Protokoll der 85. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. VII, o.S.

[Datum: Do, 09.08.1928 - Protokollant: Jürgen Teutenberg]


Die 85. Abendausprache, die von einem Rondo Mozarts eingeleitet wurde, begann mit dem Ferienbericht. Endlich war die Beregnungsanlage eingetroffen und wurde grade in Betrieb genommen. Auch steigt jetzt das Wasser im Neubau elektrisch in die Höhe, so daß endlich der Pumpdienst aufhören kann. Was die Ernte anbetrifft, ist sie etwas im Rückstand, einerseits wegen des kalten Wassers im Frühjahr, anderer-

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seits wegen Mangels an Kräften. Besonders die Kirschenernte hatte darunter zu leiden, sodaß erst gestern die letzten Kirschen in die Küche kamen. Man hatte dieses Jahr wenig verkauft, dafür aber mit unserer neuen Büchsenschließmaschine desto mehr eingemacht, hoffentlich ohne den üblichen Alkohol. - Es blieb dann nur noch vom traditionellen Kegel- und Schwimmfest zu berichten, dessen Preisverleihung erst jetzt stattfinden konnte. Kabelich in der Eigenschaft als doppelter Sieger begann die lange Reihe der Gekrönten.

Darauf nahm die Kommission für das "Werdende Zeitalter" das Wort, indem sie noch einmal um rege Mitarbeit bat. Sie hätte zwar schon eine Reihe von Beiträgen erhalten, aber meistenteils von Außenstehenden, die Inselbewohner ließen noch auf sich warten. Der Endtermin wurde auf den 15. August festgesetzt.

Herr Blume nahm nun wieder das Wort und verlas einen Brief des "Meteorologischen Instituts", das darum bat, die Wetterstation von zwei Seiten aus zu photographieren.

Dann kam der Hauptpunkt, die Gestaltung des Verfassungstages und der Jahnfeier anläßlich seines 150. Geburtstages. Herr Blume entwarf einen Plan, der von allen gebilligt wurde. Am Sonnabend den 11. August sollte in den beiden ersten Stunden die Verfassung besprochen werden, nach dem Frühstück ein Konzert im Saal des Bollehauses und anschließend die Neuwahlen stattfinden, für die wohl kein besserer Tag als der Verfassungstag gewählt werden könne. Nachmittags, nach der Bekannt-

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gabe der Wahlergebnisse im Saal des Neubaues, könnten dann die verschiedenen Ausschüsse tagen. Am Sonntag dann sollte ein Sportfest stattfinden, dessen Verlauf am besten von einem noch zu wählenden Sportfestausschuß geregelt werden könnte. Am Sonntagnachmittag dann eine Jahnvorlesung mit anschließender Preisverteilung. Man ging, nachdem keine Änderungsvorschläge gemacht wurden, zur Wahl des Sportausschusses über, dessen Zahl auf 5 festgelegt wurde. Es wurden gewählt:

Meyer mit 80 Stimmen
Wagner mit 65 Stimmen
Heimhold mit 61 Stimmen
Teutenberg mit 59 Stimmen
Friedrich mit 45 Stimmen

Auf Anregung Teutenbergs wird der Waschdienst endgültig abgeschafft, die Sorge für die Waschräume den einzelnen Häusern überlassen.

Es soll dann die Wahl des neuen Abendaussprachenleiters stattfinden, aber auf Radvanns Vorschlag verbleibt Schipkus bis zu den Neuwahlen in diesem Amte.

Blume nimmt noch einmal das Wort um aufs schärfste Ludwig Knolls Verhalten zu mißbilligen, der ohne besonderen Grund nicht am 8. Abends (Schulanfang) anwesend war, und er betont, daß er hier in Scharfenberg unbedingt das Pflichtbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft erziehen will. Damit schloß die Abendaussprache.

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Die am 11. August stattgefundenen Wahlen ergaben:

Ausschuß: Moslé 47 (nachdem Ackermann verzichtet hatte), Schipkus 44

Schipkus 26
Fährkassenwart Kroll, Läutenant Jandt, Apotheker Teutenberg einstimmig gewählt, da keine anderen Vorschläge
Hauswart Grütz 38
Um den Neubau Weckmann 24
Gartensaalwart
Kultursaalwart Thiele 32
Musik-Saalwart Martinu 32
Hörsaalwart Albrecht 40
Um das Holzhaus H. Wagner 20 Ruthenberg 27
Um das Bollehaus Hüttner 48
Um das Braunhaus Zenk 28
Lichtwart Kroll 29
Spielwart E. Meyer 32
Tafelwart Marnitz 36
Schulplätze Waurisch 23
Anbauwart Sawatzki 34
Zeichensaal Fleig 32
Tintenwart J. Wagner 47
Mahlzeitenchef Teutenberg 40
Bibliothekar Fiebig 49
Politischer Bericht Jelski 24
Technischer Bericht G. Wendt 48
Naturwissensch. Bericht Weckmann 38
Kunst Bericht Martinu 27
Sportbericht H. Wagner 39
Badewart Koch 29
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Bullenbau im Neubau Kujack 29
Bullenbau beim Bollehaus Hüttner 39
Kanzel Weenen 42
Kahnwart Dreger 39
Buchbinderwart Marnitz 44
Laboratoriumswart Fleig 34
Zeitungswart Wulff 35



Anhang:

In dem Aufsatz im Oktoberheft des Werdenden Zeitalters [Anm. 1] heißt es über den Verfassungstag 1928, an dem diese Wahlen stattfanden:


Der gemeinsame Dauerlauf eröffnete wie alle Tage um 6 1/4 Uhr auch den 11. August. Um 7 Uhr läutet es sogar zum Unterricht! Der Neuphilologe setzte sich mit den Oberstüflern zusammen, und man zog unter Zuhilfenahme der Zeitungen Vergleiche zwischen der deutschen Verfassung und der englischen und französischen. Der Altphilologe besprach mit seinen Lateinern das klassische römische Beamtentum und die Organisation der deutschen Reichsbehörden. Der Historiker führte seine Zwischenstüfler zuerst auf das Schwarzburger Schloß, wo Friedrich Ebert vor neun Jahren die in Weimar beschlossene Verfassung unterzeichnete, und dann unter die Linde auf dem Hersfelder Schloßhof, wo genau tausend Jahre vorher ein sterbender König die Reichsinsignien dem Bruder übergab, sie in eiligem Ritt quer durch Deutschland dem tüchtigsten seiner Gegner zu überbringen. "Wer schlägt den Löwen, wer schlägt den Riesen, - der sich selbst bezwingt!" Man suchte in mittelalterlichen Quellen weiter nach Wahlberichten und Reichstagsbeschreibungen und nahm sich vor, in den kommenden Wochen mehr darin zu lesen und aus den Funden eine kleine Verfassungsgeschichte dieser tausend Jahre zusammenzusetzen, jeder seine eigene. Vom anderen Schulplatz hatte man schon öfter erregtes Sprechen herübertönen hören; jetzt klatschte man dort sogar Beifall. Unsere Jüngsten hielten da eine Reichstagssitzung ab; der Außenminister hatte eine Rede geschwungen, man hatte über den Beitritt zum Völkerbund debattiert; der Präsident hatte Ordnungsrufe ausgeteilt; man hatte den "Hammelsprung" agiert; Ministerien waren abund aufgetreten. Beim Frühstück noch wollten sich die Wogen der parlamentarischen Erregung nicht legen. Darum

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versammelten wir uns um unser Festkleinod, den einst von Ibach gestifteten Flügel und hörten die Es-dur Fuge aus dem wohltemperierten Klavier: Oboe, Violine und Flügel feierten wetteifernd den Tag im Bachschen C-moll Konzert. Nach diesem stimmenden Akkord konnte man sich unter die grünen Bäume an die blauen Tische setzen, um "mit Kraft und Würde", wie es Frau Regula Amrain vom Staatsbürger fordert, das Wahlrecht auszuüben. Eine Abendaussprache bei hellem Sonnenschein! Mehr als 30 Ämter waren zu besetzen - der "Läutenant", der Hauswart, der die Besen, Schrubber, Scheuertücher unter sich hat und das Möbelinventar führt, die Saaldienste, die schon eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, um die Gemeinschaftsräume zu säubern und im Winter zu heizen; der Musikwart tuts gleich mit im Flügelsaal; der Bibliothekar, der Entenwart; der Apotheker wird einstimmig gewählt, er war der einzige noch von denen, die vor zwei Jahren am Arbeitersamariterkurs in Tegel teilgenommen hatten. Aber auch Stichwahlen wurden nötig; während die Stimmen ausgezählt wurden, las jemand eine von den Quellenstellen vor, die man vorher im Verfassungsunterricht aufgestöbert hatte. Die berühmte Schilderung von dem Großmutsstreit der Konrade auf der Wahlebene bei Kamba wars, anno 1024. Und wie hatte der redselige Mönch sie geleitet? "Vergebens erwartest du von einem anderen Beistand; in schwierigen Dingen führen immer stilles Ueberlegen und schnelles Wagen am besten zu einem guten Ausgang. Es unterlag keinem Zweifel, daß es nicht einer unwichtigen Angelegenheit galt, sondern einer solchen, die, wenn sie nicht mit dem ganzen warmen Herzen und mit dem höchsten Eifer ergriffen wurde, dem Reiche unermeßlichen Schaden bringen mußte. So wandetn alle Wähler ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf, daß der Staat nicht länger ohne Herrscher sei. "Lauter Jubel erhob sich plötzlich. Die Spannung war gelöst. Ein Schüler der Zwischenstufe hatte über zwei Drittel aller Stimmen bei der Ausschußwahl auf sich vereinigt, jeder der beiden Ostern zu uns gekommenen Lehrer [= Moslé und Ackermann] eine hohe Zahl erreicht, nur eine Spaltung hatte hier das positive Ergebnis verhindert; nachdem einer von ihnen verzichtet hatte [=Ackermann], fiel dem anderen [=Moslé] im zweiten Wahlgang die Vertrauensmajorität zu. Wir hatten also nach dreivierteljähriger Zwischenpause wieder einen Ausschuß! Die älteren Scharfenberger - auch ehemalige waren zugegen, - sahen sich bedeutungsvoll an. War nicht der Ausschuß immer ein Barometer für das Höhenniveau des Ganzen gewesen? Ein bitterböser Winter lag hinter uns. Nicht daß das Fehlen des Ausschusses daran schulde gewesen wäre; aber daß er nicht zustande gekommen war, hatte angezeigt, daß etwas nicht stimmte, daß ein latenter Widerspruch vorhanden sein mußte zwischen der mitgeborenen Richtung und der augenblicklichen Zusammensetzung, daß keiner der Lehrer von Natur oder Wollen gerade die Eigenschaften hatte, die sein Wirken in diesem Kreise zu einer Notwendigkeit, zu einer beiderseitigen Freude gemacht hätte, daß die Oberstüfler zu schwach oder zu abseitig und die älteren Zwischenstüfler noch zu unbeschrieben gewesen waren. Andererseits hatte dies Interregnum den immanenten Willen der Gemeinschaft, auf der ursprünglichen Bahn fortzuschreiten, offenbart. Man hatte nicht Repräsentanten herausstellen mögen, die dem Format zu den früheren Ausschußmitgliedern nicht gepaßt hätten. Es gab keinen glänzenderen Sieg der Idee! Sie waren in den beiden Wahlversammlungen, aus denen kein Ausschuß hatte hervorgehen können, bewußt oder unbewußt respektiert worden. Daß jetzt wieder, wenn auch zunächst nur ein zweigliedriger Ausschuß vor uns stand, schien das nicht die Aufstiegskraft der im Sommer hervorgetretenen verheißungsvollen Ansätze zu bestätigen? Einen schöneren 11. August konnte es für die Inselbewohner nicht geben.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Aus dem Leben der Schulfarm Insel Scharfenberg. Bilder, Dokumente, Selbstzeugnisse von Eltern, Lehrern, Schülern, red. von Wilhelm BLUME, in: Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung, Jg. 7 (1928), S. 329-404, hier S. 375f.



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