Die therapeutische Beziehung: Differentielle Gestaltung in experimentellen Designs und in der psychotherapeutischen Behandlung

Mittlerweile gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass Psychotherapie wirkt. Zahlreiche Metaanalysen belegen, dass sich etwa 80% der Patient*innen1 besser entwickeln im Vergleich zu nicht-behandelten Kontrollgruppen (Wampold & Imel, 2015). Gleichzeitig zeigen Studien zu etablierten Psychotherapien...

Ausführliche Beschreibung

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Schamong, Isabel Christin
Beteiligte: Brakemeier, Eva-Lotta (Prof. Dr.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2022
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
Tags: Tag hinzufügen
Keine Tags, Fügen Sie den ersten Tag hinzu!
Beschreibung
Zusammenfassung:Mittlerweile gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass Psychotherapie wirkt. Zahlreiche Metaanalysen belegen, dass sich etwa 80% der Patient*innen1 besser entwickeln im Vergleich zu nicht-behandelten Kontrollgruppen (Wampold & Imel, 2015). Gleichzeitig zeigen Studien zu etablierten Psychotherapien mindestens ein Drittel bis die Hälfte der Patient*innen, die am Ende als Nonresponder bezeichnet werden müssen, und sogar 60–80 %, die nicht in die Remission gelangen oder nach Psychotherapie einen Rückfall erleiden (u.a. Lambert, 2017). Hier besteht Optimierungsbedarf. In Bezug auf die Frage, was wirkt, gilt die therapeutische Allianz mittlerweile als der am häufigsten untersuchte und robusteste allgemeine Wirkfaktor (Norcross & Lambert, 2018; Wampold & Imel, 2015). Ergänzend sehen Vertreter*innen des kontextuellen Modells u.a. auch Erwartungen als wichtigen allgemeinen Wirkfaktor für erfolgreiche Psychotherapie an (Mulder, Murray, & Rucklidge, 2017). Die Forschung hat allerdings bislang keine erschöpfenden Antworten dazu geliefert, wie und warum Psychotherapie wirkt. Gleichzeitig fehlen weiterhin Antworten auf die Frage, was für welche*n Patient*in wie wirkt – what works for whom? – vor allem in Bezug auf die therapeutische Beziehungsgestaltung im Rahmen der Allianz und Erwartungen. Die Auseinandersetzung mit ebendieser Frage ist ein wichtiges Ziel der Psychotherapie- und insbesondere der Prozessforschung. Langfristig kann ein differenzierteres Verständnis für Veränderungs- und Wirkmechanismen zu einer fortlaufenden Behandlungsoptimierung sowie generellen Verbesserung der Wirksamkeit führen. Die übergeordnete Zielsetzung dieses kumulativen Dissertationsvorhabens besteht entsprechend darin, die sogenannte differentielle therapeutische Beziehungsgestaltung genauer zu beleuchten. Die differentielle Beziehungsgestaltung definieren wir als flexible und fortlaufende Adaptation des therapeutischen Beziehungsverhaltens, aufbauend auf einer individuellen Fallkonzeption und abgestimmt auf die Bedürfnisse und das Beziehungsverhalten von Patient*innen (angelehnt an Sachse, 2000, nach Caspar & Grawe, 1982; Stucki, 2004). Im Rahmen der Dissertation nutzen wir verschiedene Perspektiven und unterschiedliche methodische Ansätze, um drei spezifische Ziele anhand von vier Studien zu verfolgen: (1) Zunächst wurde der aktuelle Forschungsstand in Bezug auf die differentielle Beziehungsgestaltung in der klinischen Praxis mithilfe eines unsystematischen Reviews abgebildet (Studie I). Durch das Review wurde unter anderem deutlich, dass in der Forschungslandschaft ein Mangel an experimentellen Studien herrscht in Bezug auf die Frage, welcher therapeutische Stil für welche*n Patient*in hilfreich ist. (2) Aus diesem Grund wurde mithilfe von zwei experimentellen Designs die Umsetzung einer gezielten Variation des therapeutischen interpersonalen Stils in realistischen Settings im Sinne einer experimentellen Beziehungsgestaltung überprüft (Studien II und III). Das Review wies zudem auf die interpersonellen Charakteristika von Patient*innen als wichtige Komponente für die Beziehungsgestaltung hin, die spezifisch adressiert werden sollte, bspw. durch korrigierende heilsame Beziehungserfahrungen bei frühen traumatisierenden Erfahrungen. Hierbei ist der Psychotherapieansatz des Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) hervorzuheben. Dieser wurde speziell für Patient*innen mit persistierender depressiver Störung (PDD) entwickelt, die häufig frühe traumatisierende Beziehungserfahrungen im Rahmen von Kindesmisshandlung durchlebt haben und aktuelle interpersonelle Konflikte aufweisen (McCullough, 2003). (3) Daher wurde in Studie IV die psychotherapeutische Beziehungsgestaltung im Zusammenhang mit der Allianz als interpersoneller Wirkfaktor bei Patient*innen mit PDD einer CBASP-Behandlung genauer untersucht. In Studie I wurde in einer Übersichtsarbeit die Thematik der differentiellen Beziehungsgestaltung in der Verhaltenstherapie theoretisch sowie empirisch eingeführt und eingebettet. Diese wurde vor dem Hintergrund von (a) Therapiephasen, (b) Bedürfnissen, Motiven und Erwartungen sowie (c) frühen traumatisierenden Beziehungserfahrungen diskutiert. Offene Fragen wurden in Bezug auf eine individualisierte und empirisch verankerte therapeutische Beziehungsgestaltung erörtert. Im Artikel wird vorgeschlagen, im Rahmen einer individuellen Fallkonzeption folgende Abstufungen der Beziehungsgestaltung in der psychotherapeutischen Praxis und Forschung zu berücksichtigen: die (a) unspezifische (im Sinne der Basisvariablen), (b) indizierte (vor dem Hintergrund der individuellen Problematik) und (c) spezifische (verfolgt konkrete Behandlungsziele) Beziehungsgestaltung. In Studie II (ExTheRel) und Studie III (InterAct) wurde aufgrund der bereits beschriebenen Forschungslücke die Beziehungsgestaltung experimentell untersucht. Hierbei überprüften wir die Machbarkeit einer gezielten Variation zweier unterschiedlicher therapeutischer Stile (beziehungsorientiert vs. sachorientiert) auf konzeptueller Grundlage des interpersonellen Circumplex. In beiden Studien konnte diese gezielte Variation in einem einmaligen Beratungsgespräch unter realistischen Bedingungen bei gesunden Proband*innen mit interpersonellen Konflikten erfolgreich umgesetzt werden. Die therapeutische Allianz wurde in Studie II (N = 64) durchgehend hoch eingeschätzt und Proband*innen berichteten eine signifikante Symptomreduktion, unabhängig vom angewandten Stil. In Studie III (N = 80) wurde das experimentelle Design um Erwartungen an den therapeutischen Stil erweitert. In einem 2x2 Design erhielten Proband*innen entweder den erwarteten oder gegenteiligen Stil. Sie nahmen durchweg hohe Allianz und Zufriedenheit mit der Beratung wahr und zeigten sich zwei Wochen nach dem Gespräch weniger beeinträchtigt durch den Konflikt – unabhängig von Stil, Erwartungen und ihrer Interaktion. Diese beiden Studien zur experimentellen Beziehungsgestaltung liefern erste Belege, dass es für Berater*innen möglich ist, ihren interpersonellen Stil aktiv und bewusst zu variieren und dabei positive Allianzen zu formen, unabhängig vom Beratungsstil und/oder Erwartungen hieran und Verletzungen ebendieser. Zudem zeigen sich einmalige psychologische Beratungsgespräche zu interpersonellen Konflikten in einer gesunden Stichprobe wirksam in Bezug auf Beeinträchtigung und Belastung durch Konflikte. Die innovativen Designs können als Grundlage für weitere Prozessforschung in psychologischer Beratung und Psychotherapie dienen. Im Review (Studie I) zeigte sich des Weiteren, dass die spezifische Beziehungsgestaltung insbesondere dann wichtig ist, wenn interaktionelle Schwierigkeiten adressiert werden sollen. Daher sollte in Studie IV der interpersonelle Wirkmechanismus der Allianz im Rahmen der psychotherapeutischen Beziehungsgestaltung in einer Stichprobe mit ebendiesen interpersonellen Schwierigkeiten genauer untersucht werden. Dieses Projekt war eingebettet in eine Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit eines stationären, individualisierten CBASP Konzeptes (CBASPersonalized) bei Patient*innen mit PDD. Ziel von Studie IV war es, ein unlängst aufgestelltes Modell von Zilcha-Mano (2017) zur Allianz in dieser Stichprobe zu prüfen. Das Zweikomponentenmodell differenziert a) eine eigenschaftsbezogene Komponente der Allianz (trait-Allianz) – die allgemeine Fähigkeit, zufriedenstellende Beziehungen aufzubauen – und (b) eine zustandsbezogene Komponente der Allianz (state-Allianz) – Veränderungen in der direkten therapeutischen Interaktion. Pfad- und Mediationsanalysen bestätigten die Passung des Modells und den bereits häufig nachgewiesenen Effekt der state-Allianz (therapeutischen Allianz) auf die depressive Symptomatik. Darüber hinaus führten positive Veränderungen in der state-Allianz auch zu einer größeren Abnahme von interpersonellen Problemen (trait-Allianz), die sich wiederum positiv auf die Abnahme der depressiven Symptomatik auswirkte. Die Ergebnisse können als vorläufige Evidenz für den in der CBASP-Behandlung vorgeschlagenen Veränderungsmechanismus der korrigierenden Beziehungserfahrungen gewertet werden, wonach eine positive und tragfähige therapeutische Allianz – die während der Therapie gezielt genutzt wird – interpersonelle Fähigkeiten verbessert, die wiederum zu einem besseren Behandlungsergebnis führen. Insgesamt untermauern die Studienergebnisse die Bedeutsamkeit der therapeutischen Beziehungsgestaltung aus klinischer und wissenschaftlicher Perspektive und liefern erste Erkenntnisse zu (a) der differentiellen Gestaltung in der Praxis, (b) Möglichkeiten zur experimentellen Gestaltung sowie (c) zugrundeliegenden interpersonellen Veränderungs- und Wirkmechanismen der psychotherapeutischen Beziehungsgestaltung bei Patient*innen mit interpersonellen Schwierigkeiten. Gleichzeitig sollten bei der Interpretation der Ergebnisse einige Limitationen berücksichtigt werden, wie methodische Einschränkungen und kleine Stichprobengrößen. Langfristig können die Studien als Grundlage für weitere Forschungsdesigns (u.a. zur Identifikation von Moderatoren und Mediatoren) sowie für die Entwicklung von Indikationskriterien für eine individualisierte Beziehungsgestaltung während längerer Psychotherapieprozesse dienen.
Umfang:181 Seiten
DOI:10.17192/z2023.0044