Protokoll der 77. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. VI, o.S.

[Datum: Do, 11.08.1927 - Protokollant: Hans Samter]


Die Versammlung, die gleichzeitig die Scharfenberger Verfassungsfeier sein soll, wird um 7.42 Uhr in Abwesenheit von H. Faas, der erkrankt ist, von Herrn Dr. Ziegelmayer und Bernd Bauer mit Beethovens Larghetto aus der zweiten Symphonie, am Flügel vierhändig gespielt, eingeleitet.

Zum 1. Punkt der Tagesgedenken, "Verfassungsgedenken", nimmt E. Oeser, der Vorsitzende der Abendaussprache, das Wort, um kurz einen Rückblick auf die Zeit der Erschaffung der Verfassung, sowie auf die Verfassungstage der Jahre 1920 - 1927 zu geben. Er zeigt den Weg vom Chaos zur langsamen Gesundung, der jetzt wohl so ziemlich erreicht ist. An seine letzten Worte, die Gemeinsames zwischen Scharfenberg, Jugenderziehung und Verfassung darzulegen suchen, schließen sich Blumes Worte stark an. Er spricht von der augenblicklich in Locarno tagenden Konferenz gegenwärtig zwar einflußloser, für die Zukunft jedoch bedeutungsvoller Schulmänner, die sich mit der Stellung der Verfassung zur Schule, wie sie in den §§ 146-149 festgelegt ist, nicht einverstanden erklären. Die 3 dort konsolidierten Grundbedingungen lauten: Einheitsschule, Werktätigkeit, Weltlichkeit der Schule. Sie wenden gegen den Arbeitsunterricht ein, daß er nur dem Einzelnen, nicht der Allgemeinheit zugute komme; die Weltlichkeit scheint ihnen Veräußerlichung zu sein, sie wünschen vielmehr Weltverbundenheit. Die Einheitsschule empfinden sie nur als Verwaltungsmaßregel, sie muß durch andere Gesinnung ohne Standes- und Geldbeutelrücksichten ersetzt werden. Den §§ 146-149 fehlt die Einheit, die Forderungen dieser Konferenz sind einheitlich, sind sozial. Die gegenwärtige Schule ist zu individualistisch, sie muß

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sozial werden, so, wie wir in Scharfenberg alles für die Gemeinschaft tun. So richtet Blume an die Scharfenberger Intelligenzen und Individualitäten die Bitte, alles für die Allgemeinheit zu tun:

Stell' Dich in Reih und Glied!
Das Ganze zu verstärken; Mag auch, wer das Ganze sieht,
Dich nicht darin bemerken.
Das Ganze wirkt und Du bist drin
Mit allen Deinen Werken.


Zum 2. Punkt, den Wahlen, berichtet E. Oeser, daß 11 von den zu Ostern neu Eingetretenen mit mehr als 3 Stimmen zu Ämtern vorgeschlagen worden sind. Jetzt muß nun zuerst abgestimmt werden, ob sie das Stimmrecht bekommen, da sie sonst weder das aktive, noch das passive Wahlrecht haben. Gleichzeitig ist das Probevierteljahr von Fr. Dietz abgelaufen, über sein Hierbleiben wird, auf Arno Müllers Wunsch in geheimer Wahl, abgestimmt. Mit Hinweis auf den § 109 der Reichsverfassung, der besagt, daß Männer und Frauen gleich sind, beantragt Blume für die beiden Küchenhelferinnen Gertrud Krull und Anna Mende das Stimmrecht, da sie viel Interesse für Scharfenberg gezeigt hätten. Es sind bei der Abstimmung über Dietz, Krull und Mende 52, bei der über die Zwischenstüfler 49 Stimmen abgegeben worden. Für Fr. Dietz sind 48, für Krull 47, für Mende 46, sodaß alle 3 das Stimmrecht haben. Von den Untertertianern haben nur 2 die erforderliche 2/3-Majorität von 34 Stimmen erreicht: Albrecht mit 41, H. Ruthenberg mit 36. Sie versprechen, der Gemeinschaft aus voller Kraft zu dienen und geben zur Bekräftigung dessen den 3 Ausschußmitgliedern die Hand. Dann wird gewählt, jedoch wegen der vorgeschrittenen Zeit nur die Ausschußstimmen ausgezählt.

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Der Ausschuß verläßt den Saal, Oeser gibt den Vorsitz an Blume ab, der zum 3. Punkt ein Schreiben vom Provinzial-Schul-Kollegium vorliest, das anfragt, ob und in welchem Maße Scharfenberg sich an einem Huldigungszuge, der dem Reichspräsidenten zum 80. Geburtstag von der Berliner Schülerschaft gebracht werden soll, beteiligen will. Da sich keine Diskussion entspinnt, wird abgestimmt, auf Teutenbergs Wunsch geheim, und es ergibt sich, daß 15 Stimmen für, 36 gegen Teilnahme sind, sodaß die Beteiligung ins Wasser fällt.

Auch der 4. Punkt wird ohne Diskussion erledigt. Blume erzählt, wie stets in Scharfenberg viele Besucher zum Hospitieren kamen, im letzten Semester ihnen häufiger gewehrt sei [Anm. 1]. Am 24.VIII. hätten sich die Teilnehmer des pädagogischen Ausländerkursus des Zentralinstituts angemeldet, Schulrat Niemann und Dr. Ziegelmayer (der letztere ohne sein Wissen) sollten nach dem mitgeschickten Programm [Anm. 2] die Scharfenberger Tertia nachmittags [Anm. 3] probeunterrichten. Da dadurch am Mittwoch nachmittags die Gemeinschaftsarbeit für einen Teil ausfallen müßte, bittet er die Gemeinschaft, ihn zu ermächtigen, in diesem, sowie in jedem späteren Falle, solches "Probe-unterrichten" außerhalb des angesetzten Unterrichts [Anm. 4] ablehnen zu dürfen, was auch gern gewährt wird.

Dann nimmt zum 5. Punkt Fr. Dietz das Wort, um seinen Antrag auf Schaffung einer festen Tischordnung zu begründen. Es sei keine Annehmlichkeit, daß man, wenn man etwas zu spät kommt, lange nach einem leeren Platz suchen müsse. Außerdem sei es von großem erzieherischen Wert, wenn für gewisse Zeiträume gewisse Menschen sich gegenübersäßen. Ferner seien noch viele im Punkte Essen zu erziehen, das sei aber nur möglich, wenn man ihnen längere Zeit gegenübersäße. Schmitz-Hübsch hält alle diese

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Gründe für nicht gewichtig genug, eine Tischordnung festzulegen, ermahnt vielmehr zur Pünktlichkeit, da doch jede Hausfrau auf rechtzeitiges Erscheinen bei Tische hielte und Unpünktlichkeit mit Unhöflichkeit gleichbedeutend seien. Im übrigen schlägt er vor, den 3 Landwirten, die nicht immer pünktlich sein könnten, feste Plätze einzuräumen. Dem erwidert Glasenapp, nicht aus solchen Erwägungen heraus habe Fr. Dietz seinen Antrag gestellt, sondern weil er das Benehmen bei Tische in geregeltere Bahnen bringen wolle. Er erklärt sich für den Antrag und bittet, doch erst einmal Gegengründe beizubringen. Vielleicht würde durch eine Tischordnung das ständige Laufen nach Brot, etc. aufhören. Heinz Link bestreitet das: Wenn an einem Tisch stets so und so viel Brot, Butter, usw. steht und eine feste Anzahl an Plätzen ist, wäre die Rennerei unmöglich. außerdem sei es viel leichter, andere zu erziehen, wenn die Nachbarn täglich wechselten. Das kann Fr. Dietz nicht unterschreiben, der bei täglichem Wechsel keinen Erfolg erhofft. Nachdem Teutenberg noch gegen die Tischordnung eingewandt hat, daß sie an ein Gefängnis erinnere, wird abgestimmt, und es ergibt sich, daß 11 für, alle anderen gegen die Tischordnung sind. Dann bittet Glasenapp noch um einen anderen Modus, um das Tellerverrutschen zu verhindern, aber Schmoll beweist, daß auch ohne Tischordnung an jedem Tisch eine feste Anzahl sitzt; Franke will dem Übel durch Anschaffung neuer Brotteller abhelfen. Blume ermahnt, die alte Sitte der Tischsprüche nicht einschlafen zu lassen und faßt das Ergebnis zusammen, indem er um Pünktlichkeit, aktives Eingreifen, Erneuerung der Tischsprüche und die Küche um neue Brotteller bittet. Eine Anregung Glasenapps, auch morgens und abends gemeinsam vom Essen aufzustehen, findet keinen Anklang, da man Hauptmahlzeit und Nebenmahlzeit getrennt wissen will.

Der Ausschuß betritt jetzt den Saal und verkündet, daß 53 Stimmen abgegeben wurden, da davon die 2/3-Mehrheit 36 ist, sind Kroll und Oeser mit je 38 Stimmen zum Ausschuß gewählt, während kein

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Lehrer die erforderliche Stimmenzahl erreichte. Dietz, Reinsch und Wagner kommen in die Stichwahl, es gelingt aber keinem von ihnen, die notwendige Stimmenzahl auf sich zu vereinigen.

Um 10 1/4 Uhr stellt der Vorsitzende den Schlußantrag, die beiden restlichen Punkte "Anfragen und Anregungen" und "Erntefest" werden vertagt.

Nachtrag: Am Sonntag, den 14.VII., werden sie erledigt. Oeser bittet um Vorschläge zur Verkleidung der Diensttafel, ferner wird ein Antrag Waurisch mit 21:7 Stimmen angenommen, daß am Sonnabend niemand vor 2 Uhr die Insel verlassen darf. Blume berichtet über seine Suche nach Märchenstücken für das Erntefest, man will es diesmal in einem anderen Rahmen feiern, statt des Dörflichen soll die Märchenwelt das Milieu bilden und man entscheidet sich für Shakespeares "Sommernachtstraum".

Die Wahlen, zu denen noch Stichwahlen nötig waren, ergaben folgendes Ergebnis:

Hauswart: Ruthenberg (23)
Fährkassenwart: Kroll (46) vor F. Dietz (7)
2 Gartensaalwärte: Schipkus (36) und E. Meyer (25) vor Jelski (9)
Kultursaalwart: Albrecht (30) vor Hobus (4)
Musik- und Saalwart: Bauer (31) vor Martinu (17)
Hörsaalwart: Heinrichsdorff (31) vor E. Meyer (15)
Um das Holzhaus: Dreger (20) vor Marnitz und Kube (7)
Läutenant: Jandt (43) vor Fiebig (4)
Um das Bollehaus: Müller (18) vor Hüttner (9)
Um das Braunhaus: Albrecht (25) vor Kroll (8)
Lichtwart: Franke (35) vor H. Wagner (10)
Spielwart: H. Wagner (35) vor Faas und Knoll (5)
Tafelwart: Marnitz (39) vor Wulff (6)
Schulplätze: Wulff (28) vor Kaczmarek (8)
Entenwart: Martinu (45) vor Teutenberg (4)


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Apotheker:
Franke (42) vor Teutenberg (10)
Tintenwart: H. Wagner (28) vor E. Dietz (8)
Mahlzeitenchef: Jandt (37) vor H. Wagner (13)
Bibliothekar: Link (27) vor H. Wendt (14)
Politischer Bericht: Oeser (50) vor Jelski (3)
Technischer Bericht: Franke (45) vor H. Wagner (5)
Naturwissenschaftlicher Bericht: Teutenberg (24) vor Schmitz-Hübsch (11)
Kunstbericht: Samter (21) vor Jelski (9)
Sportbericht: Link (24) vor W. Zander (8)
Badewart: Jandt (19) vor Koletzki (11)
2 Bullenbauwarte: Knoll (49) und Fiebig (43) vor Schmoll (9)
Kahnwart: Kaczmarek (28) vor Kube (8)
Buchbinderwart: Meyer (34) vor Zander
Laboratoriumswart: Schmitz-Hübsch (28) vor Teutenberg


H. Samter.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Der Halbsatz "im letzten Semester ihnen häufiger gewehrt sei" wurde von Blume eingefügt. Der Protokollant hatte zunächst vermerkt "und stets zugelassen worden".

Anm. 2:
Die Bemerkung "nach dem mitgeschickten Programm" wurde von Blume eingefügt.

Anm. 3:
Der Begriff "nachmittags" wurde von Blume eingefügt.

Anm. 4:
Die Erläuterung "außerhalb des angesetzten Unterrichts" wurde von Blume eingefügt.



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