Protokoll der 16. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. I, o.S.

[Datum: Mi, 11.10.1922 - Protokollant: Hans Baader]


Zur Einleitung spielen Stenger, Rosolleck und Kraemer aus der Peer Gynt-Suite "Ases Tod".

Blume: Es ist Zufall, daß gerade diese Abendaussprache mit diesen traurig anmutenden Klängen eröffnet wird. Es sind Abschiedsklänge; denn wie ... alle wissen hat uns zu Beginn dieser Woche Frau Hoffmann auf ihren eigenen Wunsch mit so formlosem Abschied verlassen. Ich sagte zu Beginn dieses Semesters, sie hätte eine rauhe Schale, aber einen guten Kern. Nun, die rauhe Schale ist in der letzten Zeit stärker hervorgetreten und sie hat den besten Ausweg selbst in der Lösung von uns gefunden und erstrebt. Rührend ist bei alledem, daß der Hauptverärgerungsgrund in ihrer gegen Ende des Sommers verringerten Leistungsfähigkeit zu suchen ist. Trotz aller Mißstimmung, die sich hauptsächlich gegen mich richtete, wollen wir doch von ihr etwas persönlicheren Abschied nehmen und ich denke, die Abendaussprache ermächtigt mich, an sie ein paar Abschiedsworte zu richten. Wir brauchen junge Kräfte jetzt am Anfang des Winterhalbjahrs und es freut mich, daß ich "junger Mann" der Älteste hier im Kreise bin. Frl. Trudchen Kägelmann aus Brorowin ist unserem Haushalt zugetreten, eine neue jugendliche Kraft aus Brorowin [Anm. 1]. Nur Jugend ist jetzt im Hause. Wir werden durch diesen Winter durchkommen, wenn wir alle körperliche und geistige Kraft zusammennehmen. Wir sind die erste Wintergeneration. Wir werden sagen können: Wir sinds gewesen!

Zu Punkt I der Tagesordnung bemerkt Schmidt, daß die Feldarbeit in Angriff genommen werden müßte, damit der Boden durchfrieren könne und alles Ungeziefer vernichtet würde. Ihm wird von mehreren Seiten entgegengehalten, daß dazu augenblicklich keine Zeit vorhanden sei und daß die wahrscheinliche Umgestaltung im nächsten Jahre die Verhältnisse doch vollkommen ändern würde. Blume vertröstet auf bessere Zeit.

II. Gerhard Metz fordert die zweite Bullenbautür als selbstverständlich. Ihm schließen sich mit weiteren Gründen Frey, Wolff und Röhrborn an. Baader meint, man könne eine der alten Türen dazu benutzen. Die Abendaussprache fordert ihn auf, die erforderlichen Schritte zu unternehmen.

III. Die Holzfrage. Blume bedauert, daß Tremp uns im Stiche gelassen, er wolle aber am Sonnabend und Sonntag noch kommen. Käme er nicht mehr, würden wir uns zwei Leute besorgen müssen, die dann in mehrstündiger Arbeit das Holz zerkleinern würden. Metz fordert nun, um diese Ausgabe zu umgehen, das Holzhauen obligatorisch zu machen. Berisch schließt sich dem an durch Forderung von Arbeitsgruppen. Mit 14:3 Stimmen wird beschlossen das Holzhauen obligatorisch zu machen und dem Ausschuß, verstärkt durch Ulm und Grotjahn die Organisation dieser Sache zu übertragen.

Zu Punkt IV (Umorganisation der Mahlzeitenfolge) erzählt Blume vom Entstehen des Gedankens aus Gawronskis Tischspruch aus Klatts: Schöpferische Pause [Anm. 2]. Gawronski selbst gibt uns als Stellung Klatts zur Mahlzeitenfrage an, daß Klatt meint, die Eßpausen des einzelnen seien individuell verschieden. "Da kam uns der Gedanke", nimmt Blume wieder auf, "ob nicht auch für uns die engl. Tischzeit geeignet wäre. Doch geben wir dem das Wort, der diese Erörterung beim Ausschuß offiziell angeregt hat." Baader: "Ich habe mir die Frage unter dem Gesichtspunkt überlegt, ob wir dabei gewinnen und glaube mancherlei Gewinnbringendes anführen zu können. So halte ich es für außerordentlich entlastend für unser Küchenpersonal, wenn durch die Hauptmahlzeit erst am Abend, wozu beide in der Küche nötig sind, die eine am Vormittag für den Hausdienst frei wird und nicht hin und her zu pendeln braucht. Die neue Tageseinteilung stelle ich mir so vor: Kaffee- und Quäker wie immer, Mittags 3 Stullen u. Suppe, Kaffee fällt fort, da wertlos und etwa um 6 Uhr Mittagbrot." Gawronski schließt daran die Vorschläge des Ausschusses: Quäker und Morgenkaffee zu vereinigen, Mittags Abendbrot und Kaffee und abends um 6 Uhr die Hauptmahlzeit. Durch dieses 3 Mahlzeitensystem würde ein gut Teil Zerrissenheit des Tages verschwinden. Grotjahn stellt fest, daß vom gesundheitlichen Standpunkt gegen diese Vorschläge, die er sehr begrüße, nichts einzuwenden sei und fordert Beschlußfassung möglichst noch heute Abend. Blume betont, daß er diesen Vorschlag aus wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten unterstütze, denn wir könnten nicht für die Küche den 15stündigen Arbeitstag in Permanenz erklären. Durch die neue Entwicklung würden wir einen früheren Feierabend in der Küche ermöglichen. Netzband erklärt sich aus persönlicher Erfahrung für nur 3 Mahlzeiten, bezweifelt aber, ob die Suppe am frühen Morgen schon fertig sein kann. Frl. Kägelmann gibt 2 Stunden als Bereitungsdauer an, die sie also früher aufstehen müßte. Netzband versucht diese Schwierigkeit zu umgehen und schlägt vor, 1 Stunde nüchtern zu unterrichten und dann das Frühstück einzunehmen. Da werden mancherlei Bedenken laut. Nach einer härter [angetuschten] Auseinandersetzung zwischen Netzband und Rosolleck, ob ein voller Bauch lieber studiere als ein leerer, erklärt Grotjahn, daß in engl. Landerziehungsheimen die erste Mahlzeit immer erst nach der 2. Schulstunde eingenommen würde. Rosolleck stellt fest, daß er mit Prof. Stier der Meinung sei, die Hauptmahlzeit müsse am Morgen liegen um die für den Körper zur Tagesarbeit wichtigen Nährstoffe zu liefern. Wahle befürchtet bei allzu gedrängter Nahrungsaufnahme (Vollfresserei) ein Überlastung des Herzens; außerdem seien sich die Gelehrten über den Nutzen nicht einig; außer England sei kein Beispiel eines 3 Tagesmahlzeitensystems bekannt und auch 5 Mahlzeiten bedeuteten keine Zerrissenheit des Tages. Dem antwortet Grotjahn, daß Wahle wohl das Opfer einer gastronomischen Täuschung geworden sei, denn die eine Kaffeestulle, die zu dem mittäglichen Abendbrot nur der Teller Suppe plus Stulle, der zum Morgenfrühstück käme, bedeuteten kein besonderes Vollstopfen. Schramm betont, daß bei ihm zu Hause, wie wohl in den meisten Familien nur 3 mal am Tage gegessen würde und sich noch keinerlei gesundheitliche Schäden herausgestellt hätten. Die Debatte ist leidenschaftlicher geworden, so daß Blume bittet, die Sache erst in Ruhe zu erörtern und sich zu orientieren. Berisch und Ewerth als Wickersdorf- und Lietzschüler geben bekannt, daß in beiden Internaten 5 Mahlzeiten stattfänden. Rosolleck: "Kleine Kinder bekommen alle 4 Stunden zu essen und wir "Erwachsenen" sollen auf einmal nur 3x essen?" Dem hält Netzband entgegen, ob man immer Kind bleiben solle, bis man stirbt? Fritz macht den Kompromißvorschlag Quäker mit Morgenkaffee und Nachmittagskaffee mit Abendbrot zu vereinigen und so nur 3 Mahlzeiten zu erzielen, wogegen sich Grotjahn als typischen Kompromißvorschlag, der die Vorteile der Extremvorschläge aufhebe energisch wendet. Wernecke mahnt, doch weiter in der Tagesordnung zu gehen, da die Zeit bald abgelaufen sei und vielleicht noch wichtige Punkte erledigt werden könnten. Blume schließt sich dem an mit der Bitte, in Buden und sonstigen Privatgesprächen diese Anregung zu erörtern, denn heute Beschluß zu fassen sei doch noch zu verfrüht. Man kommt zum

V. Punkt. Metz fordert Beschluß darüber, ob das Draußenessen weiterhin vom Chroniden bestimmt werden solle? Stenger, Kraemer und Wernecke sind teils aus gesundheitlichen teils aus theoretischen Gründen dagegen. Wahle findet, daß das Abhärten aus Prinzip doch sinnlos sei. Grotjahn meint, daß das Abhärten nur aus Prinzip geschehen könne und Blume fügt hinzu, daß das hier selbstverständlich sei; denn wer dies nicht wollte, der wäre nicht hierher gekommen. Wahle: "Der Erfolg zeigt sich schon in Frostbeulen", worauf Röhrborn erklärt: "Meine Beulen, auf die Herr Wahle offenbar anspielt, sind Folgen meiner Faulheit, mir beim morgendlichen Baden kein Handtuch mitzunehmen, nicht die Folgen einer prinzipiellen Abhärtung." Grotjahn fordert, den alten Modus, daß der Chronide wie immer bestimme, beizubehalten, was gegen 3 Stimmen angenommen wird.

Blume teilt der Gemeinschaft noch die Vorschläge des Maurermeisters Schimowsky (Tegel) mit, unserer Waschraum - Kalamität abzuhelfen. Da es schon 1/2 10 ist wird die Abendaussprache geschlossen und als nächster Termin zur Erledigung der restlichen Anträge und Anfragen Freitag festgesetzt.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Vgl. Protokoll der 11. Abendaussprache vom 24.08.1922.

Anm. 2:
KLATT, Fritz, Die schöpferische Pause, Jena 1921.



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