Bedeutsamkeit. Über einen verkannten Grundbegriff religionsphilosophischer Hermeneutik und seine systematische Neufassung bei Paul Ricoeur

Mit dem Begriff „Bedeutsamkeit“ wird eine vage Bedeutung assoziiert, der aber ein besonderer Wert, eine besondere Tiefe, Wichtigkeit oder Tragweite zugesprochen wird, die über das qualitative Bewusstsein gefühlt oder erahnt wird. Daher sah man in der Bedeutsamkeit lange Zeit etwas bloß Subjektives o...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Trusheim, Jens
Beteiligte: Korsch, Dietrich (Prof. Dr. ) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2021
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Mit dem Begriff „Bedeutsamkeit“ wird eine vage Bedeutung assoziiert, der aber ein besonderer Wert, eine besondere Tiefe, Wichtigkeit oder Tragweite zugesprochen wird, die über das qualitative Bewusstsein gefühlt oder erahnt wird. Daher sah man in der Bedeutsamkeit lange Zeit etwas bloß Subjektives oder Psychologisches, während Bedeutung als objektiv bestimmbar galt. Hierin liegt wohl ein Grund für den erstaunlichen Umstand, dass man sich mit diesem Begriff vergleichsweise wenig beschäftigt hat, während Sinn und Bedeutung gerade im 20. Jahrhundert breite Aufmerksamkeit gefunden haben. Doch spielt erstens der Begriff (und das mit ihm Bezeichnete) innerhalb hermeneutischer Philosophie nicht zufällig eine wichtige Rolle und auch die pragmatistische Entwicklung der analytischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint in eine ähnliche Richtung zu weisen. Begriffsgeschichtlich zeigt sich der Terminus etwa in der Ästhetik und Geschichtswissenschaft, weshalb Schopenhauer zwischen „innerer“, ästhetischer und „äußerer“, wirkungsgeschichtlicher Bedeutsamkeit unterscheidet. Im Bereich der Symbol- und Mythostheorien (Fr. Creuzer, H. Blumenberg) versteht man Bedeutsamkeit im Anschluss an Kants Bestimmung einer ästhetischen Idee. Darunter versteht Kant „eine Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (KdU, A 190, B 192). Auch Ricœurs bekannte Formulierung „das Symbol gibt zu denken“ schließt sich hieran an. Dilthey betont den Bezug auf das erstpersönliche Erleben (phänomenales, qualitatives Bewusstsein), ohne den es keine Bedeutsamkeit geben kann und das in einen expressiv authentischen Ausdruck überführt werden muss, der in künstlerischen Produktionen, aber auch in Handlungen bestehen kann. Neben dieser expressiv-ausdruckstheoretischen Bedeutsamkeitsdimension kennt Dilthey auch eine zweite, nun hermeneutische; sie bezeichnet die Erschließungskräftigkeit eines Teils für ein Ganzes bzw. einen Zusammenhang. Seine dritte Bedeutsamkeitsdimension versteht unter ihr eine „Kategorie des Lebens“. Demgegenüber fasst Heidegger Bedeutsamkeit nicht als etwas Besonderes, etwa emphatisch betontes oder gar existentiell Herausragendes, sondern im Gegenteil sehr nüchtern als pragmatisches Umgangswissen, das Wissen um die „Bewandtnis“ einer Sache. Entsprechende „Ganzheiten“ werden zu praktischen Zusammenhängen, in die etwas gehört, so wie etwa ein Hammer auf den Zusammenhang von Nagel, Holz und Brett verweisen kann. Eine Türklinke wird nicht durch Wiegen und Messen erkannt, sondern ihre Bewandtnis wird verstanden, wo man weiß, wozu sie „gut“ ist und mit ihrer Hilfe eine Türe öffnen kann. Dieses lebensweltliche Umgangswissen liegt auch allen „höherstufigen“ kognitiven Erkenntnisformen bleibend zugrunde, das „Vorhandene“ (etwa eine isolierte Türklinke) ist nur eine Privationsform des „Zuhandenen“ (eine eingebaute und benutzte Türklinke) und insofern gilt für ihn: „das Bedeutsame ist das Primäre“; R. Brandom zeigt die intersubjektiv-sprachliche Vermittlung des Bedeutsamen bei Heidegger auf. Bei M. Weber und H. Rickert ist Bedeutsamkeit eine zentrale Kategorie der historischen Kulturwissenschaften („Kulturbedeutung“); darum kann sie in ihrer heuristischen Funktion begründen, was aus der unermesslichen Summe aller Themen und Fragestellungen gewählt werden sollte. Während das Phänomen der Mystik (ähnlich wie manche ästhetische Erfahrung) Bedeutsamkeit ohne bestimmte Bedeutung vermittelt, ist bei den modernen Naturwissenschaften das Umgekehrte der Fall, denn sie vermitteln Informationen, die uns nichts mehr „sagen“ und führen zum „Verlust der Lebensbedeutsamkeit“ (E. Husserl); hier zeigt der Bedeutsamkeitsbegriff seine phänomenologische und kulturhermeneutische Erschließungskraft. Bei P. Ricœur spielt der deutsche Terminus freilich keine Rolle, die mit ihm bezeichnete Problematik aber umso mehr. Der frühe Ricœur analysiert (auch aus tiefenpsychologischer Sicht) vor allem Symbole und Mythen, in denen sich eine „Sprache des Sinns“ mit einer „Sprache der Kraft“ verbindet. Weil sie über die Art und Weise verstanden und begründet werden, in der sie konstituiert und schematisiert werden, kann man hier von einer expressiv-produktionsästhetischen Bedeutsamkeit sprechen. Demgegenüber konzentriert sich der spätere Ricœur in seiner Metaphern- und Erzähltheorie auf den erstaunlichen, aber entscheidenden Umstand, dass wir auch dann sprachliche Ausdrücke verstehen können, wenn ihre Bedeutung nicht aus der Konstitution ihrer Komponenten begründet werden kann: Auch zwei zufällig kombinierte Wörter können sich u.U. als Metaphern verstehen lassen und müssen weder aus ihren sprachlichen Elementen noch aus transzendentalen oder tiefenpsychologischen Schematismen begründet werden. Nur darum ist es auch möglich, dass Erleben und Selbstsein ihrerseits auch sprachlich bzw. aus mimetischen Textstrukturen „figuriert“ werden können und eine narrative Identitätskonstitution möglich wird und diese Texte und Symbole nicht bereits vitiös zirkulär gänzlich aus jenen hervorgehen. Denn der Kreis darf sich niemals vitiös zirkulär völlig schließen, immer bleibt ein „surplus of meaning“, ein Mehrwert des subjektiven Erlebens einerseits wie des sprachlichen Ausdrucks andererseits. Weil man hier von einer rezeptionshermeneutischen Bedeutsamkeit sprechen kann, stehen auch sprachliche Produktion (Ausdruck) und Rezeption (Verstehen, Erleben) in einem hermeneutisch zirkulären Verhältnis; der Bedeutsamkeitsbegriff bezeichnet die bleibende, in der Fortbestimmung sich sogar steigernde Differenz zwischen beiden, wie sie vor allem im Gefühl (qualitatives Bewusstsein) präsent wird; Ricœur selbst spricht vom „Conatus“ als einem Streben, das sich im Bewusstsein des Mangels bezeugt und Zeichen und Dingen Bedeutsamkeit verleiht. Während schon in den früheren Teilen der Arbeit immer wieder auf die religionsphilosophische Valenz des Begriffs eingegangen wurde, wird im abschließenden Teil ausdrücklich thematisiert, inwiefern der Bedeutsamkeitsbegriff unverzichtbar zum Verständnis von Religion ist. Dem scheint ein Religionsbegriff zu widersprechen, der Religion als konstruktive „Lebensdeutung“ versteht und im Sinne einer nachkantischen, kritischen Erkenntnistheorie darauf verweist, dass sämtliche religiöse Vorstellungen von einem „Ich denke“ (KrV, §16) hervorgebracht werden. Von einer rein anthropologischen Reduktion von Religion im Sinne Feuerbachs unterscheidet sich ein solcher Religionsbegriff einerseits durch eine transzendentale Begründung der Notwendigkeit der produktiven Einbildungskraft im Sinne Kants, als auch durch einen Hinweis auf den transzendentalen „Grund“ im Bewusstsein, ohne den eine endlich freie und spontane Subjektivität nicht zu denken ist und der religiös als Gott gedeutet wird. Dieser Religionsbegriff steht auch in der Nachfolge des späteren Ricœur, um die rezeptionshermeneutische Einsicht in die Ursprünglichkeit und unhintergehbare Faktizität der Erfahrung von sprachlicher Bedeutsamkeit zu erweitern. Zwar muss ein präreflexives Fürsichsein im Selbstgefühl immer schon vorausgesetzt werden, doch kommt Subjektivität erst über Erfahrungen der Bedeutsamkeit ganz zu sich. Dem entspricht eine existentielle und hermeneutische Bedeutsamkeit im Verhältnis von Erleben und Deuten. Erstens werden Deutungen zwar konstruktiv von Subjekten hervorgebracht, doch beziehen sie sich auf ein Erleben, das ihnen bereits bedeutsam erscheint und von dem sie außerdem betroffen werden. Zweitens müssen sich Deutungen (Bibeltexte, religiöse Lieder usw.) umgekehrt so als bedeutsam erweisen, dass der Mensch ihnen nicht nur als Subjekt gegenübersteht, sondern als Person auch in sie eingeschlossen ist. Die Ungesichertheit der menschlichen Existenz, ihr „Schweben“ zeigt sich im partiellen Kontrollverlust des Subjekts, dass Erfahrungen endlicher Freiheit und authentischen Selbstseins nicht selbst hervorbringen kann; die symbolisierenden religiösen Deutungen müssen sich aus sich selbst heraus als bedeutsam erweisen.
Umfang:396 Seiten
DOI:10.17192/z2021.0486