Protokoll der 89. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. VII, o.S.

[Datum: , ......1929 - Protokollant: [anonym]]


Herr Ackermann eröffnete als Ausschuß die Abendaussprache, die diesmal untraditionsgemäß in den Mittagsstunden abgehalten wurde, mit der Begrüßung der Oberstüfler, die nach ihrem glücklichen Examen uns zu Ostern verlassen sollten und hiermit als letztes Mal [sic!] geschlossen einer Abendaussprache beiwohnten. Hauptsächlich stand die Frischbesetzung der freigewordenen Ämter auf der Tagesordnung, deren Ergebnisse folgendermaßen ausfielen: das Amt des Mahlzeitenchefs erlangte auf Vorschlag des Chefs, der damit gleichzeitig auf die Notwendigkeit einer ästhetischen Hebung der Tischsitten hinwies, Kurt Martinu vor Kaczmarek. Anschließend ernannte der Chef Kurt Bringmann zum Postdienste, da dessen Amtswirkung über den Inselbereich hinaus ginge und deshalb nicht der Verantwortung der Abendaussprache unterworfen werden könne.

Saalbibliothekar wurde auf Vorschlag des alten Bibliothekars Herbert Bestehorn.

Bei der Besetzung des neusprachlichen Bibliothekars entstand eine kurze Debatte, wobei Mundstock mit 38 Stimmen vor Kaczmarek mit 26 Stimmen als Gewählter hervorging [Anm. 1].

Die Wahl des Kunstberichterstatters wurde von Heinrichsdorff mit einem Antrag auf Gebietsteilung des Berichtes unterbrochen, der aber nur 22 Stimmen für sich gewinnen konnte und damit abgelehnt war. Das Amt, ebenso für Literatur wie für Malerei zu berichten, erhielt Bestehorn vor Martinu. Als Candidaten zum Sportbereiche stellte der alte Berichterstatter H. Wagner die "Kanonen" Drescher, Jahn, Schwieger, Schreck und Friedrich auf, von denen die beiden letzten von vornher-

((o.S.))

ein verzichteten und Schwieger als neuer Berichterstatter gewählt wurde.

Der Apothekerwahl wurde ein Antrag von Marnitz vorangeschickt, der Doppelbesetzung für das Amt vorschlug, da ja doch nur zwei dafür in Frage kämen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt mit der Begründung, man hielte es für selbstverständlich, daß der Nichtgewählte dem Gewählten als Helfer zur Seite stehen. Das Resultat gab Marnitz 36 Stimmen vor Meyer, der nur 18 Stimmen erhielt.

Nach der Eröffnung der Wahl des 2. Physiksaalwartes wies der Chef darauf hin, daß der Physiksaal kein Arbeitsplatz für den Wart sei und daß er überhaupt eigenmächtige Vertauschung der Arbeitsplätze mißbillige. Von den 3 Vorgeschlagenen erhielt Achilles mit 28 Stimmen das Amt.

Als Wart für die Zeitungen wurde Jahn, der schon in der Zwischenzeit das Amt aus eigenem Antriebe verwaltet hatte, mit großer Mehrheit gewählt.

Die Wahl des Kahnwartes, zu der man einen handfesten Handwerker am geeignetsten fand, fiel auf Thiele vor Ruthenberg.

Verwalter der Fährkasse wurde Ruthenberg mit knapper Mehrheit [von] 28:21 Stimmen. Auch die folgende Abstimmung verlief für Ruthenberg günstig; da man ihn allgemein als Angelerntesten bezeichnete, gab die Gemeinschaft ihm die Verantwortung für das elektrische Licht.

E. Meyer erhielt auf einstimmigen Vorschlag das Amt des Läutenants.

((o.S.))

Zum technischen Bericht, der seit einiger Zeit sein einstiges hohes Niveau hatte vermissen lassen, standen 3 Bewerber zur Auswahl, von denen H. Setzer gewählt wurde mit der Hoffnung eines besseren Berichtes (doch leider trügte diese Hoffnung). Damit waren die Wiederbesetzung[en] der Ämter erledigt. Nur Kurt Kaczmarek wurde noch von der Gemeinschaft als Kandidat für den Vereinsgelderheber der Scharfenbergfreunde vorgeschlagen, der von der Mitgliederversammlung dann bestätigt werden sollte.

Als nächster Punkt der Tagesordnung war ein Antrag von Herrn Dr. Moslé, der [die] Anerkennung des Amtes des Blumengärtners forderte, zu debattieren. Der Antrag wurde mit 26:30 Stimmen abgelehnt, da in nächster Zeit eine Gärtnerin auch zur Verbesserung der Parkanlagen angestellt werden sollte. Nach einer kleinen Pause verlas E. Meyer eine Erklärung der "Buchbindergesellen", die jedem augenblicklichen und werdenden Buchbinder die Pflicht vorschlug, Bücher, die er für Geld einbindet, nur auf Gemeinschaftskasse herzustellen, so daß also der Gewinn allen zuflösse. Darin wurde zwar eine gute Absicht, aber doch wieder Zwang gesehen und man hielt eine Vertagung am besten.

Kurz vor Schluß sprang der Chef noch auf und brachte eine äußerst scharfe Anklage gegen die Mißstände in der Freiübungspause vor die Öffentlichkeit, und versprach den widerspenstigen Elementen einen von seiner Autorität unterstützten Mißtrauensantrag. So schloß die Aussprache; auf manchen hatten wohl die letzten Worte einen ungewohnten Eindruck gemacht.

Grütz.




Anmerkungen::

Anm. 1:
MUNDSTOCK, Karl, Meine tausend Jahre Jugend, Halle, Leipzig 1981, S. 94f.: "Ich wurde Fremdsprachenbibliothekar, mit dem Erfolg, daß ((95)) mich der Chronide bei seinem Abendrundgang über den Büchern sitzend fand, wenn ich im Bett zu liegen hatte. Den 'Père Goriot', 'Les dieux ont soif', den 'lord Jim', 'The picture of Dorian Gray' habe ich durchgeackert und darüber alles um mich herum vergessen, Shaws Eliza aus 'Pygmalion' bereicherte mein Englisch mit ihrem Cockney. Und die saftigsten Ausdrücke aus Dorgelès' 'Crois de bois' zierten mein Französisch [...]. In den zwei Jahren meiner Tätigkeit erstickte die Bibliothek in Staub. Zuletzt war ich ihr einziger Kunde. Die Mitschüler enthoben mich meines Amtes. Auf derselben Abendaussprache wählten sie mich zum Berichterstatter, der zweimal wöchentlich beim Abendessen das Neueste aus den zeitungen vorzutragen hatte. Ich hatte fast alle Stimmen für mich. Die einen wollten meine Verfressenheit ahnden. Die anderen versprachen sich Skandal von meiner Wahl. Die letzteren unterschätzten die Scharfenberger Toleranz."



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