Protokoll der 31. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. III, S. 6-9

[Datum: Mi, 16.05.1923 - Protokollant: Peter Grotjahn]


Diese Abendaussprache war eigentlich nur die Fortsetzung der vorigen. Stand vorigesmal auf der Tagesordnung der Punkt: Wer hat über den Ausschluß eines Mitglieds aus der Gemeinschaft zu beschließen?, so diesmal: Auf welche Weise soll über den Ausschluß beraten werden?

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Um 3/4 8 Uhr leitete Herr Bandmann die Abendaussprache mit dem Op. 7. 1. Satz der Griegschen Sonate, am Flügel, ein. - Als Erstes brachte Blume noch einige Bekanntmachungen vor, die Mißstände betreffend, die ihm bei Revision des Hauses aufgefallen waren. Blume bat dringend, doch das Schuleigentum mehr zu schonen und nicht mit Stiefeln auf die Bänke im Saal zu steigen, von denen bei einer auch die Lehne fast abgebrochen ist. - Die Spielgeräte sollten doch nicht so häufig entliehen werden, wenn keine Spielzeit ist, da dann leicht etwas abhanden kommen könnte. Ebenfalls wäre es sehr erwünscht, wenn mit den Geräten in der Werkstatt besser verfahren würde und namentlich keine neuen Küchenmesser zu Arbeiten in der Werkstatt verwendet würden. Auch wäre es wünschenswert, wenn die Papierkörbe mehr benutzt würden und das Papier nicht auf den Stubenboden geworfen wird. Zum Schluß noch, zum Besten der Neuen, eine Aufklärung über das Wesen der Gemeinschaftsarbeit: der Zweck der Gemeinschaftsarbeit ist, die Gemeinschaft zu unterstützen und an Scharfenbergs Aufbau und Weiterentwicklung mitzuarbeiten und darf deshalb nicht als Zwangsarbeit aufgefaßt werden. Jeder soll etwas für die Gemeinschaft zu tun lernen und dann soll auch die Gemeinschaftsarbeit als körperliches Kräftigungsmittel angesehen werden, da bei uns der Turnunterricht fortfällt. - Dann gehen wir zum Hauptpunkt der Tagesordnung über: Wie soll die Antragstellung und die Beratung über den Ausschluß der Gemeinschaft erfolgen? Blume bittet die alten Scharfenberger, sich über die Frage zu äußern, ob die in Scharfenberg Neuaufgenommenen mit an der Debatte teilnehmen dürfen oder nicht. Die Mehrheit entschließt sich für das Mitredenlassen der Neuen.

Dann meldet sich Frey als erster zum Wort; er hält es für das Richtige, daß jeder den Antrag auf Ausschluß stellen kann. Heinrichsdorff ist dafür, daß der schriftliche Antrag unterschrieben werden muß, damit von einzelnen kein Mißbrauch getrieben wird und jemand aus rein persönlichen Gründen einen diesbezüglichen Antrag stellt. Gawronski dagegen hält es für möglich, daß es durch diese öffentliche oder geheime Agitation zu unangenehmen Zwischenfällen kommen könnte. Geister hält es für richtig, erst in einer offenen Aussprache den Fall zu erörtern und dann erst den Antrag für die nächste Versammlung zu stellen. Kraemer: Da wir nun einmal auf dem Boden der Demokratie stehen, müssen wir auch die Konsequenzen ziehen und ohne Einschränkung den Antrag stellen." Netzband: Der Antrag ist mit genauer Begründung dem Ausschuß und Leiter vorzulegen. Hier wird dann beraten, ob die Gründe schwerwiegend genug sind, um in einer Abendaussprache erörtert zu werden." Wernecke ist der Meinung, daß, wenn es nicht gleich vor die Abendaussprache kommt, soviel Gerede darüber entstehen könnte. Blume: Wenn jemand Interesse daran hat, nichts verlauten zu lassen, so kann er das gut durch einen direkt an den Ausschuß gerichteten Antrag tun, der erst in der Abendaussprache vor die Gesamtheit kommt. Außerdem darf aber eine solche Abendaussprache nicht häufiger kommen als unbedingt notwendig ist." Berisch stellt den Antrag auf Abstimmen. Netzband: "Wenn mehrere den Antrag stellen müssen, kann es vorkommen, daß einer eine solche suggestive Kraft besitzt, daß die anderen, ohne einen besonderen Grund zu haben, den Antrag mit unterschreiben!" Blume: Dieses vorherige Unterschriftensammeln könnte auch zu leicht zur Spaltung der Gemeinschaft führen." Geister: "Wenn vorher eine Prüfung des Antrags durch Ausschuß und Leiter stattfindet, könnte das auch als 1. Lesung gelten. Blume kann es sich nicht vorstellen, daß eine solch wichtige Antragsmöglichkeit mißbraucht wird. Blume: "Wenn der Ausschluß aber erst einmal abgelehnt wird, ist das Unglück schon geschehen." Bandmann ist der Meinung: "Das beste Sieb ist, wenn wir keins haben. Denn, wenn der Antragsteller weiß, daß der Antrag erst vor einen Prüfungsausschuß kommt, hat er die Gewähr, daß der Antrag gegebenenfalls garnicht erst vor die Abendaussprache kommt und sich einen unbegründeten Antrag öfter leisten kann, als wenn er gezwungen ist, seine Gründe öffentlich vorzubringen." - Da keine weiteren Wortmeldungen vorliegen. kommt es zur Abstimmung über den Punkt: Soll ein Antrag, der auf Ausschluß eines Mitglieds aus der Gemeinschaft ausgeht wie jeder andere Antrag gestellt werden oder soll ein Sieb eingeführt werden, damit allzu häufige Besprechungen solcher Anträge dieser Art vermieden werden.

Die Abstimmung ergibt:2:9, sodaß hiermit angenommen wurde, den Antrag ohne Sieb wie jeden anderen zur Verhandlung zu bringen , doch muß dieser Antrag schriftlich begründet sein. Mit 13:6 Stimmen wird angenommen. daß der Ausschluß nur mit 2/3 Mehrheit erfolgen kann.

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Ob der Betreffende, der eventuell ausgeschlossen wird, ausgeschlossen wird, der Verhandlung beiwohnen will, soll ihm anheimgestellt bleiben.

Beim nächsten Punkt der Tagesordnung berichtete Blume, daß zu Beginn der letzten Abendaussprache von Berisch die Frage aufgeworfen wurde, wie es sich mit dem Stimmrecht der Neueingetretenen verhalten sollte. Blume bittet Berisch, sich zu diesem Punkt zu äußern. Berisch: "Die Neuen brauchen eine gewisse Probezeit, um sich einzuleben und mitstimmen zu dürfen. In Wickersdorf belief sich diese Zeit auf 1/2 Jahr." Frey ist dafür, daß die Neuen nach ca. 4 Wochen mitbestimmen dürfen. Schramm hält es für unwichtig, über diese Frage ein bestimmtes Gesetz zu formulieren: "Wichtige Punkte sind mit den Alten, unwichtige auch mit den Neuen zu entscheiden." Blume: "Da ist nun wieder die Frage, wer zwischen wichtigem und unwichtigem Stoff entscheidet." Bandmann: "Es ist nicht angebracht, eine Trennung zwischen dem Stoff zu machen, da daß den Anschein haben könnte, als sähe man die Neuen noch nicht für voll an. 3-4 Abendaussprachen muß jeder mitgemacht haben, um bestimmen zu können." Kraemer: "Über Ausschluß kann kein Neuer mitbestimmen." Steinauer: "Bei prinzipiellen Fragen könnten die Neuen ruhig mitbestimmen." Netzband: "Ein Neuer wird nicht zum mitbestimmen reif, wenn er soundsoviel Abendaussprachen mitgemacht hat, sondern, wenn er einige Zeit mit uns gelebt hat." Bandmann: "Selbst noch ein Neuer, kann ich wohl sagen, daß ich über Scharfenberg viel mehr erfahren habe in den 2 Abendaussprachen, als ich es sonst getan hätte." Berisch schlägt vor, die Neuen bis zu den großen Ferien nicht mitbestimmen zu lassen. Dieser Vorschlag wird verworfen, weil er nichts Prinzipielles enthält. Glasenapp beantragt, die Probezeit auf 1/4 Jahr festzulegen. Blume: "Wir wollen unsere Grundsätze weitgehendsten Vertrauens beibehalten und den Neuen nach kurzer Zeit ihres Hierseins die vollen Rechte unserer Gemeinschaft angedeihen lassen. Blume erwähnt noch, daß es ihm aber stutzig gemacht hätte, als ein Neuer zu ihm trat mit der Frage, ob er an der Abendaussprache teilnehmen müsse. Vorigesmal sei er fast eingeschlafen. - Bandmann: "Es ist verfehlt, das Mitbestimmen der Neuen von der Zeit ihres Hierseins abhängig zu machen, sondern sie müssen einer bestimmten Anzahl von Abendaussprachen beigewohnt haben und sich während dieser Abendaussprachen klarzumachen versuchen: Wie würde ich jetzt stimmen? Dagegen sollen sie nicht erst nach einer langen Frist Stimmrecht erhalten. Denn das Interesse würde erlahmen, wenn die Neuen wüßten, daß sie keinerlei [Einfluß] auf die Entscheidung haben. In einzelnen, schwerwiegenden Fällen, die soweit zurückliegen, daß die Neuen kein Urteil darüber haben können, würde es wohl genügen, wenn der Leiter darauf hinweist, daß sie in diesem Falle nicht mitstimmen können. Meiner Meinung nach genügt es, wenn der Neue nach der 3. Abendaussprache volles Stimmrecht hat." Schramm: "Das häufige Beiwohnen ohne Stimmrecht führt zu einer Interesselosigkeit." Blume erzählt, daß er im Humboldtgymnasium sehr gute Erfahrungen gemacht hat, als er schon die Obertertianer in der Schulgemeinde abstimmen ließ, die schon sehr wirksam gegen die Primaner aufzutreten vermochten, sodaß die Schulgemeinde vor dem Abstieg um Tanzkränzchen gerettet wurde. - Daraufhin hält ihm Kraemer entgegen, daß im Grauen Kloster durch das Stimmen der Unter-Sekundaner für die Schulgemeinde diese zum Jammerplatz wurde. Berisch: "Man kann sich auch für den Gang der Verhandlung interessieren, ohne mitzustimmen. Die Debatte allein ist schon interessant." Blume ist gegen die Einführung einer längeren Frist, da sonst zu befürchten ist, daß die Neuen von der Traditionsmaschine erfaßt werden und die neue Blutzufuhr unterbunden wird. M. Grotjahn: "durch das Abstimmen gibt man seine Mitarbeit zu erkennen. Man soll doch mehr handeln, nicht reden." Wernecke hält es für das Richtige, jeden gleich bei der 1. Abendaussprache stimmen zu lassen, wenn bis dahin 14 Tage [v]ergangen sind. -

Die nun folgende Abstimmung ergibt:
Antrag Bandmann (nach der 3. Abendaussprache) 10 Stimmen
Antrag Glasenapp ( " 1/4 Jahr) 5 Stimmen
Antrag Wernecke ( " 14 Tagen) 5 Stimmen
Antrag Frey ( " 4 Wochen) 3 Stimmen
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.23 Stimmen


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Hierauf erkundigt sich Bandmann, ob diese Verfügung auch bei neueintretenden Lehrern angewendet werden soll. In Wickersdorf hatten die Lehrer schon nach der 1. Abendaussprache volles Stimmrecht. Netzband ist dafür, daß für die Lehrer keine Ausnahme gemacht wird, was einstimmig angenommen wird. -

Zum Abschluß wird von Arnold Fritz (Klarinette) und Willy Grundschöttel (Flügel) eine Garotte favorite von Joh. Seb. Bach zum Vortrag gebracht.

Schluß der Abendaussprache gegen 9.15 Uhr.

P. Grotjahn.



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