Protokoll der 72. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 463-472

[Datum: Mo, 07.03.1927 - Protokollant: Heinz Franke]


Die Abendaussprache wurde eingeleitet durch 3 von Herrn Sorge gesungene Lieder Beethovens, am Flügel begleitete Peter Völkner.

Danach nahm Herr Sorge unter dem Punkt Mitteilungen des Ausschusses das Wort. Er erklärte kurz den Sachverhalt in der Angelegenheit Waurisch - Löslein in folgenden Worten: "Es ist allen bekannt, daß Waurisch seit einigen Tagen nicht mehr auf der Insel ist. Um allgemeinem Gerede und irrigen Gerüchten ein Ende zu bereiten, teile ich folgenden Sachverhalt mit. Am Mittwoch den 2. März hielt ich meinen Mathematikunterricht für die Zwischenstufe im "Grossen Saal" ab und beauftragte die Jungen, die noch an der Wand befindlichen Karten zu entfernen. Hierzu benötigten sie ihre Taschenmesser, um die Reisnägel, mit denen die Bilder befestigt waren, zu entfernen. Bei dieser Beschäftigung gerieten Löslein und Waurisch in Streit. Löslein gab Waurisch einen Puff, den Waurisch erwiderte. Waurisch behauptet, in diesem Augenblick vergessen zu haben, daß er noch ein offenes Messer in der Hand hatte.

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Somit erfolgte die Körperverletzung nicht mit Absicht. Da der Vorfall im Unterricht stattgefunden hat, hat das Lehrerkollegium zunächst Waurisch sofort nach Haus geschickt, möchte aber den endgültigen Beschluß der Gemeinschaft überlassen." Herr Sorge bittet um Äußerungen. Da keiner antwortet, ergreift Herr Sorge nochmals das Wort. "Es bestehen 3 Möglichkeiten, Ausschluß aus der Gemeinschaft, Dispensation bis Ostern und Mißbilligung der Gemeinschaft." In seinem Urteil möge man auch die Folgen für Waurisch bedenken. Herr Sorge bittet wiederum um Stellungnahme. Franke antwortet. Er geht von dem Eindruck aus, den er von Waurisch hat und glaubt, daß diese Tat gegen Waurischs sonstigen Charakter spreche. Er betont, daß es nicht unwichtig sei, daß gerade Löslein der Partner in diesem Streit gewesen sei, dessen Neigung zum Streiten ja bekannt ist. Aus diesen Gründen ist er persönlich gegen den Auschluß aus der Gemeinschaft. Weiter erinnert er an einen ähnlichen Fall, der sich kurz vor

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Weihnachten des vergangenen Jahres abgespielt hat und erklärt, daß, wenn man konsequent sein wollte, auch von einer Dispensation absehen müßte, da auch diese Maßnahme, verglichen mit dem früheren Fall, Waurisch zu hart treffen würde. Er ist für Mißbilligung. Da keine anderen Stimmen laut werden, formuliert Kroll Frankes Äußerung: Wer ist dafür, Waurisch die Mißbilligung über sein Verhalten auszusprechen und ihn sobald wie möglich zurückzuholen. Die Abstimmung ergab 9 Stimmen gegen den Antrag. Franke wundert sich, daß keine von diesen 9 Stimmen sich vorher geäußert hat und bedauert dies Verhalten sehr, da er so die Abstimmungen für tote Handlungen ansieht. Völkner sagt hierauf, daß er in der Handlung Waurischs etwas Gemeinschaftgefährdendes sieht und von sich aus mit einem solchen Menschen nicht in einer Gemeinschaft zusammenleben könnte. Darauf sagt Herr Blume, daß er nicht

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auf der Seite von Völkner stände, aber auch gegen Frankes Ansicht stimmen mußte. Herr Blume sagt, daß diese Tat gerade im Charakter Waurischs, den er nervös leidenschaftlich bezeichnet, begründet ist. Er wäre für den Mittelweg gewesen. Herr Sorge dringt nun auf Stellungnahme zu Löslein. Herr Dr. Saupe meint, daß in dem geringen Strafmaß für Waurisch schon eine starke Mißbilligung gegen Löslein ausgesprochen sei und eine direkte Maßnahme gegen Löslein wohl nicht am Platz sei. Mehrere Stimmen schließen sich der Meinung Herrn Dr. Saupes an. Herr Blume ergreift das Schlußwort. Er betont, daß man sich im gegenseitigen Verkehr mehr Beherrschung auferlegen müßte. Er erinnert an Beispiele aus früherer Zeit und warnt, solch Verhalten des Gegeneinanderlebens zur Gewohnheit werden zu lassen.

Der Ausschuß kommt zum 2. Punkt der Mitteilungen. Herr Sorge spricht im Namen des Ausschusses seine Mißbilligung aus über das Verhalten Opalkas gegen den Badewart W. Jandt, dessen

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Aufforderung nicht außer der Reihe zu baden, er nicht befolgt hat. Herr Sorge sieht hierin ein schlechtes Beispiel und hat darum diese Angelegenheit zur Sprache gebracht.

Oeser teilt mit, daß der Mahlzeitenchef von Molo sich über Schipkus beklagt hat, der mehreremale seinen Tischdienst nicht pünktlich besorgt hat. Der Ausschuß beantragt Dienstentziehung bis Ostern für Schipkus. Molo sagt, daß es nicht in seiner Absicht gewesen sei, diese Maßnahme gegen Schipkus durch seine Klage zu erreichen. Es hätte ihm genügt, wenn der Ausschuß Schipkus ermahnt hätte. Weiter sagt von Molo, daß er bestimmt glaube, daß die anderen Dienste im allgemeinen viel nachlässiger betrieben würden, nur da hier sich niemand direkt drum kümmere, auch keiner zur Verantwortung gezogen werden könnte. Herr Blume greift diese Bemerkung auf und klagt den Ausschuß an, daß dieser sich nicht genügend um die pünktliche Durchführung der Waschdienste kümmere. Kroll verteidigt den Ausschuß und sagt, daß er trotz Aufforde-

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rungen der Betreffenden keine Änderung herbeiführen könnte und führt verschiedene Beispiele an. Herr Blume sagt ganz allgemein, daß es nötig sei, alle Dienste ernster zu nehmen. Außerdem fordert Herr Blume eine Äußerung von Schipkus heraus. Herr Blume wundert sich, daß an diesem Abend gerade Mitglieder, die man sonst als gewissenhafte Menschen kennt, vom Ausschuß als abschreckende Beispiele hingestellt werden. Es kommt zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses auf Dispensation bis Ostern von jeglichem Dienst für Schipkus. Der Antrag wird mit 17 für und 29 dagegen abgelehnt.

Herr Blume und Herr Sorge wünschen Stimmentziehung bei den Abstimmungen über die Jüngeren für von Molo, Jaesrich, Noeggerath, weil alle 3 um 7 Uhr noch nicht aufgestanden waren. Herr Blume fühlte sich aus folgendem Grund hierzu veranlaßt. Am selben Morgen war Georg Wendt, der durch eine Prüfung am vorhergehenden Abend in Berlin zurückgehalten war, um 4 Uhr aufgestanden,

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um pünktlich 6.10 zum Dauerlauf in Scharfenberg zu sein. Da hier die Gegensätze ganz scharf gegeneinander standen, hatte Herr Blume sich zu dieser Äußerung veranlaßt gefühlt, und vor allem, damit die wirklich Gewissenhaften nicht irre werden durch das schlechte Beispiel. Der Antrag wird von der Gemeinschaft angenommen. Hierauf schließen sich Völkner, Voigt, Faas von selbst mit ein, da, wie sie sagen, für sie dasselbe zu träfe.

Antrag Teutenbergs kommt zur Sprache. Teutenberg will einen festen Lichtsatz, 1,50 M. für den Monat und will durch diese Einrichtung dem gesundheitswidrigen Durcharbeiten bei Nachtschichten, nur um seinen Groschen auszunutzen, entgegentreten. Er führt z.B. an, daß es gesünder wäre, 3mal in der Woche bis 10 1/2 Uhr zu arbeiten, als einmal bis 3 Uhr früh. Herr Dr. Ziegelmayer wendet sich ganz prinzipiell gegen das Nachtarbeiten und fordert für die Scharfenberger Lebensweise mindestens 8-9 Stunden Schlaf. Herr Blume meint, daß es zum größten

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Teil an dem Mangel sich die Zeit richtig einzuteilen läge, denn am Vormittag wären in allen Wochen außer der Kulturwoche für jeden genug Freistunden, um auch größere Arbeiten durchzuführen. Der Antrag Teutenbergs wird mit 7 Stimmen dafür abgelehnt.

Der nächste Punkt der Tagesordnung beschäftigt sich mit Eßangelegenheiten. Fräulein Kückelhahns Anregung, in der Arbeitswoche 1 Schmalzstulle am Nachmittag auszugeben, und die tägliche Kantenausgabe ganz abzuschaffen, wird von Herrn Blume als Antrag formuliert und von der Gemeinschaft angenommen. Gegen Oesers Anregung, eine Tischordnung einzuführen, damit die Verteilung des Essens besser geregelt werden könnte, wird protestiert.

Man kommt nun zum Antrag Samter auf Stimmrechtverleihung für die Jüngeren. Der Antrag wird mit 2 Gegenstimmen angenommen. Es wird abgestimmt über Block, Böttger, Eggebrecht, Papendorf, Schnäwel, Löslein, Georg Wendt. Da Herrmann Ostern Schar-

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fenberg verläßt, um auf eine andere Schule überzugehen, wird über ihn nicht abgestimmt. In der Zeit, in der der Ausschuß die Stimmen auszählte, spielten Herr Sorge und Völkner den ersten Satz aus der Eroica von Beethoven. Nach Schluß des Spiels verkündete der Ausschuß das Ergebnis der Abstimmung. 48 Stimmen waren insgesamt abgegeben, die 2/3 Mehrheit beträgt 32 Stimmen. Das Stimmrecht haben somit erhalten Georg Wendt mit 44 Stimmen und Ernst Eggebrecht mit 36 Stimmen.

Frankes Anregung, die von Fräulein Kückelhahn ausgeht, in der Arbeitswoche und am Mittwoch zum Abend Warmwasser zum Waschen zur Verfügung zu stellen, wird ohne Widerspruch aufgenommen und der Badewart W. Jandt wird beauftragt für warmes Wasser an diesen Tagen zu sorgen.

Zuletzt spricht Herr Dr. Ziegelmayer und teilt unter allgemeinem Gesichtspunkt Vorfälle aus seinem Kurs mit. Er vermißt noch immer ein

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größeres Entgegenkommen und besonders pünktliche Pflichterfüllung. Er führt Gegenbeispiele an. Beschädigung eines Planktonnetzes. Teutenberg will den Naturkurs verteidigen. Die Debatte wird durch Schlußantrag abgebrochen.

Heinz Franke.



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