Zusammenfassung:
Hintergrund: Die präzise Verarbeitung von auditiven Reizen wird durch äußere (ÄHZ) und innere Haarsinneszellen (IHZ) im Corti´schen Organ gewährleistet. Da die physiologischen Aufgaben (kochleäre Verstärkung und synaptische Übertragung) dieser Zellen vom Rezeptorpotential angetrieben werden, sind Form und Amplitude dieser Potentialänderungen essentiell für die Funktion der Sinneszellen. Die Charakteristika der Rezeptorpotentiale hängen dabei von der Aktivität der apikalen mechano-elektrischen Transduktionskanäle und von basolateralen K+-Leitfähigkeiten ab. Diese Leitfähigkeiten wurden aufgrund ihrer biophysikalischen Eigenschaften als IK,f, IK,n und IK,s klassifiziert. Die Ionenkanäle und deren Interaktionspartner, die diese K+-Leitfähigkeiten hervorbringen, sind weitestgehend unbekannt.
Ziele der Arbeit: Die Ziele dieser Doktorarbeit waren es, (I.) die Relevanz eines möglichen Interaktionspartners (das Enzym β-Sekretase 1; BACE1) der K+-Kanäle in ÄHZ zu untersuchen, und (II.) die K+-Kanaluntereinheiten, welche die IK,s Komponente in IHZ von Mäusen ausmachen, zu entschlüsseln, sowie deren physiologische Aufgaben anhand von Computermodellen zu bestimmen.
Ergebnisse zu BACE1: Ich konnte zeigen, dass der signifikante Hörverlust der BACE1-/- Mäuse durch Desorganisation der synaptischen Verbindungen zwischen IHZ und auditorischen Nervenfasern und durch eine stark verringerte Myelinisierung dieser Nervenfasern hervorgerufen wird. Dabei ist BACE1 für die Entwicklung der kochleären Nervenfasern, nicht jedoch für die Aufrechterhaltung der Myelinisierung von Bedeutung. Außerdem konnte ich Neuregulin-1 als BACE1-Substrat identifizieren, das die Organisation der Nervenfasern in der Cochlea vermittelt. BACE1 ist also entgegen unserer Ausgangshypothese kein Interaktionspartner von K+-Kanälen in Haarsinneszellen, jedoch unabkömmlich für sensitives Hören. Da die Inhibition von BACE1 ein populärer Ansatz zur Therapie der Alzheimer-Krankheit ist, war es wichtig zu prüfen, ob entsprechende Medikamente Auswirkungen auf die Hörleistung haben. Die Behandlung von Mäusen mit dem BACE1-Inhibitor NB-360 beeinträchtigte jedoch nicht das Hörvermögen der Tiere. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Hörverlust keine Nebenwirkung der Therapie der Alzheimer-Krankheit darstellt.
Ergebnisse zur K+-Kanalausstattung der Haarsinneszellen: In einem Hypothesen-basierten Kandidatenansatz ist es mir gelungen, die K+-Kanalausstattung von IHZ zu entschlüsseln. Dafür habe ich aus publizierten Einzelzell-Transkriptom-Analysen von IHZ Kandidatenkanäle extrahiert und deren Expression in der Cochlea mittels molekularbiologischen und immunhistochemischen Techniken bestätigt. Mittels elektrophysiologischer Methoden konnte ich dann überprüfen, ob diese Kanäle in den IHZ aktiv sind. Für den funktionellen Nachweis konnte ich zum einen auf etablierte Protokolle zurückgreifen, andere Kandidatenkanäle musste ich erst im Expressionssystem eingehend charakterisieren und selbst geeignete Messprotokolle und ein pharmakologisches Profil zum Nachweis in nativem Gewebe entwickeln. Diese Untersuchungen zeigten, dass sich trotz enger phylogenetischer Verwandtschaft und darauf aufbauenden Ähnlichkeiten in der Gesamtarchitektur, die pharmakologischen Eigenschaften von K+-Kanälen doch signifikant unterscheiden können. Aufbauend auf den Arbeiten im Expressionssystem konnte ich dann zeigen, dass Kv1.8-, Kv11.1- und Kv12.1-Kanäle in IHZ aktiv sind. Somit konnte ich Kv11.1-Kanälen erstmals eine Rolle im sensorischen System, und Kv1.8- und Kv12.1-Kanälen überhaupt erstmalig eine physiologische Bedeutung zuweisen. Die Relevanz dieser außergewöhnlichen Ausstattung aus fünf K+-Kanaluntereinheiten in IHZ (Kv1.8-, Kv7.4-, Kv11.1-, Kv12.1- und BKCa-Kanäle) wurde dann anhand von Computermodellen eingehend untersucht. Diese Simulationen zeigten, dass alle Kanäle gemeinsam die Präzision der Schallverarbeitung in IHZ optimieren und die Verarbeitung komplexer Schallereignisse und somit sensitives Hören überhaupt erst ermöglichen, während IHZ mit vereinfachter Kanalzusammensetzung in der Verarbeitung von Schallreizen eingeschränkt sind.