Protokoll der 05. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. I, o.S.

[Datum: Mi, 14.06.1922 - Protokollant: Wilhelm Blume]


1.) Herr Blume verlas als stimmenden Auftakt den Brief der Quäker an die von ihnen belieferten Heime --- "auf daß mehr Liebe in der Welt sei."

2.) Herr Blume erstattete den Ferienbericht, aus dem hier hervorgehoben sei
a) daß die Verpflegungskosten bei geringer Einwohnerzahl sich erheblich erhöhten (57,50 M., 48,30 M., 26,75),
b) daß das Leben naturgemäß noch familiärer war, gar kein gereiztes Wort fiel,
c) daß die Chronik in den Ferien aufs Laufende ergänzt ist,
d) daß mit dem Fällen von Bäumen ein verheißungsvoller Anfang gemacht ist,
e) daß für 96 M. Calmes auf dem Tegeler Pfingstmarkt verkauft ist.

3.) Der Antrag Baader: Fährkasse und Calmeskasse zu einer Gesamtkasse zu vereinigen und ihren Inhalt zum Nutzen der Werkstätten zu verwenden - ward in seinem ersten Teile angenommen, die Verwendung der Mittel soll von Fall zu Fall in der Abendaussprache bewilligt werden. Im Lauf der Debatte ward allseitig der Begriff Werkstatt auch auf das naturwiss. Laboratorium, für das Herr Wahle und M. Grotjahn besonders eintraten, anzuwenden sei.

4.) Ein zweiter Antrag Baader, einen Werkzeugwart zu wählen, der den Handwerksschrank unter Verschluß hält, ward angenommen; mit geringer Majorität auch beschlossen, daß die Beile und Äxte von diesen eingeschlossen und nur an Personen gegeben werden sollen, die die Kunst des Holzhauens fachmäßig ausüben.

5.) Die notwendige Folge dieses Beschlusses, einen Werkzeugwart zu wählen, führte dazu, sämtliche Ämter, die bisher nur durch Zuruf oder Ernennung besetzt waren, offiziell zu bestellen. Und zwar ward als Amtszeit festgesetzt die Zeit bis zum 1. Oktober. Das Ergebnis der Stimmzettelwahl war folgendes:

Vorsitz: Blume (16 Stimmen) (Baader 4, Ulm 1, Wahle 1)
Schriftführer: Stichwahl zwischen Kraemer (7) und Stenger (8): Kraemer
Spielwart: Baader (13 Stimmen)
Landwirtschaftsminister: Ulm (16 Stimmen)
Postagent: Geister (21 Stimmen)
Kassenwart: Hoernecke (13 Stimmen)
Bademeister: Schmidt (13 Stimmen)
Medikus: Wernecke (19 Stimmen)
Läutenant: Frey
Werkzeugwart: Böhm (18 Stimmen)
Zeitungs- und Zeitschriftenwart: Stichwahl zwischen Woldt (6) und Gawronski (5): Woldt
Laboratoriumswart: Grotjahn (17 Stimmen)
Tuterich: Stichwahl zwischen Ulm (6) und Ewerth (3): Ewerth.


Es wird ergänzend festgestellt, daß der Läutenant für den Blumenschmuck der Tafel zu sorgen hat; den Serviettendienst übernimmt fortan der Saaldienst. Herr Blume macht den Vorschlag, einen Ausschuß von 5 Mitgliedern zu wählen, der ihm bei der Aufstellung der Tagesordnung helfen muß, damit sie ihren etwas diktatorischen Anstrich verliere. Ferner könne dieser Ausschuß unmerklich Reibungen verhindern, durch gütlichen Zuspruch beseitigen, bei etwaigen Budenunstimmigkeiten von selbst unauffällig vermitteln, sich noch mehr als jedes Mitglied der Gesamtheit sich verpflichtet fühlen, für den Aufbau einer anständigen Tradition Sorge zu tragen. Auf Ulms Einwand, es sei doch nicht die Aufgabe, hier eine Beamtenkategorie zu schaffen, entgegnete Herr Blume, das hieße den Vorschlag mißverstehen: Die Ausschußmitglieder sollen sich nicht als Aufsichtführende fühlen, sondern als Berater, als doppelt und dreifach Verantwortliche, haben keineswegs mehr Rechte, aber mehr Pflichten als die anderen. Deshalb sei es auch verkehrt, etwa ihren Amtskreis genau zu umzirken; sie werden bald hier, bald dort aus dem Einzelfall heraus einzugreifen haben, mehr noch verhütend, vorbeugend als verbietend, korrigierend; so wie Drude etwa wirkt und unmerklich den Ton hebt, die Auffassungen klärt in dem Gemeinschaftsschülerroman von G. Prellwitz [Anm. 1].

Man nahm darauf mit knapper Majorität an, einen solchen Ausschuß - zunächst bis Oktober - zu wählen; und zwar soll er auf Antrag des Herrn Wahle nicht aus 5 Mitgliedern (Vorsitzender der Abendaussprache, 1 Lehrer, 3 Schüler), sondern nur aus 3 Mitgliedern bestehen (1 Lehrer, 2 Schüler). Herr Blume betonte von sich aus, daß der Lehrer aber nicht mit dem Vorsitzenden der Abendaussprache identisch sein möge; es käme gerade darauf an, auch den Schein des Überwiegens einer Persönlichkeit in diesen Dingen zu verhindern.

Da die Auszählung der Stimmzettel für die Ämterwahlen noch nicht beendet war, einige Stimmen im Hintergund aber auf beschleunigtes Verfahren drangen, ergab die Ausschußwahl dann doch die Identität des Gesamtvorsitzenden mit dem Ausschußmitglied, indem 16 Stimmen auf Blume, 5 auf Dorn, 3 auf Wahle fielen.

Herr Blume lehnte die Wahl ab; Stichwahl ergab eine Majorität für Herrn Dorn. Für die beiden Schülersitze im Ausschuß kürte man Baader und Gawronski, diesen mit 10, jenen mit 14 Stimmen; außerdem erhielten Kraemer 6, Woldt 3, Geister 4, Ulm 2, Metz 2, Grotjahn 2, Böhm, Röhrborn und Dehne je eine Stimme.

Eine Anfrage, ob nicht noch jemand bestimmt werden müsse, der für Abendunterhaltungen, Vorträge etc. sorge, ward allgemein dahin beantwortet, daß das sich besser aus der Gesamtheit ergebe; Anregen, Ordnen sei mit eine Aufgabe des Ausschusses und des Vorsitzenden der Abendaussprache.

6.) Der Antrag Blume, im Sommer für den Saaldienst 2, für den Waschdienst 1 zu bestimmen, im täglichen Turnus des Dienst[es], weil der Saaldiener allein die Bänke und Stühle aus dem Saal auf den Eßplatz schwer befördern könne, ward mit der angegebenen Zeitbeschränkung angenommen. Fortan versieht der am "Dienstplan" in der zweiten Rubrik des Waschdienstes bezeichnete Kamerad statt dessen Saaldienst.

7.) Der 7. Punkt der Tagesordnung war überschrieben "Kirschenplage!" Beginnt doch mit der Zeit der Kirschenreife die Sorge, ob sich nicht neue Konflikte mit Familie Braun ergeben. Mit allem Ernst und in Erinnerung an einige Vorkommnisse des Vorjahres [...] bat und mahnte Herr Blume, alles zu unterlassen, was zum Streit mit Familie Braun führen könnte. "Kirschen pflücken von den von Herrn Braun gepachteten Bäumen ist Diebstahl und was noch schlimmer - ein Vergehen gegen die Gesamtheit; denn der geringste Anlaß, bei städtischen Behörden weiterverfolgt, kann die selbst bei ehemaligen Gegnern jetzt wachsende Sympathie nur verscherzen. Herrn Braun beim Kirschenpflücken zu helfen, wird am besten wohl dem Takt des einzelnen überlassen; gegen Bezahlung durch Geld für ihn zu pflücken, gehe dem Gefühl des Vorsitzenden wie hoffentlich auch dem der Gesamtheit wider den Strich; nur ein Vorkommnis des Vorjahres bringe ihn auf diesen eigentlich unvorstellbaren Gedanken. Point d'honneur!" -

8.) Unter Wünschen der Schüler äußerte Rolf Wernecke dringend, möglichst bald Hühner anzuschaffen; Herr Blume meinte, die Frage sei wichtig genug, beim nächsten Mal als besonderer Antrag behandelt zu werden.

Der Wunsch, gleich jetzt den Verteilungsmodus für die 17 Napoleonkarten des Schauspielhauses festzusetzen, ward erfüllt; Freys Vorschlag, zunächst die Mitglieder des ehemaligen Humboldtliteraturvereins zu bedenken, weil dessen Vergünstigung jetzt auf Scharfenberg übertragen sei [...], ward abgelehnt und dafür angenommen, zunächst die Oberstufler zu entsenden und den Zwischenstuflern ein Einigung über die Übriggebliebenen 5 Karten selbst zu überlassen.

9.) Als Bitten der Lehrer brachte Herr Dorn die Mahnung vor, beim Türschließen vorsichtiger zu verfahren, vor allem in der eigentlichen stillen Zeit vom 2 bis 4 Uhr; Herr Blume wiederholte die Bitte, die Inventarverzeichnisse der Zimmer abzugeben; H. Baader übernimmt es, sie zu sammeln und zu sichten; in möglichst zarter Form weist Herr Blume darauf hin, daß Scharfenberg in Gefahr sei, als Nationalmode das Verschwindenlassen der Hände in den Hosentaschen auszubilden; zumal bei Tisch werde man nach diesem Hinweis darauf achten und beide Hände draußen lassen, ohne deshalb sich unter Kniggescher Fuchtel zu fühlen. Ferner bat er, das Reinigen der Zimmer dadurch systematischer und somit auch gründlicher zu machen, daß man nach Geisterschem Rezept eine Tagesliste im Zimmer anbringe, aus der auf weitere Sicht hin deutlich zu ersehen ist, wer aufzufegen und wer zu wischen hat. Auf eine Entgegnung Werneckes bezeichnete er einen wochenweisen Wechsel darin als unpraktisch, als von vornherein nutzlos und empfahl dem Zweifelnden eine Probe aufs Exempel, die vielleicht gerade dem gelben Zimmer gut bekommen dürfte.

Anfang: 8.10 Uhr. Schluß: 10.10 Uhr.




Anmerkungen::

Anm. 1:
PRELLWITZ, Gertrud, Drude, 3 Bde., Oberhof 1920-1923.



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