Protokoll der 50. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. V, S. 47-50 und S. 46: Vorbemerkungen [S. hier Anhang 1] und S. 50f.: Weiteres zur Abendaussprache [S. hier Anhang 2]

[Datum: , ...09.1924 - Protokollant: Hellmut Jaesrich]


Anwesend sind sämtliche Mitglieder der Gemeinschaft bis auf diejenigen 2, die zuvor vor dem Ausschuß ihr Fortbleiben begründet hatten; weiter 3 Mitglieder des Wirtschaftsausschusses; ferner Helm Richter, Gawronski, Gerhard Grüß, Gorke als bei der Gründung Beteiligte. Auch Glasenapps Mutter aus Minden ist als Gast erschienen [Anm. 1].

Die 50. Abendaussprache wird eingeleitet durch den Marsch der Priester und die Arie des Sarastro aus der Zauberflöte (von Ulm gesungen). Zu Beginn weist Blume darauf hin, daß der Ausschuß im Bewußtsein der Bedeutung der Abendaussprache als Palladium der Gemeinschaft für das festliche Gepränge des Abends Sorge getragen hätte, und geht dann zum ersten Punkt der Tagesordnung über, der Frage, ob, und in welcher Weise die Scharfenbergschule sich ihrem Gönner im Berliner Magistrat, Herrn Oberstadtschulrat Paulsen nach dessen Ausscheiden für die in materieller ebenso wie in ideeler Beziehung geleistete Unterstützung erkenntlich zeigen solle. Es wird einstimmig beschlossen, dies zu tun und dabei von der trivialen Form einer Dankadresse Abstand zu nehmen; es wird vorgeschlagen unter möglichst zahlreicher Mitwirkung ein Bilderbuch zusammenzustellen und an Herrn Paulsen zu senden, das in möglichst verschiedenartiger Darstellung das Thema: "Paulsen und die Scharfenbergschule" behandeln soll. Es melden sich zur Mitarbeit: A. Fritz, K. Berisch, Metz, Pewesin, Opalka, Frey, Heyn, Link, Dietz, Grieger, Oeser u.a. Die Arbeit soll so bald als möglich in Angriff genommen werden.

Beim nächsten Punkt meldet sich zunächst der Antragsteller Fritz zum Wort. Er konstatiert, daß uns nicht nur der für die Abiturientenprüfung eigentlich erforderliche Turnunterricht, sondern auch jegliche Möglichkeit zu turnerischer Betätigung fehle, die der Antragsteller durch Dauerlauf, Freiübungen, Spielnachmittag, sowie das uns von Stadtschulrat Paulsen so warm empfohlene "Auf-die-Bäume-klettern" nicht für genügend ersetzt halte. Er halte es deshalb für

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durchaus begründet, die Anschaffung eines Barrens und vielleicht noch eines Recks zu beantragen. Diese Geräte würden, da sie ja stets zur freien Verfügung ständen, sicher in starkem Maße von allen benutzt werden, die das Bedürfnis fühlen, sich nach längerer geistiger Arbeit einmal körperlich auszutoben und an deren Vorhandensein der Antragsteller keineswegs zweifelt. Zuerst wurde gerade dieser letzte Punkt stark in Frage gestellt. Der bisher vorhandene Barren sei so wenig benutzt, stets dem Regen ausgesetzt und überhaupt so unsanft behandelt worden, daß er eines Tages zusammengebrochen sei. Von einem Willen zum Sport sei wohl kaum zu reden, wenn man bedenke, daß im vorigen Jahre das Sportfest ausgefallen sei und in diesem Jahre die Vorbereitungen dazu - wenn man überhaupt von Vorbereitungen reden will - gerade 4 Tage vor dem Termin begonnen hätten. Heyn hält die Anschaffung eines Barrens oder Recks für sehr wünschenswert, da man den Mangel an turnerischer Betätigung doch recht stark empfinde. Auf den Einwand des zu großen Kostenaufwands erwidert er, daß ein Reck leicht selbst zu errichten sei, wenn erst einmal eine Eisenstange vorhanden, die Astheimer zu stiften verspricht. W. Schramm führt aus, daß für uns als Schulfarm als Gegengewicht für die geistige Arbeit in erster linie die Landwirtschaft in Betracht komme und auch in zweiter Linie nicht das ausgeklügelte System des Turnens, sondern viel eher die Leichtathletik, die doch mit der Landwirtschaft das gemeinsam hat, daß sie ebenso wie diese im natürlich gegebenen ihren Ausgangspunkt nehme. Außerdem seien die für die Leichtathletik notwendigen Geräte - soweit solche überhaupt erforderlich - vorhanden oder könnten doch leicht mit der nächsten verfügbaren Geldsumme beschafft werden. Blume weist noch darauf hin, daß durch die Einführung von Turnunterricht oder ähnlichem nur eine noch stärkere Belastung des Nachmittags und Zersplitterung der Kräfte eintreten würde. Bei der darauf folgenden Abstimmung erhält der Antrag Schramm 25, der Antrag Fritz 8, ein Kombinations-

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vorschlag 7 Stimmen. Daraufhin wird beschlossen das nächste verfügbare Geld auf die Ergänzung der leichtathletischen Geräte zu verwenden.

Der folgende Punkt ist die Anfrage eines Mitgliedes der Gemeinschaft über deren Stellung zur Frage der Toleranz. Der Betreffende setzte auseinander, daß er unter denen, die sich nicht enthalten könnten, ihm gegenüber den Religionsunterschied zu betonen, drei Gruppen zu unterscheiden vermöge: solche, die mit ihren Anspielungen nur scherzen wollten, solche, die es aus dem Gefühl eines politischen Gegensatzes täten und endlich solche, die nur aus der Lust, jemanden anzupöbeln handelten. W. Schramm und andere bestätigen, daß Scenen die sie bei der letzten Gemeinschaftsarbeit bemerkt sie durchaus unangenehm berührt hätten und daß sie die Forderung, hier Abhilfe zu schaffen für durchaus berechtigt halten. Oeser sagt daß es sich bei solchen Gelegenheiten oft mehr um die Gegensätze der Menschen an sich handele, und daß es leicht möglich sei, daß im Streit Worte fallen, die sich auf Religion oder politische Anschauung beziehen. - Jedenfalls wird nachdrücklich auf Punkt 5 der Aufnahmebedingungen, unbedingte Toleranz in jeder Hinsicht, hingewiesen. -

Die Ferienfrage dreht sich in diesem Jahr nicht ausschließlich um die Kartoffelernte sondern auch um eine etwaige Verlegung der Ferien zugunsten einer Studienfahrt die der Ausschuß und das Lehrerkollegium zu unternehmen gedenken, um [mit] unserer Schule ähnliche Anstalten in Nord- und Mitteldeutschland zu besuchen. Diese Reise soll dazu dienen uns über die dortigen pädgogischen und verwaltungstechnischen Einrichtungen zu informieren und kann natürlich nur während der Schulzeit der andern stattfinden. Nach den bisher eingelaufenen Antworten der betr. Anstalten wird die Zeit vom 27.IX. bis 7.X., die behördlich festgesetzte Ferienzeit wohl auch für unsere Zwecke die günstigste sein. Herr Glasenapp sagt daraufhin, daß sich die Kartoffelernte, - wenn es denn sein müsse - ohne Schwierigkeiten bis auf das 2. Drittel des Oktobers verschieben lasse.

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Punkt 5: Die landwirtschaftliche Mitarbeit der sogenannten Abiturienten soll nach Blumes Vorschlag so geregelt werden, daß diese an der Gemeinschaftsarbeit am Mittwoch teilnehmen dafür aber vom Bereitschaftsdienst im letzten Semester vorm Abiturium befreit sind. Der Antrag wird von den Interessenten 4:1 angenommen.

Anfragen und Anregungen: Es wird an die im April einstimmig beschlossenen Elternnachmittage erinnert, auch nach dem Erntefest wird gefragt. Der Ausschuß erwidert in beiden Fällen, daß er auf Anregungen aus der Gemeinschaft gewartet habe; da ja anscheinend kein Interesse dafür vorhanden sei müsse das Erntefest in diesem Jahr wohl ausfallen. Der Vorschlag von A. Fritz, die für den nächsten Sonntag einberufene Schulgemeinde noch jetzt zu einem "Erntefestchen" auszugestalten, wurde abgelehnt, weil das nach dem Fest des vorigen Jahres wohl zu deprimierend wirken würde. - Es wird dringend um größere Sorgfalt bei Ausüben des Fährdienstes gebeten und einstimmig beschlossen, aus der Fährkasse eine "sturmsichere" Lampe für den Fährkahn zu beschaffen.

H. Jaesrich.



Anhang 1: Vorspann zum Protokoll von Wilhelm Blume (S. 46)

Der Ausschuß will vorschlagen, die 50. Abendaussprache in festlichem Rahmen zu begehen; er hat dafür den nächsten Sonnabend in Aussicht genommen, weil dann die Vorbereitungen besser erledigt werden können und zu längerem gemütlichen Verweilen mehr Zeit ist. Beim Mittagessen trägt W. Schramm den Plan vor und findet Widerspruch; manche haben sich schon etwas vorgenommen in Berlin; das hätte schon in der Woche vorher gesagt werden müssen; nicht erst am Dienstag. Eine ganz knappe Majorität nur nimmt den Ausschußantrag an. Es werden Stimmen laut, bei einer so starken Minorität könne man kein Fest feiern; Herr Bandmann vertritt diese Ansicht. W. Schramm berichtet mir am späten Abend, als ich von Berlin heimkomme, von diesen Vorkommnissen. Ich berufe sofort noch den Ausschuß zusammen. Gott sei Dank beschließt dieser, es beim Sonnabend zu belassen trotz der starken Opposition. Er ist mit mir der Ansicht: es kann nichts Wichtigeres geben als solch eine Gemeinschaftsfeier; wer die 1. Abendaussprache mitgemacht, hat nicht geglaubt, daß wir je eine 50. in Scharfenberg erleben würden! Über 20 können nicht so etwas Unaufschiebbares in Berlin zu tun haben! Wo steht das verbrieft, daß jeder Sonntag Berlin gehört ?! - Fritz Geister und Willi Grundschöttel, Mitbegründer von 1921 (!!), entschuldigen ihr Fernbleiben vor dem Ausschuß; alle anderen bleiben am Sonnabend hier.


Anhang 2: Beschreibung der 50. Abendaussprache von Wilhelm Blume

Unser Saal hat noch nie so festlich ausgesehen. Die Flügeltür zum bunten Zimmer war geöffnet, damit auch dieses mitbenutzt werden konnte. Alle Tische waren mit Läufern und Lichtern geschmückt. Die Tassen standen auf selbstgemalten Serviettchen; aus Holz und Seidenpapier waren Tafelaufsätze gefertigt, an denen eine 50 prangte. Auf dem großen runden Tisch stand eine Torte, für die hier plazierten Sieger im Stafettenlauf gestiftet, der den Tag an Stelle des üblichen Dauerlaufs eingeleitet hatte. Für alle wurden Pfannkuchen aufgetragen; Konfektteller kreisten. Silhouetten, von Arnold Fritz' Schere geschnitten, sollten die Erinnerung an die Verhandlungen der 50. festhalten. W. Schramm hielt die Festrede, Fritz Blümel dankte im Namen der Tortenschlecker in launigem speach, gemeinsame Lieder stiegen, man musizierte,

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zwanglos schloß sich Nummer an Nummer, ohne ins Platte zu verfallen [...]. [Es] gedachte Blume den beiden innerlichsten und vornehmsten Freunden unserer Gemeinschaft - Bob Wormser, von dem ein Brief verlesen wurde, und Elisabeth Rottens! Und so schloß sich der Kreis, zum 1. Punkt der offiziellen Tagesordnung zurücklaufend. Blume sollte endlich auch einmal etwas von der Theaterfahrt erzählen; aber er konnte es nicht wegen der schmerzlichen Enttäuschungen, die er dabei erlebt. Und so war's besser so.

Einer, der sonst keinen Sonnabend in Scharfenberg bleibt, äußerte ganz spontan: "Das war wirklich ein feiner Abend. Das müssen wir jetzt zugeben."

Frau Glasenapp, die zum ersten Mal uns kennen lernte, hat einen viel zu guten Eindruck von uns mitgenommen.

Der Ausschuß freute sich seiner Entschlossenheit; hätte er den Miesmachern nachgegeben, hätte seine Richtung endgültig kapitulieren müssen. Jetzt war die Bahn frei! Und er beschloß, für den kommenden Sonntag eine Schulgemeinde anzusetzen. Wieviel wohl nun in Berlin unabkömmlich sind? "Das ist eine Kraftprobe!" - "Soll es auch sein!" Es erfolgt kein Widerspruch gegen den Schulgemeindevorschlag.

Der Ausschuß marschiert!


Anmerkungen::

Anm. 1:
Von "als bei der Gründung Beteiligte" bis "als Gast erschienen" von Blume eingefügter Zusatz.



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