die 20. Abendaussprache am 10.XI.22 mit einem Liede ohne Worte von Mendelssohn ein. "In der gestrigen Aussprache, die hoffentlich zur Klärung und zum besseren, gegenseitigen Verstehen beigetragen hat, sind noch eine Menge Punkte unerledigt geblieben. Wer will die beschlossenen Bibliothekseinkäufe übernehmen?" Stenger erklärt sich bereit. "Von Rosolleck und Netzband sind uns einige französische und englische Werke gestiftet worden: Velhagen- und Klassingsche Schulausgaben, auch ein ganzer englischer Shakespeare. G. Metz und H. Woldt übernehmen ihre Katalogisierung.

Wir kommen zu Punkt I: Wernecke und Woldt beantragen, am Mittwoch Mittag eine Scheibe Brot mehr zu geben, weil sie am Studientage nach getaner Arbeit nicht satt geworden sind. Metz schließt sich ihnen an und fordert mehr Essen zu den Nebenmahlzeiten. Blume sagt, daß dies nur eine Geldfrage sei. "Übrigens wollen wir uns hier satt essen, aber nicht übersatt. Dies können wir hier nicht und auch zu Hause nicht, noch dazu, wo wir mit dem Novembergeld nicht auskommen. 125.000 M. sind ungedeckt verbraucht. 1 Faß mit 350 Heringen kostet 42.000 M. 30 Pfund Margarine + 10 Tafeln Palmin 27.000 M. Von den Eltern sind nur 32.000 M. Vorschuß zusammengebracht." Blume sieht keine Möglichkeit, mehr zu essen. Höchstens die Suppe könne vermehrt werden. Grotjahn beantragt, daß übriggebliebene Stullen in die Küche zurückgehen. Wird angenommen (14:9). Wernecke beklagt sich, daß man nur einen Teller Suppe bekäme, andere dagegen drei. Es wird beschlossen, daß der Chronide den 2. Teller austeilt. Dadurch wird schnellessen vermieden und eine gerechtere Verteilung erzielt. Auf die Bitte um mehr Sauce sagt Blume, daß dies nur durch Verdünnung erreicht werden könne. Herr Wahle hält, "um nicht trocken zu essen", Verdünnung für zweckmäßig. "Brot können wir unmöglich mehr essen. Wir müssen jetzt einen Sack Mehl kaufen und mit diesem 85 Brote bezahlen. Ich muß noch mit Frau Weyl sprechen. Auf meine Anfrage an das Jugendamt und Bezirksamt 20 ist noch keine Antwort erfolgt." - Suppe wird zu den Nebenmahlzeiten vermehrt. Hiermit ist Antrag Wernecke, Woldt erledigt.

Punkt II. Winterfest. Es wird einstimmig angenommen, den Gawan von Eduard Stucken aufzuführen [Anm. 1]. Der Tag der Aufführung wird auf den 17. Dezember festgesetzt. Vorbereitungen dauern 4 Wochen. Wer soll die Sache in die Hand nehmen? Nach längerem Reden über die Vorschläge: das Fest dem Deutschkurs; oder Blume, Netzband, Rosolleck zu übertragen, wird schließlich der Ausschuß damit beauftragt unter Hinzuziehung von Fachleuten und Interessenten, die Angelegenheiten zu regeln [Anm. 2]. Die bei der Festsetzung des Termins angebrochene Ferienfrage wird in der nächsten Elternversammlung und wenn in Berlin etwas Näheres über Ferien bekannt ist, erledigt werden. Auf Kraemers Anfrage, wie es mit den Kohlenferien stehe, wird ihm geantwortet: "Weiter arbeiten, solange noch Kohlen vorhanden sind. Das Wetter ist noch sehr schön! Wir können noch aushalten. Gute Abhärtung. Durch allzulanges Zuhausesitzen geht die ganze Abhärtung durch Luftentwöhnung zum Teufel." Nach längerem Hin und Her, ob man die 11 Tage der Herbstferien vor oder nach Weihnachten legen sollte, betont Herr Wahle, daß wir 18 Schulwochen hätten, wenn die Ferien nach Weihnachten gelegt werden. Übrigens sei er nicht Angestellter der Eltern, sondern der Behörden. Herr Blume entgegnete, daß er nichts Höheres kenne, als Vertrauensmann der Eltern zu sein; er müsse hier einen deutlichen Trennungsstrich ziehen; und die städtischen Behörden hätten ihm freie Hand in Bezug auf: Ferien, Zensuren etc. gelassen. Auf Baaders Frage, wer sich jetzt schon überarbeitet und schwächlich fühle, melden sich 2. Zwischenruf Grotjahn: "Für uns ist es doch ganz gleich, wann die Ferien liegen; sie bedeuten doch nur eine Reihe von Studienwochen." Schließlich wird Baaders Kompromiß, die Ferien vom 18. Dezember - 21. Januar dauern zu lassen, durch Stimmungsabstimmung angenommen.

Wir kommen zu Punkt III: Elternversammlung. Blume kündigt die voraussichtliche Tagesordnung an: Wirtschaftssorgen; Winterfest; Unterricht; Hospitieren im Unterricht; Antrag Schramm sen. Bibliotheksanschaffung; Deutschkursfahrt nach Tangermünde. Der Termin wird durch gemeinsamen Beschluß auf Sonntag, 19.XI. 2 Uhr Nachmittag festgesetzt. An Eltern, die von ihren Söhnen nicht mehr benachrichtigt werden können, soll eine offizielle Einladung ergehen.

Punkt IV: Kraemer zieht seinen Antrag auf Heizung sämtlicher Zimmer, da Kohlenmangel, zurück. Blume verspricht, wenn bewilligte Kohlen eingetroffen, Heizung aller Räume. - "Mit Petroleum muß gespart werden! 1 l 315 M.! 9 Uhr ins Bett! Beim Auspusten einer Lampe, erst Docht eindrehen!"

Punkt V: Kraemer beantragt Abschaffung der obligatorischen Freiübungen, da bei plötzlichem Witterungswechsel sich nachteilige Folgen herausstellen werden. Grotjahn: "Der [...] berühmt gewordene Müller macht seine Übungen nackt. Was der tut, können wir auch in beschränktem Maße." Außerdem ist Turnen Examensfach. Wir haben schon nur 1 Barren draußen." Heben aber genug Bäume, rhythmische Übungen, Schwimmen, Gemeinschaftsarbeit. Blume stellt den Gegenantrag, den Dauerlauf endlich mal ernst zu betreiben. Morgens mache ihn niemand mehr. Wir könnten unsere Schule auf die Friedrichstraße verlegen. Einen Umgang könne jeder am Tage um die Insel machen. Kraemers Antrag wird abgelehnt. Ablauf findet gemeinsam statt. Baader erklärt sich bereit, mit den Schwächeren in langsamem Lauf 1 km zu laufen. Morgen gleich los. Zum Anfang der Stunde wird erst dann geläutet, wenn alle zurück sind. Grotjahn übernimmt die Führung der großen Gruppe. Auf Antrag Berisch wird der Dauerlauf in der Pause nach der 4. Stunde gemacht.

Punkt VI: Grotjahn beantragt, daß einer am Mittag in aller Kürze die außen- und innenpolitischen Angelegenheiten bekannt gibt, damit wir immer auf dem Laufenden bleiben. Dasselbe beantragt Berisch für Kunst und Wissenschaft. Grotjahn erklärt sich bereit das Erstere zu übernehmen. Als Coreferent und für Feuilleton meldet sich Baader.

Punkt VII: Grotjahn wünscht für die Oberstufe Dienstfreiheit am Studientage. Angenommen.

Punkt VIII: Anfrage Metz: "Darf ein Gemeinschaftsmitglied in der Abendaussprache fehlen?" Zurufe: "Niemand darf fehlen. Dadurch wird Unfrieden gesät. Wer nicht kommt, schließt sich von der Gemeinschaft aus und kann zu Hause bleiben. Zeit für Gemeinschaft muß jeder haben." Kraemer wird gefragt, warum er in der vorletzten Abendaussprache nicht erschienen sei. Nach einigem Zögern sagt er, daß ihm die Aussprachen zu äußerlich würden. Überhaupt hätte sich seine Stellung zur Schule sehr geändert. Die Debatte wird vertagt. Kraemer soll dann seine Ansichten darlegen, denn durch negative Kritik wird nichts erreicht. Antrag Baader: Nichterscheinen nur dann möglich, wenn es am Beginn der Aussprache begründet wird. Angenommen.

Anregungen: Teller! Tassen! Löffel! Messer! Der Werzeugwart beklagt sich, daß ein ausgebrochener Hebel, den er dem Übeltäter zum Schleifen gegeben hatte, noch nicht wieder abgegeben sei. Der Flügel kein Stehpult! Mehr Ordnung im Saal! 5 M. gefunden. Ab in die Fährkasse!


Anmerkungen:

Anm. 1:
Vgl. Protokoll der 11. Abendaussprache vom 24.08.1922.

Anm. 2
Zur 'Gawan'-Aufführung hatte man Eduard Stucken (1865-1936) eingeladen, doch sagte dieser schriftlich ab; s. dazu Blumes Chronik-Eintrag: "Arbeit, nicht Geist schafft Gemeinschaft." Diese Arbeit, bei der jeder das Ganze im Kleinsten erblickte, erhielt neuen Auftrieb, bewußteren Ernst durch den Brief des Gawandichters Eduard Stucken, der auch denen, die es bisher noch nicht gefühlt hatten, die in dem geschäftigen Getriebe nur eine heitere Spielerei gesehen hatten, blitzartig die Klarheit brachte: ein wie heilig Ding es um ein Kunst- ((3)) werk sei! Die tiefe, tiefe Stille nach dem Verlesen des Briefes, der größere Ernst, das fast verbissene Zufassen waren davon ein redendes Zeugnis. 'Berlin W. Burggrafenstraße 2 A. 11.12.1922. Sehr geehrter Herr Direktor, ich habe lange, allzulange geschwankt und gezögert, von Tag zu Tag habe ich die Beantwortung Ihres liebenswürdigen Briefes hinausgeschoben, weil es mir schwer wird, Ihnen und den Kindern eine Enttäuschung zu bereiten. So groß die Sehnsucht ist, meine Werke aus Kindermund zu hören und dem Spiel zuzuschauen [...] - so groß sind leider auch die Hemmungen, die Furcht vor Ernüchterung und mancherlei sonstige Bedenken. Die Freude, die ich empfand, als ich erfuhr, daß mein Drama von Ihnen gewählt worden war, möchte ich (mir selbst) durch nachträgliche Kritik nicht zerstören und schmälern. Meine Kritik würde sich auch gegen mich selbst und mein Werk richten, falls die eine oder die andere Szene mißglückt. Trotz dieser Absage schwanke ich ein wenig auch heute noch und halte es nicht für ausgeschlossen ((Rückseite des Briefes beginnt)) daß ich mich im letzten Augenblick über alle Bedenken hinwegsetze. Auf jeden Fall sollen Sie - entweder von mir oder von meiner Frau - am Tag vor der Aufführung definitiven Bescheid erhalten. Allen Mitwirkenden bitte ich Sie meinen freundlichen Dank und Gruß zu sagen. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Eduard Stucken.'" (Berlin, LA, SIS: CH, II, S. 2f.) - Berlin, LA, SIS: CH, IV, S. 80: "Als Gawan von Stucken aufgeführt wurde, erhielten wir von Stucken seine Werke [...]." - Anna Stucken (Witwe von E. Stucken) an D. Haubfleisch briefl. vom 01.11.1988 besitzt keine Quellen über ihren Mann mehr. - Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv an D. Haubfleisch briefl. vom 20.12.1988: "Korrespondenzen zwischen Eduard Stucken [...] und Wilhelm Blume [...] sind in unseren Beständen leider nicht enthalten [...]." - Über Stucken: CARLSON, Ingeborg L., Eduard Stucken (1865-1936). Ein Dichter und seine Zeit, Berlin 1978.



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