Protokoll der 58. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 205-207

[Datum: , 29.06.1925 - Protokollant: Gerhard Metz]


Wie die Versammlung überhaupt mehr den Charakter beratender Zusammenkunft trug, mehr aus Leben und Notwendigkeit heraus zustande gekommen schien, als andere Abendaussprachen durch langes Hinhalten der Punkte "bis es sich lohnt" es leider nicht immer sind, fiel diesmal neben dem musikalischen Vor- und Nachspiel auch jegliche andere Einleitung weg, und man ging ohne weiteres zur Sache selbst über.

Arnold Fritz will die Abstimmung über die Neuhinzugekommenen am Schluß des Probevierteljahres ernster genommen wissen, als es durch das bloße, oft zu leichtfertige Hinsetzen des + oder - allzu schnell schon geschehen sein mag. Er schlägt vor, um eine tiefere Aussprache oder zum mindesten ein tieferes Durchdenken eines so folgenschweren Urteils herbeizuführen, den Modus, wie er bisher war, umzustoßen und ihn dahin zu ändern, daß ein Jeder vor dem Ausschuß bzw. einer zu dem Zwecke gewählten Versammlung von Mehreren, seine Gründe für ein Plus oder Minus klarlege, ohne in der Selbstständigkeit seines Urteils durch ein Überredenwollen und Hinlenken auf bestimmte Motivierungen in irgendwelcher Weise beeinträchtigt zu werden; denn es ist unser Prinzip, die Initiative des Urteils in allen Dingen zu fördern und nicht zu ersticken.

Der Vorsitzende weist darauf hin, daß man im Ausschuß schon seit langem sich mit ähnlichen Überlegungen getragen habe und hält es zur besseren Übersicht über die verschiedenen Änderungsmöglichkeiten für gut, neben dem A. Fritz'schen Vorschlag auch das Resultat der Ausschußberatungen zur Sprache zu bringen.

Der Ausschuß befindet sich fast auf demselben Wege wie A. Fritz, nur will er die Form, die seiner Ansicht nach einer ausgesprochenen Feierlichkeit bedarf, um auf nüchterne Gemüter zu wirken, in den Rahmen einer Abendaussprache, d.h. der Versammlung Aller gestellt sehen.

Man wendet ein, daß dieser Modus im Gegensatz stehe zu den Gründen, aus welchen heraus man das Probevierteljahr erst einführte; glaubte man doch damals diese Einrichtung in der Hauptsache gegen Solche treffen zu müssen, denen auf rechtlichem Wege, dem Wege des Verstandes nicht beizukommen wäre, die durch allzu geringe spezifische Schwere, durch mindere Modulationsfähigkeit oder durch fremdes Gegenüberstehen dem Stile, den wir hatten und den wir jetzt pflegen, dennoch nicht in den Kreis unserer Gemeinschaft paßten.

Die Antragsteller entkräfteten den Einwand damit, daß sie auf die durch pädagogische Umschau gewonnene Perspektive hinweisen, die uns jetzt nach 1 1/2 Jahren das Wesen unserer Schule viel klarer erkennen läßt, als es damals der Fall war. "Waschlappen müßten die sein, die noch heut' ihre gefühlsmäßigen Gründe vor dem Verstande nicht rechtfertigen könnten." Es wird gefragt, wann in diesem Falle man sich mit dem Ausschuß zum Zwecke ruhiger Überlegung treffen könne, da doch nur 3 Tage bis zur endgültigen Abstimmung seien, und mit dieser Frage ist die Beratung plötzlich auf eine ganz andere Basis geschoben. Der Gedanke

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auf den der Ausschuß in seinem Antrag den eigentlichen Wert gelegt hatte: die feierliche Aufmachung einer gemeinsamen Aussprache wird durch Mißverständnis vertauscht mit dem Gedanken, daß jeder Einzelne einzeln sich ein Ausschußmitglied suche, dem er seine Zurechtlegung am ehesten mitteilen möchte. Dem Ausschuß fällt hiermit die Rolle zu, die in seinen ursprünglichen Rechten durchaus nicht einbegriffen ist. Es wird vorgeschlagen, die Zeit der Gemeinschaftsarbeit für solche "Einzelgänge" zu wählen, indem der Ausschuß sich Einen nach dem Anderen zu diesem Zwecke von der Arbeit wegholt; doch wird vom Landwirt der Gegenantrag gestellt, diese 4 Stunden, die einer letzten Bearbeitung des Landes vor den Ferien unbedingt gewidmet bleiben müßten, gänzlich aus dem Spiele zu lassen, und nur außer dieser Zeit mit dem Ausschuß zu verhandeln.

Entschieden erklärt sich Glasenapp gegen eine öffentliche feierliche Aussprache, da er glaubt, daß man mit diesem Modus am wenigsten erreichen werde, weil nichtausdrucksgewandte Gemeinschaftsmitglieder - eingeschüchtert durch die große Zahl der Versammelten - anstatt sich durch ihre täppische Art oder den nicht sehr überzeugenden Ton ihres Vortrages zu beschämen, es vorziehen werden, für einfaches Ja zu stimmen, dessen Begründung sich in praxi doch nur auf wenige Phrasen beschränken würde. Da diese Gründe der Mehrheit einzuleuchten scheinen, und da die Antragsteller keine Anstalten machen, die Gegengründe, die in ihrer Formulierung durchaus nicht so klar zum Ausdruck kamen, wie es aus dem nachträglichen Protokoll scheinen mag, durch schärferes Umreißen zu verteidigen, wird die Neuerung in dieser sowohl vom ersten wie vom zweiten beantragten Modus stark abgewichenen Form mit großer Majorität angenommen; allerdings mit einer weiteren Einschränkung: daß jeder, der in freier Rede keinem der Ausschußmitglieder Rechenschaft ablegen möchte, eine schriftliche Formulierung einreichen darf.

Den zweiten Punkt der Beratung bildet der Antrag Bruno Opalkas, Heinz Link und Hans Samter das Stimmrecht zu entziehen - und zwar für so lange Zeit, als es ein anderes Gemeinschaftsmitglied für gut befindet, durch neuen Beschluß den alten Zustand wiederherzustellen. Als Begründung für diese außerordentliche noch nie vorgekommene Härte bezeichnet Bruno Opalka die unfaire Handlungsweise beider Jungen, unter dem Namen suchender Abnehmer oder interessierter Vertreter in diesen Artikeln sich von fremden Firmen Odol-, Parfüm-, Nervosen-, Zeitschriften etc. etc. x-proben unverbindlich zuschicken zu lassen, um sich dann in eitlem Pennälerstolz mit der eingeheimsten Ware und der "fabelhaften Intelligenz", die nötig war, sie zu erlangen, zu brüsten. Indem hätte Bruno Opalka auch dann noch nicht den Antrag gestellt, wenn Link und Samter nicht bereits öffentlich gewarnt

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worden wären. Da aber Heinz Link und einige Vertreter sich damit "aus der Klemme ziehen wollen, daß aus den Zeitschriften in den Abbildungen gotischer Dome und anderer Kunstdenkmäler sich doch anschauliches Unterrichtsmaterial gewinnen ließe, daß den Firmen durch ihr Vergnügen ein so großer Schade[n] doch unmöglich zugefügt sein könne, und daß endlich Scharfenberg an dem schlechten Ruf, die ihm durch die Übergabe von Parfümpaketen aus den Händen eines darüber höchst erstaunten Postboten erwüchse, wohl kaum untergehen werde - wird ihnen entgegnet, daß man auf gestohlene Unterrichtsmittel gern verzichte, daß nicht der den Firmen beigebrachte Schaden, sondern das Taktlose des Benehmens fremden Menschen gegenüber das Verwerfliche sei, und daß drittens und letztens nicht unser Ruf nach außen, sondern das Ansehen, das wir vor uns selbst bewahren, ein in Betracht zu ziehender Faktor bliebe. Die Einwände, die trotz dieser von Allen bestätigten Kritik gegen den Antrag erhoben wurden, wurzeln zum größten Teil in der Ansicht, daß die Gemeinschaft mit der Stimmrechtentziehung um solcher Gründe willen sich eines Mittels beraube, das bei weniger kleinlichen Fällen besser zu verwenden wäre. Egon Rehse geht so weit, daß er vorschlägt, es mit einer einfachen Nichtbeachtung bewenden zu lassen, die am ehesten die "Eitelkeit dummer Jungen" breche. Jedoch wirft man ein, daß Gemeinschaftsmitglieder - taub selbst gegen Mahnungen und Ironie - auf Mittel wie das vorgeschlagene garnicht reagieren werden - daß andererseits dies aber auch für Andere ein schärferer Hinweis sei, wieweit Privatvergnügen und Gemeinschaftsgesinnung einander berühren dürfen, ohne einander zu schneiden; und um wievieles mehr man zweifelhafte Handlungen dem Urteile des Gemütes und auch des Umstandes unterwerfen muß, um den richtigen Schluß zu ziehen. Dieser Glaube aber, daß auch Leichtfertigkeit und Unüberlegtheit wesentlich im Spiele waren, mildert dann auch den etwas harten Spruch, so, daß Link und Samter nur für die nächste Abendaussprache, die zu viel Wichtiges bringt, ohne Stimmrecht bleiben.

Gerhard Metz.



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