Wilhelm Blume:

Briefentwurf an Prof. Dr. Richard Woldt [ca. Ende 1945 / Anfang 1946].

Quelle: Berlin, Archiv der Arbeitsstelle für Schulgeschichte Berlins: Ordner Blume/Richter 1.
Veröffentlichung: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q62.html
Literatur: Haubfleisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 39), Frankfurt [u.a.] 2001, bes. S. 927f.


"Meiner Schätzung nach, die sich auf konkrete Anmeldungen 45/46 für Scharfenberg stützt, - und diese betreffen lediglich das Alter von 13 Jahren - warten weit über tausend Berliner Kinder darauf, aus schlechten Wohnungs- und Erziehungsverhältnissen heraus fern von Großstadttrümmern wirtschaftlicher und seelischer Art in Heimschulen leben zu dürfen. Berlin muß also aus der nun wiedererstandenen Schulfarm eine Schulform machen und es sich sofort angelegen sein lassen, einen Kranz von 10 solcher Schulen um Berlin herumzulegen. Damit wäre zunächst mehr ein sozialer als ein pädagogisches Hilfswerk getan. Das Schöne ist, daß die dazu notwendigen Kosten sich richtig angesehen [...] mehr als 10fach bezahlt machen würden. Denn die so entstandenen Schulfarmen würden zu allem übrigen gleichzeitig die gegebene Ausbildungsstätte für den neuen Lehrerstand sein und somit durch den Einfluß, der von ihnen auf die Regelschulen zurückströmen würde, sich in ihren Auswirkungen quantitativ und qualitativ mehr als 10fach potenzieren. Übungsschulen sind gewiß an jeder pädagogischen Hochschule resp. Fakultät notwendig zur alltäglichen Schulung; aber sie werden immer etwas Künstliches, Treibhaus- und Handwerksmäßiges an sich haben, daneben müssen die werdenden Lehrer die Möglichkeit haben, gelöst von dem üblichen 'Betrieb' für eine Weile unterzutauchen in dem Gemeinschaftsleben einer selbstgewachsenen Samskola, wie sie R. M. Rilke in seinem schwedisch Reisebericht so lockend beschrieben hat [Anm. 1]. Nur Anstalten, die ihren Zweck in sich selbst haben, bieten den geeigneten Ort für das Einleben des Lehrernachwuchses in den Beruf. Sie umfassen den neu Eintretenden mit ihrem geschlossen Dasein; hier, wo man nicht als Halbtagsschüler in überfüllten Klassen sich mehr oder weniger zufällig zwecks Erwerbs vorgeschriebener Kentnisse trifft, lernt der Anfänger die Jugend ganz anders kennen, ohne die Tarnkappe der Schülerminen. Die schöne Natur, die gemeinsamen Arbeiten auf dem Feld, im Garten, in den Werkstätten, bei den Schularbeiten, führen ihn zwanglos in ihre Unterhaltung, in ihr wirkliches Leben äußerlich und innerlich ein; es fällt eine Scheidewand nach der anderen, und der 'Student' findet hier unwillkürlich den kameradschaftlichen Ton, der das Vertrauen der Jugend gewinnt. Und wer hier eine Zeitlang mitgetan hat, nicht etwa bloß hospitiert oder in Form eines Kurses, sondern als Schlafsaalältester, als Hilfslehrer, als im Manuellen Lernender, in jeder Beziehung aktiv mitgearbeitet hat, wird später in seinem Kollegium die Kräfte, die bisher vorsichtig gezögert hatten, durch seine Art ermutigen und mitreißen, das in jener Pionierschule Erlebte weitertragen und für ganze Schulgenerationen in Segen verwandeln. Praktische Belege dafür bietet O. v. Greyerz, früher Leiter des Landerziehungsheims Glarisegg, später Prof. der Pädagogik in Bern (Klinckhards Pädagogium Bd. III) [Anm. 2]; sogar das Provinzialschulkollegium Berlins hatte von 1927 ab Referendare wenigstens freigestellt, ein Ausbildungsjahr in solchen Lebensschulen zu verbringen; und der Unterzeichnete muß die 3 Jahre (1930-1933), in denen man ihm endlich junge Lehrer zur Ausbildung in Scharfenberg anvertraute, als die pädagogisch und menschlich fruchtbarste seines Lebens bezeichnen. Und seine Hauptmitarbeiterin im neuen Scharfenberg [Hilde Arnold] läßt ihren Rechenschaftsbericht über 1945 in folgendes Bekenntnis auslaufen: 'Wir sind zwar eine Insel, wollen aber nicht insular werden, wir suchen die Verbindung mit den Stadtschulen. Hier auf unserer Insel zeigt es sich bestimmt, ob einer der neue Lehrer ist, den die Zeit überall braucht. Willst Du prüfen, ob Du das Zeug zu dieser Aufgabe hast, komme zu uns und erprobe Dich. Wenn Du aus dem Kahn steigst und zu unseren Jungen stößt, dann hast Du freilich für eine zeitlang Dein Privatleben verloren. Wenn Dich dann dieses Ganz-mit-den-Kindern-leben befriedigt, Dich nicht arm und krank macht, wenn Du mit wachem Sinne das siebzigfache Wünschen der Jungenherzen aufnehmen und leiten kannst, wenn Dich dies Leben zu beglücken vermag, dann hast Du die erste wahre Lehrerprüfung bestanden.' [Anm. 3] Und wenn man eine gewisse Abkapslung der Jugend von der Welt befürchtet, braucht man nur die Rede zu lesen, der Gustav Landauer im Reich der Erfüllung die Überschrift 'Durch Absonderung zur Gemeinschaft!' gegeben hat [Anm. 4], um zu erkennen, daß gerade heute nur unter zeitweiser Verminderung schädigender Milieueinflüsse bei ungestörter positiver gemeinsamer Arbeit mit Kopf und Hand der neue Mensch sich formen kann, den wir brauchen, wenn wir uns nicht endgültig aufgeben wollen. Wir wundern uns deshalb, daß man so lange zaudert, die Schlösser von Goering, Goebbels und anderer [NS-] Größen diesen sozialpädagogischen Gedanken nutzbar zu machen! Gerade daß sie in der unmittelbaren Umgebung Berlins liegen, macht sie besonders geeignet; denn dadurch bleibt der Zusammenhang mit der Familie gewahrt; die Eltern können die Sonntage draußen verleben, sich mitfreuen und mitsorgen, aktiv und passiv an einem Lebensstil teilhaben, nach dem zu leben sich wieder lohnt. Günstiger noch sind freilich die Länder und Provinzen dran, in denen die Bodenreform durchgeführt ist. Nach unseren Erfahrungen sind die Direktoren der städtischen Güterverwaltung die verbissensten Gegner von Plänen, Teile ihrer Domänen dem Erziehungszweck dienstbar zu machen. Wie leicht müßte es in den Prozinzzonen sein, auf Restgütern, in leergewordenen Gutshäusern inmitten weiter Gartenanlagen den Schulfarmgedanken auf breiter Basis zu verwirklichen!"

Anm. 1
RILKE, Rainer Maria, Samskola [geschrieben um den 01.11.1904 in Jonsered in Schweden, gedruckt am 01.04.1905 in Berlin], in: RILKE, Rainer Maria, Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, Bd. 5, Frankfurt 1965, S. 672-681.

Anm. 2
GREYERZ, Otto von, Der Deutschunterricht als Weg zur nationalen Erziehung. Eine Einführung für junge Lehrer (=Paedagogium, 3), 2. Aufl. Leipzig 1921.

Anm. 3
Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: BLUME, Wilhelm, Denkschrift über die Schulfarm Insel Scharfenberg - was sie war, wie sie augenblicklich ist, und was sie werden soll [Dezember 1945], hrsg. von Dietmar HAUBFLEISCH, Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q61.html; hier S. 12-17: Bericht von Hilde Arnold über die augenblickliche Situation der Schulfarm.

Anm. 4
LANDAUER, Gustav, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, in: HART, Heinrich / HART, Julius / LANDAUER, Gustav / HOLLÄNDER, Felix, Die neue Gemeinschaft, ein Orden vom wahren Leben. Vorträge und Ansprachen, gehalten bei den Weihefesten, den Versammlungen und Liebesmahlen der Neuen Gemeinschaft (=Das Reich der Erfüllung. Flugschriften zur Begründung einer neuen Weltanschauung, 2), Leipzig 1901, S. 45-68.


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