Protokoll der 04. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. I, o.S.

[Datum: Fr, 19.05.1922 - Protokollant: Wilhelm Blume]


[...]. Alle Einzelwünsche ließen sich nicht erfüllen, da sie einander zu sehr durchkreuzten; trotzdem sprach sich in der Abendaussprache (der 4. ihrer Art) die überwältigende Majorität (2:20) für die von mir aufgestellte neue Liste aus, die folgendermaßen aussah: Hanns-Alfred Kraemer bleibt in seinem einfenstrigen Stübchen (7); in Zimmer 2, dem sogenannten Liederzimmer, tritt für Wolfgang Ewerth Heinz Böhm zu Arnold Fritz, Heinz Röhrborn, Hans Woldt und Gerhard Metz, während Wolfgang [Ewerth] nach oben zu Hans Baader und Ferdi Stenger in Zimmer 9 zieht, deren bisheriger 3. Mann Friedel Hoernecke sich im gegenüberliegenden (Nr. 12) mit Erich Ulm und Paul Heinrichsdorff vereinigt, sodaß wohl diese Bude ihren "Azteken"charakter nunmehr verlieren wird. Fritz Geister will sich unseres Sorgenkindes Walter Dehne besonders annehmen und wohnt deshalb mit ihm im blauen Staatzimmer (4) zusammen; dazu tritt aus dem Aztekenzimmer Walter Schramm zu ihm über. An Geisters Stelle geht Ludwig Schmidt ins gelbe Zimmer [...], von seinen neuen Kumpanen Rolf Wernecke und Willi Grundschöttel mit zugleicher Herzlichkeit bewillkommnet. Gawronski, Grotjahn und Frey zogen zum ersten Mal in ihr Balkonzimmer, in dem Frau Hoffmann und Frau Haase hatten schlafen müssen, weil die Räume im Souterrain noch nicht trocken waren.

Die Neuordnung hatte wie ein reinigendes Gewitter gewirkt; irgendwelche Empfindlichkeiten sind nicht zurückgeblieben.

Der zweitwichtigste Punkt der Tagesordnung war die Pfingstferienfrage; Blume begründete seinen Antrag, die Ferien dies mal zu verkürzen, sie etwa auf Sonnabend bis Dienstag zu beschränken, und zwar führte er dafür an: 1.) haben wir über 2 Wochen später den Unterricht begonnen als die übrigen Berliner Schulen; 2.) haben wir gerade jetzt begonnen, die provisorischen Zustände zu überwinden; eine 8tägige Unterbrechung zerreißt den Zusammenhang aufs neue und bringt in der ersten Woche nach den Ferien erneute unnötige Reibungen in Äußerlichkeiten mit sich. Ferner wies er darauf hin, daß die Pfingstzeit die allerschönste Woche in Scharfenberg zu sein pflege in Temperatur, Blütenpracht und Badefreuden; es aber unmöglich sei, bei geringerer Zahl den Wirtschaftsbetrieb in der bisherigen Weise und ohne Erhöhung der Kosten aufrecht zu erhalten. In der Debatte betonte Hans Baader, wenn Aufbauschüler später 3 Schuljahre in zweien erledigen sollten, könnten jetzt 14 Tage auch ohne Verkürzung der Ferien wieder eingebracht werden. Blume wies diesen Einwand mit der Entgegnung zurück: erstens sei das Einbringen des Unterrichs nicht der Hauptgrund seines Antrags, zweitens setzt der Aufbauschulplan nur begabte und fleißige Schüler vorraus, wie sie jetzt ... [sic!] Herr Wahle bezweifelte, ob es angängig sei, von der vom Provinzialschulkollegium aufgestellten Ferienordnung selbstherrlich abzuweichen und plädierte für volle Innehaltung der Vakanz. Herr Blume stellte dem gegenüber, daß jene 2 Wochen nach Ostern auch ohne Genehmigung des Provinzialschulkollegiums Ferien gewesen seien, und wir in einer Versuchsschule auch wichtigeren Dingen von den Verfügungen uns für entbunden erachteten. Die Abstimmung ergab Ablehnung des Antrags Blume mit 8 zu 12 Stimmen. Anfragen, ob man die Pfingstferien ohne Unterricht in Scharfenberg bleiben könne, wurde vertagt.

Zu tieferen prinzipiellen Gruppierungen unter unserer Schar gab ferner der Antrag Wernecke Anlaß: er wünschte durch Mehrheitsbeschluß festgelegt unbedingt Schonung der Blütenzweige und Blumen, Verbot, sie mit von der Insel zu nehmen. Martin Grotjahn ging noch einen Schritt weiter und protestierte auch gegen das nutzlose Töten so vieler Pflanzen beim Ausschmücken der drei Eßtische. Rudi Frey und Rosolleck wiesen die Angriffe des reinen Naturwissenschaftlers gegen die Ästheten energisch zurück und betonten die gemütbildende Kraft solcher Imponderabilien. Es kam zu so starken Spannungen über diese Frage, daß darüber abgestimmt werden mußte, ob weiterhin Blumen als Tafelschmuck verwendet werden dürften: es ist erlaubt, 13 Stimmen entschieden so gegen 4.

Der Antrag Wernecke ward einstimmig angenommen; um jeden Unfug beim Tischschmücken zu verhindern, ward Frey beauftragt, diese zarte Sorge mit möglichster Delikatesse auf sich zu nehmen.

Ein Antrag Kraemer, am nächsten Sonntag, dem Tage der Elternversammmlung, verstärkten Tischdienst anzusetzen, fand schnelle Erledigung, da sich 4 Freiwillige zur Unterstützung der Verordneten meldeten.

Nicht ganz so glatt ging es mit dem Antrag Fritz: an Besuchstagen in der Nähe des Kahns eine Fährkasse anzubringen und die Gäste in dezenter Form auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen, zum Besten der Schule einen Obulus zu stiften. Herr Wahle sprach sich gegen den Vorschlag aus: man solle doch wenigstens unsere Insel von derartigen Mätzchen freihalten. Die Abstimmung ergab: 13 für Fritz' Antrag und 12 Stimmen dagegen. Es fanden sich einige dienstbereit, den Beschluß schon für den nächsten Sonntag in die Tat umzusetzen.

Außerdem besprach man in dieser Schulgemeinde eine Reihe von Mißständen; so zog Blume zu Felde gegen das lange Lichtbrennen in den Zimmern, das aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen zu vermeiden sei und unbedingt vermieden werden könne, so lange wir unser Tagewerk schon zwischen 5 und 6 Uhr beginnen. "Wie wenig manche ihre Zeit einzuteilen verstehen, hat sich", so fuhr Blume fort, "am Mittwoch gezeigt, an dem in 2 Zimmern noch um 3/4 11 Licht gebrannt wurde, trotzdem der ganze Tag schulfrei gewesen war. Viele wissen überhaupt von dem Studientag nicht den richtigen Gebrauch zu machen, vertrödeln ihn, glauben, es sei ein zweiter Sonntag. Und dabei soll er in Scharfenberg der produktivste Arbeitstag werden, für die innere Fortentwicklung viel wichtiger als ein regelrechter Unterrichtstag! -"

Zur Vertiefung des Eigenlebens, zur Ausdehnung der Lektüre dürfte beitragen, wenn die unnötigen nur aus Langeweile oder nur aus der Lust am Necken hervorgehenden Zimmerbesuche eingeschränkt werden. Man nahm eine dahin gehende Anregung von Heinz Röhrborn und Hans Woldt gern auf, lehnte es ab, daraus ein festes Hausgesetz zu formulieren, sprach aber die Hoffnung aus, daß jeder so vernünftig sein werde, nicht ohne Willen der Insassen ein Zimmer zu betreten und besonders in den Stunden zwischen Mittagessen und Vesper, wie nach 9 Uhr, sich darin alle erdenkliche Zurückhaltung aufzuerlegen.

Im Anschluß daran bat Herr Dorn, doch auch bei dem Türenzumachen leiser zu verfahren; Herr Wahle wünschte im Interesse der Zeiteinteilung pünktlichere Innehaltung der festgesetzten Termine, namentlich auch beim Unterrichtsbeginn.

Baader und Wernecke ersuchten um Schärfung des Gewissens bei Entleihung von Büchern, Handwerkszeug und Tintenfässern, dann könne der Brauch sich nicht halten, solche Dinge ohne Erlaubnis des Besitzers mitgehen zu heißen.

Ein Antrag Stengers, den Küchendienst zu verpflichten, den Kameraden einzuschenken und die Suppe aufzutragen, fand keine Annahme; es ward den einzelnen überlassen, wie weit sie darin gehen wollen; viele empfanden wohl, daß eine derartige Erweiterung des Tischdienstes die Gemütlichkeit u. den Anstand beim Essen erhöhen dürfte; um dem entgegenzukommen, schlug Herr Rosolleck vor, an jedem der drei Tisch möge man abwechselnd jemandem diese Samariterdienste übertragen, dann würde das unerfreuliche Gedränge um den Suppenkessel nachlassen. Man will in dieser Richtung den gerügten Mißstand abzustellen versuchen.

In großer Erregung fragte Ferdi Stenger, warum nicht jeder eine Serviette bei Tisch benutze, trotzdem doch ihre Anschaffung auf dem Anmeldezettel gefordert gewesen sei: Herr Blume und Herr Rosolleck gaben zu, daß man ursprünglich an obligatorische Einführung von Mundtüchern gedacht habe, um wieder eine Handhabe davon zu besitzen, auf unauffällige, fast unbewußte Weise den Ton zu heben; daß man aber mit Rücksicht auf die ständig steigenden Preise für Wäsche und deren Reinigung davon abgekommen sei. Die Majorität billigte diesen Standpunkt: Mundtücher zu benutzen erwünscht, aber kein Zwang! Für die, die es wünschten, stellte Alfred Rosolleck Mundtücher in Aussicht als Gabe seiner Frau Mutter.



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