Protokoll der 70. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 394-399, incl. eingefügter Seiten.

[Datum: , ......1926 - Protokollant: Hans Jakob Noeggerath]


1. Teil: Versammlung aller Stimmberechtigten zur Abstimmung über Antrag Teutenberg, Stimmrechtverleihung für die Zwischenstüfler und Aufbauer.

Wegen der zahlreichen musikalischen Darbietungen in der Bußtagsfeier am Nachmittag fand keine musikalische Einleitung statt. Oeser eröffnet die Abendaussprache und gibt dem Antragsteller Teutenberg das Wort. Dieser begründet den Zeitpunkt seines Antrages mit der Feststellung, daß bei der letzten Stimmrechtverleihung einige, durch die bevorstehenden Neuwahlen beeinflußt, gestimmt hätten. Herr Blume wendet sich gegen die unklare Ausdrucksweise Teutenbergs und sagt dann, auf den Antrag selbst übergehend, daß es im Fall Kube (der auf den Antrag des Mahlzeitenchefs Molo wegen Nachlässigkeit in der Ausübung des Tischdienstes einmal vom Wochendienst dispen-

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diert ist) im Zweifel sei, ob er ihm das Stimmrecht trotzdem verleihen solle, oder nicht. Franke will Kube verteidigen und hebt seinen großen Eifer im Schlossertum hervor. Herr Ziegelmayer betont seine große Bescheidenheit und Teutenberg meint, der Fall sei eine einmalige Entgleisung, welche man bei Kube nicht verallgemeinern könne. Franke findet, daß wir entweder der Mehrzahl der Kleinen das Stimmrecht verleihen müssen, oder gar keinem. Oeser unterstützt ihn in dieser Forderung, da er meint, daß wohl so bald nicht mit einem neuen Antrag auf Stimmrechtverleihung zu rechnen sei. Faas meint, daß die Forderung Frankes gar nicht so dringend sei, da wir uns im Fall eines Scheiterns der heutigen Versammlung noch klarer über die Kleinen würden. Heimhold entgegnet ihm, daß man doch wahrhaftig genug Zeit gehabt habe, sich über die Kleinen klar zu werden. Oeser schlägt vor, Kube jetzt das Stimmrecht zu verleihen, es aber erst nach Kubes nächstem Dienstantritt in Kraft treten zu lassen. Herr Blume betont nochmals, daß er es für einen logischen Widerspruch halte, jemandem das Stimmrecht zu verleihen, der von einem Ehrenamte dispensiert ist. Jaesrich meint, daß eine solche einmalige Nachlässigkeit auch uns passieren könne, und daß sie kein Grund, Kube im allgemeinen nicht zu vertrauen, sei. Herr Sorge hält Urteilskraft, die er Kube wohl zutraut, für die wichtigste Eigenschaft der Stimmberechtigten, zwar sei auch Handeln nötig, aber in diesem Punkte stimme er mit Jaesrichs Ansicht überein. Da niemand mehr etwas zu sagen hat, wird über Antrag Oeser (Abstimmung über Stimmrechtverleihung für Kube jetzt, mit Inkrafttreten des Stimmrechts nach der ersten Dienstwoche Kubes ) abgestimmt. Das Ergebnis ist: 19 Stimmen dafür, 13 Stimmen dagegen, Herr Sorge behauptet, daß er diesen Beschluß für einen

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großen Widerspruch und eine formale Lächerlichkeit halte. Herr Blume tritt für diesen Kompromiß ein, während ihn Franke auch widerspruchsvoll findet. Teutenberg meint, daß wir nur zu feige wären, Kube, trotz unseres Beschlusses über dieee Kleinigkeit, das Stimmrecht zu geben. Molo entgegnet, daß man schon so viel Vertrauen zu ihm haben müsse, den Grad der Nachlässigkeit Kubes zu beurteilen, andernfalls müsse man ihn absetzen. Als keine Wortmeldungen mehr erfolgten, wurde zur Abstimmung auf Zetteln mit den vorgeschriebenen Namen der Kleinen geschritten. Als Zweidrittel Mehrheit werden 27 Stimmen festgesetzt. Als Herr Sorge in Erwägung zieht, weniger ale 2/3 Mehrheit für die Stimmrechtverleihung genügen zu lassen, wird über diesen antrag abgestimmt und er wird von der Mehrheit (31 Stimmen) abgelehnt. Nach dieser Wertung erhalten das Stimmrecht: Meyer mit 36, Kaczmarek mit 34, Kube mit 33 und Draeger mit 31 Stimmen. Die Kleinen werden hereingerufen und es wird ihnen das Ergebnis der Abstimmung mitgeteilt.

Es folgt Antrag Pewesin auf Ausschluß von Erich Dietz. Pewesin sagt, daß er seinen Antrag aufrechterhalte, was damals am Montag früh eine augenblickliche Reaktion war, habe sich jetzt bei ihm zur festen Anschauung durchgerungen. Die Gefahr liege nicht in der einmaligen Übertretung eines Gesetzes, sondern in der seelischen Struktur eines Menschen wie Erich Dietz. Er habe die Entschuldigung damals wie einen Peitschenhieb empfunden. Es sei ihm quälend, jetzt, da sich eine gesunde Richtung unter der Führung Walter Jenkes eingestellt habe, von so einer Sache zu reden, aber es bestehe eine Gefahr für die Zukunft. Wie der gesunde Körper das Kranke ausstößt, so müsse Scharfenberg das Uberhandnehmen der Einstellung eines Dietz mit aller Schärfe bekämpfen. Diese Schärfe sei in Hinblick auf die Hoffnung einer schönen Zukunft berechtigt und die Gefahr eines Herrschens der Dietzschen Einstellung bestehe tatsächlich. Nämlich, daß Herr Blu-

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me am Montag früh nur warnte, nicht in Wut geriet, sei ein Zeichen seiner Hoffnungslosigkeit. Der Wesensunterschied zwischen der Einstellung von Erich Dietz und den Zielen Scharfenbergs sei so groß, daß nur eine Diktatur Herrn Blumes das Bestehen Scharfenbergs retten könne, wenn dieser Antrag nicht durchginge, Pewesin schloß mit der Aufforderung an alle vom Bußtage wahrhaft Ergriffenen, seinen Antrag anzunehmen. Es herrschte minutenlanges Schweigen. Eine Anfrage des Vorsitzenden, ob Dietz etwas zu seiner Verteidigung zu sagen habe, blieb unbeantwortet. Herr Sorge erwidert auf Pewesins Antrag, daß dieser heute seine Behauptung von Montag morgen, er wolle Dietz zu einem angenehmen Leben zuhause verhelfen, zurückgenommen habe. Er habe den Antrag aus Liebe zur Gemeinschaft gestellt. Man sei ein Mensch für alle Menschen und Scharfenberg könne nicht den ganzen Menschen für sich fordern. Er selber habe ein sehr enges Verhältnis zu seiner Familie, besonders zu seiner Mutter, er wisse zwar nicht ob dies bei Dietz der Fall sei, aber er könne sich sehr wohl vorstellen, daß dieses Verhältnis in besonderen Fällen das Wegbleiben eines Scharfenbergers entschuldigen könne. Er sei der Ansicht, daß man das Recht haben müsse, sein Leben zu bereichern (indem man zum Beispiel Sonntag abend in die Oper geht) wenn man hierdurch der Gemeinschaft keinen Schaden zufügt. Er fordere Dietz auf, die Gemeinschaft über die Tatsachen aufzuklären. Er gebe Pewesin die Folgen seines Antrages zu bedenken, wenn Gerechtigkeit walte, müßten nach diesen strengen Forderungen 9/10 aller Scharfenberger die Insel verlassen. Er müsse sich überhaupt über die Unklarheit des Scharfenberger Rechtswesens beklagen, was dem einen als richtig er-

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scheint, hält der andere für falsch. Schließlich müsse er sich noch gegen die Form der Mitteilung des Pewesinschen Antrages wenden, die er für beleidigend halte. Pewesin entgegnet hierauf, daß er nicht antworten könne, weil ihm alles von Herrn Sorge Gesagte durchaus fremd und neu erschien. Heimhold erklärt sich für den Antrag, da er meint, daß ein Mensch dem Wohle von sechzig weichen müsse. Teutenberg weist auch auf die Konsequenzen hin, die eine gerechte Durchführung des Antrages nach sich ziehen würde. Es müßten noch viele mit Dietz gehen, meint er. Franke will zu einer Aussprache über die grundsätzliche Stellung Scharfenbergs zur Familie anregen. Er sagt, daß er nicht zu einer Klärung dieses Problemes kommen könne. Einerseits sollen die Scharfenberger auf der Insel bleiben, andererseits soll die Verbindung mit der Familie erhalten werden. Für viele sei die Familie ein leerer Name, für andere dagegen nicht und für diese letzteren, halte er eine klare Fragestellung für nötig. Herr Sorge fordert alle dringend auf, zu dieser Frage in Bezug auf Dietz Stellung zu nehmen, da bisher nur wenige ihre Meinung gesagt hatten. Er fragt, ob diese von Franke umschriebene Doppelstellung zu ändern sei. Er gibt zu überlegen, ob nicht ein anderes Mittel zur Bestrafung zu finden sei, damit wir endlich in ein ruhigeres Fahrwasser kommen. Pewesin entgegnet, daß es sich hier nicht um das Problem Scharfenberg - Familie handle, sondern um die seelische Struktur von Erich Dietz. Faas bestreitet, daß ein Mensch im Alter Pewesins die seelische Struktur eines Gleichaltrigen erkennen könne, noch dazu, wo er diesem so ferne steht. Herr Sorge weist zugunsten von Erich Dietz auf dessen Fleiß beim Bauen von physikalischen

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Apparaten hin. Außerdem stimmt er der Behauptung von Heinz Faas zu und stellt die Behauptung auf, daß sich die seelische Eigenart eines Menschen oft erst mit 23 Jahren zeige. Herr Ziegelmayer erklärt, daß er sich prinzipiell mit dem Standpunkt Pewesins einverstanden erklären müsse und dessen Antrag unterschreibe. Aber er sagt, daß er mit der Form des Pewesinschen Antrags am Montag durchaus nicht zufrieden sei, da dieser Beleidigendes über Dietzens Eltern geäußert habe. Als Beweis dafür, daß viele in Scharfenberg ihrer Familie sehr ferne stehen, erzählt er eine bezeichnende Geschichte aus Scharfenberg. Schließlich bittet er doch noch um einen Mittelweg im Vorgehen gegen Dietz. Völkner teilt mit, daß Dietz ihm erzählt habe, er sei sehr gerne zuhause und wenn er hierher von seinen Eltern käme, so brauche er immer einige Stunden zur Umstellung, aber nach dieser Umstellung fühle er sich in Scharfenberg immer sehr wohl. Herr Ziegelmayer fordert eine rasche Umstellung. Herr Sorge beschwert sich nochmals über die Unklarheit der Gesetze in Scharfenberg. Er sagt, daß er sich unbedingt die Freiheit vorbehalten müsse, bei einer wichtigen Angelegenheit erst Montag früh zu kommen. Pewesins Antrag halte er nur für berechtigt, wenn der Ausschluß vorher angedroht worden wäre. Franke fordert nochmals Gerechtigkeit, ebenso Herr Ziegelmayer. Nun erklärt Herr Blume, daß er sich nicht prinzipiell äußern wolle, sondern daß es seine Absicht sei, nur auf an dem Abend berührte Punkte einzugehen. Es sei wohl allen zum Bewußtsein gekommen, daß er in der letzten Zeit

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die Scharfenberger Richtung mehr betont habe. In unserer kritischen Situation tue Schärfe besonders not und daher müsse er unbedingt für Pewesins Antrag stimmen, wenn sich keine andere Lösung finden lasse. Er wendet sich gegen die Behauptung, daß das Vergehen von Dietz ein einzelner Fall sei. Es widere ihn an, diese alten Dinge wieder auszugraben. Dann erwidert er auf Herrn Sorges Behauptung, man sei in Scharfenberg zu streng mit der Handhabung der ungeschriebenen Gesetze, daß im Ernstfalle nie ein Ausbleiben am Sonntag Abend getadelt worden sei, und er führt Molo ale Beispiel an, der 2 Tage bei seinem krank aus Dänemark zurückgekehrten Vater geblieben war. Bei weniger wichtigen Hinderungsgründen sei die Tradition mehr wert, als diese Entschuldigungen. Außerdem wirft er Herrn Sorge zu große Schärfe bei der Beurteilung des Pewesinschen Antrags vor, dessen Schärfe er, als aus der leidenschaftlichen Sorge um Scharfenbergs Zukunft entsprungen, entschuldigt. Er gibt Herrn Sorge jedoch die Möglichkeit einer entscheidenden seelischen Änderung zu und erinnert an das was er uns aus seinem eigenen Leben erzählt hat. Wenn das Leben in Scharfenberg einen Sinn haben soll, so fährt er fort, so müsse mit rücksichtslosester Schärfe gegen alte Mißstände vorgegangen werden. Das einzige, was ihn bisher abgehalten habe, die Elemente Dietzscher Richtung auszustoßen, sei die Überlegung gewesen, daß diese Schüler schwer in einer Berliner Schule unterkommen würden. Dies sei auch der Grund gewesen, warum er beim Falle Dietz nur gewarnt habe, nicht Resignation. Der Eifer beim Bau physikalischer Apparate, den Herr Sorge bei Dietz lobend er-

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wähnte, sei nur Spaß an seinem Spezialgebiet. Bei anderer, ihm nicht liegender Arbeit habe Dietz bisher wenig Willigkeit gezeigt. Er sei ja nicht so radikal wie Gerhard Metz, der wiederholte Beschäftigung mit einem ihm nicht liegenden Gebiete forderte, aber guter Willen sei auch bei einer unangenehmen Arbeit zu fordern, und diesen habe man bei Erich Dietz immer vermißt. Dieser Wille aber sei die Hauptsache in Scharfenberg und derjenige sei der bessere Scharfenberger, der mit viel gutem Willen wenig erreicht, als der, welcher ohne stetes Streben in seinem Lieblingsfach etwas Brauchbares schafft. Pewesin habe Herrn Sorge nicht aus Verachtung nicht antworten können, sondern weil ihm die Worte: Vergehen, Gesetz und Übertretung, auf Scharfenberg angewandt, neu und ungewiß erschienen. Herrn Sorges Forderung, Gesetze schriftlich festzulegen, scheine ihm ein Rückschritt, da die persönliche Entscheidung, und das Gefühl des Einzelnen bei einer Handlung dann wegfielen. Er erinnert an das Schillerwort: "Es kommt nicht darauf an, was der Mensch tut, sondern was er ist." Schließlich gibt Herr Blume seinen Unwillen über die ewigen theoretischen Unterredungen Ausdruck, die er als für die Kleinen schädlich, für die anderen alt, bezeichnet. Um dennoch Herrn Ziegelmayer, mit seinem Notschrei nach dem Mittelweg entgegen zu kommen, schlägt er eine unbeeinflußte Abstimmung vor über folgendes: 1. Hält man das, was wir Alten wollen für richtig, oder 2. das, was Herr Sorge erstrebt. Wer für das erste stimmt, ist damit einverstanden, daß ein dringender Appell an die betreffenden Elemente gerichtet wird, Scharfenberg Ostern zu verlassen. Da die Eltern von Dietz diesen aufforderten, länger zu bleiben, habe er einen Brief an sie geschrieben, mit dem klaren Sachverhalt und mit der Frage um den Grund des Zuhausebleibens von Dietz. Als dieser wird vom Vater geselliges Zusammensein mit Verwandten angegeben. Franke bittet nochmals um Klarstellung seiner vorherigen anregung in diesem Falle. Herr Blume sagt, daß einer der 6 Novemberpunkte sei: "Enges Zusammengehen mit der Familie." Gerade die Eltern seien Scharfenberg meist am nächsten gestanden, deren Söhne die besten Scharfenberger waren. Auch sei tiefes Familiengefühl mit gutem Scharfenbergertum meist zusammengegangen. Franke meint, man solle die Nachhausefahrenden nicht Scheel ansehen; er selber der keine Familie mehr habe, sei aufs innigste mit seinen Berufsgenossen verwachsen. Herr Ziegelmayer stimmt dem zu und bittet um Abschluß der Unterredung. Blume will die Entscheidung beim antragsteller wissen. Herr Sorge behauptet, daß man trotz des Briefes der Eltern kein Urteil über die Gewichtigkeit des Grundes habe, auch könne man die Vergehen Dietzens unmöglich summieren. Herr Blume erwidert hierauf, daß man diese bei allgemeinen guten Willen nie summiert habe. Ale Beispiel hierfür führt er Rudi Grieger an. Herr Sorge fordert nochmals Dietz auf, sich zu äußern; aber wiederum vergebens. Blume fordert geheime Abstimmung und formuliert seinen Antrag folgendermaßen: Wer ist aus innerster

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Überzeugung über das Montagsverhalten von Erich Dietz entrüstet. Die Abstimmung ergab folgendes: Von 43 Stimmberechtigten waren 33 für ja, 7 für nein und 3 Enthaltungen. Pewesin ändert seinen Antrag, um nicht zu grausam zu sein, daraufhin ab, daß Dietz Ostern die Insel verlassen soll, wobei er betont, daß seine Gründe diesselben bleiben. Herr Sorge weist nochmals auf die Bedeutung dieser Abstimmung hin.

2/3 Mehrheit von 42 ist 28.

Ergebnis der Abstimmung: Für den Antrag 25 Stimmen, dagegen 13 Stimmen, Enthaltungen 4 Stimmen.

Der Antrag Pewesin ist abgelehnt.

Oeser schließt die Abendaussprache.



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