Protokoll der 78. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. VI, o.S.

[Datum: Fr, 21.10.1927 - Protokollant: Werner Fiebig]


Um 7.30 Uhr wurde die Versammlung mit Schuberts: "Du bist die Ruh" für Cello und Klavier von Herrn Dr. Ziegelmayer und Bernd Bauer eingeleitet. Der Vorsitzende Kroll erteilte darauf Herrn Blume das Wort zum 1. Punkt der Tagesordnung: Mitteilungen. Herr Blume wies zunächst auf den Unglücksfall Frankes hin, der am Donnerstag von Sultan ernstlich gebissen worden ist und warnte vor dem Umgang mit unseren Kettenhunden. Dann teilte er mit, daß Herr Walter von Molo uns sein neuestes Buch, die "Legende vom Herrn" [Anm. 1] übersandt habe und daß er im Begleitschreiben darum bitte, daß ihm die Bücher, die sein Sohn hier Ostern 1927 zurückgelassen hat, zugeschickt würden. Es wurde festgestellt, daß einige von uns etwas über den Verbleib der Bücher wußten. Dann brachte Herr Blume den wichtigsten Punkt der Mitteilungen vor, nämlich, daß ein Angriff gegen Scharfenberg in der Zeitschrift der entschiedenen Schulreformer "Die neue Erziehung" (Herausgeber Dr. [Oestreich]) erschienen sei. Der Angriffsartikel stammt aus der Feder unseres früheren Altphilologen Dr. Walther Saupe und Herr Blume gab den Inhalt in seinen Hauptpunkten an (s. Anhang) [Anm. 2]. Es herrschte allgemeines Staunen, als Herr Blume den Namen des Verfassers nannte. Er wies darauf hin, daß wir aus dieser öffentlichen Kritik zu unserer Selbstkritik kommen sollten und legte das Heft der "Neuen Erziehung" auf den Tisch des Hauses zur allgemeinen Einsicht. Darauf sagte er, man habe ihm darin Pessimismus vorgeworfen, es sei aber eine positive Resignation, von der er erfüllt sei und in der er "hier im Saale stehe". Nachdem er von der gar zu persönlichen Haltung des Artikels gesprochen hatte, gab er bekannt, daß die Frage, ob und wie darauf geantwortet werden solle, am kommenden Sonntag, den 23. Oktober, im Elternausschuß verhandelt werden würde.

Beim 2. Punkt der Tagesordnung "Vorbereitung der Winterumstellung" ergriff der Vorsitzende Erwin Kroll selbst das Wort und berichtete, daß in 2 Zimmern im Oberstock des Bollehauses, in der Hoffmannbude und dem Balkonzimmer, am vorigen Montag geheizt und abgeriegelt war. Er stellte fest, daß, als der Ausschuß in die Buden kam, Arno Müller und Erich Buschke im Balkonzimmer behaupteten, daß sie, als sie selbst in die Bude gekommen wären, diese bereits geheizt vorgefunden hätten und daß sie das Heizen nicht hatten verhindern können, daß also Heinz Faas geheizt hätte; daß ferner die Bewohner der Hoffmannbude Erwin Hoffmann, Erich Dietz und Hans Hobus sich solidarisch erklärt haben, als man sie fragte, wer bei ihnen geheizt habe. Nachdem Erwin Kroll gefragt hatte, was die Gemeinschaft dagegen zu tun gedenke, und keine Wortmeldungen erfolgt waren - eine peinliche Stille herrschte im Saal -, fragte er weiter: "Sind die genannten Oberstüfler dazu berechtigt?" und wies auf den ironischen Ton Erwin Hoffmanns hin, der dem Ausschuß auf seine Frage, weshalb in seiner Bude geheizt sei, antwortete: "Weil uns so schwitzte!" Dann erklärte Kroll, daß Heinz Faas, als man ihn nach dem Grunde zu seinem Vorgehen fragte, erwidert habe, daß es in seiner Bude zu kalt gewesen sei, er habe nicht arbeiten können und gab seiner Meinung Ausdruck, daß Heinz Faas, Erwin Hoff-

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mann, Erich Dietz und Hans Hobus unkameradschaftlich gehandelt hätten; sie hätten gewußt, daß im ganzen Braunhaus auch nicht geheizt gewesen sei und daß die Kameraden in den anderen Buden auch froren. Heinz Franke hielt es hierauf für nötig, sich durch seine Wunden zu entschuldigen; er hatte seine Bude heizen lassen, nachdem es im Krankenzimmer so warm gewesen war, daß seine Wunden zu bluten anfingen, worauf eine plötzliche starke Abkühlung eingetreten war. Infolge dieser Umstände hielt er sein Handeln für berechtigt. Kroll bemerkte daraufhin, daß das Krankenzimmer der Ort sei, wo die Kranken liegen sollten, und daß es dann wohl nicht richtig geheizt gewesen sei. Dann lenkte er wieder zurück zu den andern Vieren, die ohne ersichtlichen triftigen Grund geheizt hatten und stellte von sich aus den Antrag, gegen die oben genannten Vier mit dem Mißtrauensvotum einzuschreiten, wobei er als Begründung angab, daß ihr Verhalten als eine Unverschämtheit gegenüber der Gemeinschaft zu bezeichnen sei und daß der Umstand, daß die Bewohner die Buden abgeriegelt hätten, nicht gerade von einem Gefühl der Sicherheit zeuge. Als 1. Redner der Angegriffenen nahm Erwin Hoffmann das Wort und behauptete, daß der Vorschlag Erwin Krolls zu stark sei. Man überginge die Mißbilligung der Gemeinschaft und verkenne die Schärfe des Mißtrauensvotums. Dann wollte er diesen Fall juristisch betrachten und zog zum Vergleich das unerlaubte Äpfelessen heran. Daraus zog er die Folgerung, daß das zum Heizen verwendete Holz dem entwendeten Apfel gleichkomme, also dieses Vergehen, moralisch gesehen, dem des Apfelstehlens. Diesem Vergleich schloß sich eine Erwiderung Hans Samters an, der darauf aufmerksam machte, daß es hier nicht auf das Holz ankomme, das zum Heizen verwendet wurde, sondern auf die Kaltblütigkeit, mit der man diese Handlung beging. Erwin Hoffmann bemerkte daraufhin, daß zum Äpfelstehlen wohl auch genügend Kaltblütigkeit gehöre und Fritz Dietz begrüßte den Vergleich Erwin Hoffmanns zwischen dem Heizen und dem Apfelstehlen. Im Anschluß daran erinnerte er an die Stange, die Herr Glasenapp jeden Morgen wieder am Apfelbaum stehen fand und an die Versuche, die Jüngeren von den Äpfeln abzuhalten. Dann zurücklenkend sagte er mit Nachdruck, daß nun das Budenheizen noch deutlicher zeige, was Gemeinschaft ist, als das Äpfelstehlen und zeigte sein Befremden darüber, daß alte Aufbauer dies schlechte Beispiel geben, worauf er bezweifelte, daß diese Leute das Recht hätten, noch von Gemeinschaft zu reden. Die Verteidigung übernahm nun Heinz Faas, der zunächst darauf hinwies, daß nur Oberstüfler so etwas machen konnten, was eine allgemeine Heiterkeit hervorrief, und der dann zur Begründung angab, daß die Oberstüfler mehr zu arbeiten hätten als die Zwischenstüfler. Als er darauf erklärte, er sei sowieso schon erkältet, erschollen Zurufe wie "Krankenhaus!" und "Zuriegeln!" Nachdem Heinz Faas der Meinung Ausdruck gegeben hatte, daß die andern ja auch hätten heizen können, begründete er, weshalb er keinen Antrag an den Ausschuß gestellt habe, daß allgemein mit dem Heizen begonnen werde, damit, daß das Wetter ständig wechselte. Er schloß seine Verteidigung mit dem Hinweis, daß es auch einigen Lehrern schon lange zu kalt sei. Das bestätigten Herr Radvann und Herr Friesicke,

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die die Unterrichtsräume für zu kalt hielten und weiter heizen wollten. Nach diesen Auseinandersetzungen greift Herr Blume in die Debatte ein, indem er darauf aufmerksam macht, daß von seinen Vorrednern zu oft die Phrase von der "Übervorteilung der Gemeinschaft" gebraucht worden sei, die z.B. Erwin Kroll angewendet hatte, und daß es nicht so sehr darauf, vielmehr auf das Beispiel ankomme. Der Heizantrag an den Ausschuß, wie Heinz Faas es gesagt habe, sei der richtige Weg. Es sei auch ganz taktlos, auf die Lehrer anzuspielen, da diese im Vergleich mit uns doch zur alten Generation zu zählen seien und sich nicht von heute auf morgen oder im 1. Winter auf die Gewohnheiten der neuen Generation umzustellen vermöchten. Deshalb seien die Lehrer gewissermaßen berechtigt gewesen zu heizen. Er selbst habe den Heizantrag nicht gestellt, da wir uns augenblicklich wegen des Anbaus an das Bollehaus, der noch nicht bezugsfertig ist, in einer peinlichen Lage befänden; denn es fehlten Arbeitsplätze und es müßten dann die Schlafräume geheizt werden. Wenn wir aber in der Übergangszeit geheizt schlafen würden, müßten wir es den ganzen Winter hindurch tun. Wir hätten bei solchem Wetter wie diesem nie vor dem 1. November angefangen zu heizen. Daß dies durchaus keine Ausnahme sei, sei ihm aus einen Gespräch mit Herrn Wolff, der uns heute besuchte, klar geworden, wo Herr Wolff, der jetzt in der 1. städtischen Studienanstalt bei Fräulein Gerhardt unterrichtet, erzählte, daß er mit seinen Mädchen dieser Tage nach Eichkamp hinausgefahren sei, um dort draußen den Unterricht abzuhalten. Nach einem Hinweis auf den Novemberpunkt der Abhärtung betonte Herr Blume, daß von Erkrankung keine Rede sein könne; ihm sei davon nichts zu Ohren gekommen. Es gebe keine Berliner Schule, in der nicht wenigstens ein Schüler zu dieser Jahreszeit fehle. In Scharfenberg komme dies nicht in Frage; in Scharfenberg sei der Gesundheitszustand glänzend. Er habe aber vorsichtshalber, falls z.B. anhaltendes Regenwetter eintreten sollte, überlegt, daß das Bibliothekszimmer im Bollehaus bis zum Bezug des neuen Saales dort als Arbeitsraum eingerichtet werden könne. Aber solche Selbstverständlichkeiten pflege er nicht auszusprechen; seine prinzipiellen und besondren Gründe dafür kenne ja der alte Aufbau. Um auf den positiven Fall zurückzukommen, nicht auf das beim Heizen verwendete Holz, sondern auf die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft komme es an, der man doch wohl noch etwas anderes verdanke als einige kalte Tage. Es gebe aber Leute, bei denen das Gefühl der Verpflichtung augenscheinlich nicht vorhanden sei. Dagegen protestierte Erwin Hoffmann, der behauptete, daß davon, daß das Gefühl nicht vorhanden sei, gar nicht die Rede sein könne. Herr Blume habe selbst vom Heizen gesprochen, er, Erwin Hoffmann, sehe in dem Mißtrauensantrag eine persönliche Gehässigkeit Erwin Krolls, der darauf nur erwiderte, daß er in dem Handeln der Vier eine Unterschätzung der Gemeinschaft erblicke. Dann nahm Edmund Schmitz-Hübsch das Wort und führte aus, daß jede Revolution dadurch entstehe, daß einige Leute sich ein Vorrecht verschafften, ohne dazu berechtigt zu sein und ohne Gegenleistungen zu stellen. So sei es hier auch und man müsse das mißbilligen. Nach diesem

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nicht ganz auf der Hand liegenden Vergleich stellte Herr Blume den Schlußantrag für diesen Punkt. Die nun folgende Abstimmung war geheim. Im Anschluß daran bemerkte Erwin Kroll zur allgemeinen Frage, "Umstellung auf den Winter", daß derjenige, der gern zum Heizer werden möchte, sich bei ihm melden solle und bezeichnete die Räume, die geheizt werden müssen. Herr Blume brachte daraufhin vor, daß die Warte der einzelnen Gemeinschaftsräume wie bisher doch diese Räume heizen könnten. Sie erklärten sich im allgemeinen auch dazu bereit, und Herr Blume beendete den 2. Punkt der Tagesordnung, indem er darauf hinwies, daß das Amt des Heizers ebenso ein Ehrenamt sei wie alle andern Ämter in Scharfenberg.

Herr Blume hielt es für besser, wegen der vorgerückten Zeit nun zunächst Paul Heinrichsdorff zu Worte kommen zu lassen, der uns im Anschluß an seine Studierzeit in England einen Reisebericht über englische Schulverhältnisse geben wollte. Dieses bedingte eine Umstoßung der Tagesordnung; denn dieser Punkt kam eigentlich erst an 4. Stelle und der dritte lautete "Anfragen und Anregungen". Die Punkte wurden also vertauscht.

Herr Blume erteilte Paul Heinrichsdorff das Wort, und dieser begann seinen Reisebericht mit der Erinnerung an den Winter 1922, wo Miss Ensor, die Freundin Fräulein Rottens uns besuchte, um einen Vergleich zwischen ihrer Schule in der weiteren Umgebung Londons und Scharfenberg anzustellen. Paul Heinrichsdorff hatte nun ihre Schule besucht und erzählte uns davon. Es gibt dort nicht eine Jahresteilung in Semester wie in Deutschland, sondern eine Teilung in Trimester, und einmal innerhalb eines Trimesters dürfen die Eltern nur ihre Kinder besuchen. Die Schule Miss Ensors ist wie alle Public Schools eine Privatschule der Vornehmen, die sowohl in Zivilisation und Bequemlichkeit als auch im Handwerk sehr auf der Höhe ist. Es gibt dort z.B. Reitpferde, und es wird viel Sport getrieben. In den Werkstätten wird nichts Zweckmäßiges hergestellt, sondern z.B. Gegenstände des Zimmerschmucks. Es sind dort eine Druckerei, Weberei, Flechterei und eine Schmiede. Die Werkarbeiten werden alle unter Leitung von Fachlehrern betrieben, die in reicher Menge vorhanden sind. Den Eindruck der Wohlgepflegtheit machen wie die ganze Schule auch die Teegärten, Gärten, in denen einerseits die Lehrer andererseits auch die älteren Schüler und Schülerinnen, das sind diejenigen, welche das 16. Lebensjahr vollendet haben, getrennt den five o'clock tea einnehmen und zu denen sonst kein andrer Zutritt hat. Mit dieser exklusiven Einrichtung ist Miss Ensor auch nicht einverstanden; sie läßt es aber zu mit der Begründung, daß England wohl eine Schul- nicht aber eine Gesellschaftsreform zulasse. Trotz aller Bequemlichkeit ist doch die Einfachheit gewahrt, und von Verweichlichung kann auch nicht die Rede sein. Die Arbeiten für den täglichen Gebrauch werden von extra dafür angestelltem Personal erledigt. Die Reform ist soweit gedrungen, daß die menschliche Gleichstellung mit dem Personal zum Schulprinzip gehört. Wer damit nicht einverstanden ist, wird ohne weiteres ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Ein Trimester auf dieser Anstalt kostet 55 Pfund oder 1.100 M. Der Tageslauf geht wie in Scharfenberg mit dem Dauerlauf los,

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dem sich dort eine gemeinsame Schulandacht anschließt, die sich Sonntags sogar zu einer Predigt erweitert. Auch das Mittagessen wird mit einem Gebet eingeleitet. Nach dem Essen ruht man sich aus, und wer das nicht will, begibt sich in die "hall", in der Vorträge der verschiedensten Art gehalten werden. Der Nachmittag ist dem Handwerk und der Musik gewidmet, in der nicht eine besondere Richtung betont, sondern vielmehr der Wert auf Fertigkeit im Erlernen eines Instruments gelegt wird. In der Kleidung, in der auch ein Symbol der Gemeinschaft erblickt wird, ist die grüne Farbe allgemein. Im Gemeinschaftsleben ist als Wesensunterschied von uns die Koedukation zu erwähnen, durch die ein vornehmer und höflicher Ton, doch ohne dabei oberflächlich zu sein, bewirkt wird. Zum Prinzip der Schule gehört es, international zu sein. So werden Schüler und Schülerinnen aller Nationen im Alter von 3-18 Jahren aufgenommen. Für die älteren Schüler besteht nur die Bedingung, daß sie früher schon einmal mit Mädchen zusammen erzogen worden sind. Die Schüler leben in Familien, die sie "companies" nennen und in denen sie wieder in Senioren und Junioren eingeteilt sind. Ein Lehrer steht einer "company" stets als Ratgeber zur Seite. Wenn ein neuer Schüler aufgenommen und zunächst einer "company" zugeteilt worden ist, so kann er, falls es ihm dort nicht behagen eollte, wechseln; beim 2. Wechsel werden ihm allerdings schon erhebliche Schwierigkeiten gemacht. Jede "company" hat einen Helden, den sie sich selbst wählt, wie z.B. die "company St. John" besteht. Diese "companies" sind die einzige Einrichtung der Gruppenbildung. Aus den einzelnen "companies" wird der "counsel", der Schülerrat gewählt, dessen Aufgabe es ist, die Alltäglichkeiten zu regeln, vor allem aber, Streitigkeiten zu schlichten und die Schülergerichtsbarkeit auszuüben. Es ist natürlich, daß meist Senioren in den "counsel" gewählt werden. Dagegen empören sich jetzt die Junioren, und es ist ein Juniorencounsel im Werden begriffen. Die Leiterin begrüßt den Juniorenkonflikt, mischt sich aber nicht ein. Es besteht demnach ein "self- government", in dem es zwar eine Vetostimme der Anstaltsleiterin gibt, die aber noch nie gebraucht worden ist. Noch ein grundlegender Unterschied von Scharfenberg besteht darin, daß keine Krisen wegen prinzipieller Dinge, keine Debatten vorkommen, weil die Schüler vor eine fertige Einrichtung gestellt wurden und weil der Engländer, bildlich gesprochen, von der Hand in den Mund lebt, während die Schüler Scharfenbergs doch das Werden der Schule mitdurchlebt und mitdurchkämpft haben. Dieser Zug und das Recht der Schüler, einen Kameraden von der Gemeinschaft auszuschließen (das in Wirklichkeit 1922 nicht bestand) hat auf Miss Ensor damals einen großen Eindruck gemacht. Der Unterricht findet seinen Abschluß in dem Examen, das zum Eintritt in die Universität berechtigt. Daher gibt es auch für die oberste Klasse den Begriff der Universitätsklasse. Die übrigen Klassen sind eingeteilt von a-e, in die der Schüler nicht nach dem Alter sondern nach der

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Fähigkeit eingereiht wird und in denen er je nach der Fähigkeit aufrückt, d.h. fächerweise, so daß beispielsweise ein Schüler in Mathematik in Klasse a und im Deutschen in Klasse c sein kann. Der Schüler wählt sich 4 Berufsfächer, in denen allein er im Universitätsexamen geprüft wird. Beim Unterricht wird der Lehrer möglichst ausgeschaltet. Für den Deutsch- und Französisch-Unterricht sind extra Sprachstuben eingerichtet, in denen man sich nur in der Fremdsprache unterhält. Es befindet sich in der deutschen Sprachstube auch eine deutsche Bibliothek. Die Vokabeln werden durch Lottospiel erlernt, und an den Türen, Fenstern, Wänden etc. der Sprachstuben sind die entsprechenden fremdsprachlichen Vokabeln angeschrieben. Beim Essen versucht man es mit Sprachtischen. Im Unterricht werden wie auch sonst im ganzen Gemeinschaftsleben nie Gruppen gebildet. - Als Paul Heinrichsdorff mit seinen Ausführungen soweit gekommen war, schloß er sie mit der Bemerkung, daß er hier ein Beispiel sehe für den Unterschied zwischen englischem und deutschem Geist: der englische Geist sei einzel- individualistisch, der deutsche gruppenindividualistisch eingestellt.

Aus der sich hieran anschließenden Debatte ging aus den verschiedensten Fragen in der Hauptsache folgendes hervor: Das Stimmrecht erhält jeder Schüler beim Eintritt in die Gemeinschaft, die jetzt aus 90 Mitgliedern besteht. Über dem "counsel" steht noch das "school-meeting", das sich aus sämtlichen Gemeinschaftsmitgliedern zusammensetzt. Die Eltern stehen nicht in Verbindung mit der Schule wie in unserer Schulgemeinde. Dann kann erst das Examen gemacht werden, wenn der Schüler in seinen 4 Berufsfächern in der Universitätsklasse ist. Zur Frage der Koedukation bemerkte Herr Blume, daß er den vornehmen Ton weniger auf den Umgang mit Mädchen als auf das Gentlemantum zurückführe. Auch er habe bereits vergangene Ostern in Scharfenberg Koedukation für die Oberstufe einführen wollen und habe sich nur durch den Einwand der Stadtverwaltung, daß wir damit das Wohlwollen der rechtsgerichteten Kreise verlören, davon abhalten lassen. Paul Heinrichsdorff erwiderte darauf, daß Gentlemantum in England Prinzip sei und daß Miss Ensor sich damals darüber gefreut habe, daß in Scharfenberg keine Koedukation bestehe, da man damit mit jüngeren Schülern anfangen müsse. Auf die nun folgende Frage Herrn Blumes, warum nicht auch ärmere Schüler bei Miss Ensor aufgenommen würden, antwortete Paul Heinrichsdorff, Miss Ensor sei damit wohl einverstanden, aber die konservative Einstellung der Eltern lasse das nicht zu. Mit einigen weniger wichtigen Fragen wurde die Debatte beendet.

Der Ausschuß hatte in der Zwischenzeit die Stimmen ausgezählt und Erwin Kroll verkündete das Ergebnis der Abstimmung: 56 Stim

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men sind abgegeben worden. Die 2/3 Mehrheit beträgt 34. Es haben 37 für "ja", 19 für "nein" gestimmt. Heinz Faas, Erwin Hoffmann, Erich Dietz und Hans Hobus ist somit das Mißtrauen der Gemeinschaft ausgesprochen worden.

Samter bot darauf die literarische Mappe aus; er könne sie wegen Zeitmangels nicht mehr führen.

Der übriggebliebene Punkt: "Anfragen und Anregungen" fiel aus, und Herr Dr. Ziegelmayer und Bernd Bauer spielten als musikalischen Ausklang auf dem Flügel 4händig das Andante con moto aus Schuberts C-Dur-Symphonie. Um 9.30 war die 78. Abendaussprache beendet.

Als man sich bereits zum Weggehen anschickte, verkündete Erwin Kroll, daß dem Ausschuß ein Versehen unterlaufen sei. Die 2/3 Mehrheit von 57 abgegebenen Stimmen betrage nicht 34, sondern 38. Es hatten 37 für "ja", 19 für "nein" gestimmt. Teutenberg wies auf eine Enthaltung hin, die nicht bekannt gemacht worden war. Heinz Faas, Erich Dietz, Erwin Hoffmann und Hans Hobus hatten also kein Mißtrauensvotum erhalten.

Werner Fiebig.


[Anhang, ebenfalls von Werner Fiebig:]


Als Nachspiel zur 78. Abendaussprache wurde die Gemeinschaft am nächsten Morgen, Sonnabend, den 22. Oktober zu 6.30 Uhr in den Saal zu einer Morgensprache gebeten. Erwin Kroll berichtete dort, daß der Ausschuß darauf aufmerksam gemacht worden sei, daß zu einem Mißtrauensvotum nur die absoltute Majorität erforderlich sei laut Beschluß der 75. Abendaussprache, also in diesem Falle 29 Stimmen dafür. Diesen Beschluß las er aus der Chronik vor und berichtigte das Ergebnis der Abstimmung dahin, daß Heinz Faas, Erwin Hoffmann, Erich Dietz und Hans Hobuß doch das Mißtrauen der Gemeinschaft ausgesprochen worden sei.

Um 6.40 war die Morgensprache beendet.

Werner Fiebig.


Anmerkungen:

Anm. 1:
MOLO, Walter von, Legende vom Herrn. Roman, München 1927.

Anm. 2:
SAUPE, Walther, Gedanken über Scharfenberg, in: Die Neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene Schulreform und freiheitliche Schulreform, Jg. 9 (1927), S. 771-775. - Der Text ist nicht, wie angegeben, in die Chronik eingefügt worden.

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