Klafki, Wolfgang: Pädagogisches Verstehen - eine vernachlässigte Aufgabe der Lehrerbildung. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k09.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Pädagogisches Verstehen - eine vernachlässigte Aufgabe der Lehrerbildung. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 135-153.


Wolfgang Klafki

Pädagogisches Verstehen - eine vernachlässigte Aufgabe der Lehrerbildung


I. Vorbemerkungen

Der Zentralbegriff dieses Beitrags - "Pädagogisches Verstehen" - zielt auf ein Grundproblem der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. "Pädagogisches Verstehen" ist eine grundlegende Aufgabe für alle Menschen, die erzieherisch tätig sind, sei es als Eltern, sei es in pädagogischen Berufen als Kindergärtnerinnen oder in der Sozialpädagogik, in der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit, in der Behindertenpädagogik, in der Ausländerpädagogik oder in der Erwachsenenbildung usw. Die Formulierung des Titels unterstreicht jedoch, daß ich das Thema hier im wesentlichen auf Aufgaben der Lehrerbildung eingrenze. Und zwar handelt es sich m. E. um eine weitgehend vernachlässigte Aufgabe der Lehrerbildung. Da ich seit langem auch in diesem Bereich tätig bin, übe ich mit dieser Bemerkung zugleich Selbstkritik.

Auf einige erziehungsphilosophische Probleme des Themas werde ich nicht ausführlich eingehen können, etwa


Solche erziehungsphilosphischen Fragen werden in meinen Ausführungen an einigen Stellen angesprochen werden. Im wesentlichen sind meine Überlegungen jedoch pädagogisch-pragmatisch angelegt. Sie zielen auf die Doppelfrage: Warum halte ich Hilfen zur Entwicklung der Fähigkeit zum pädagogischen Verstehen für eine wichtige Aufgabe der Lehrerbildung, und welche Möglichkeiten sehe ich, diese Aufgaben in der Lehrerbildung konkret in Angriff zu nehmen? - Die Übertragung dieser Gedanken auf die Ausbildung für andere pädagogische Berufe und deren Arbeitsfelder werde ich in diesem Beitrag aus Zeitgründen ebenfalls nicht vornehmen. Aber solche Übertragungsmöglichkeiten liegen unmittelbar nahe.

Den Begriff "Lehrerbildung" benutze ich hier im weiten Sinne dieses Wortes. Ich meine damit drei Phasen:


Ich werde meine Überlegungen auf alle drei Phasen der Lehrerbildung beziehen.


II. Was heißt "Pädagogisches Verstehen"?

"Pädagogisches Verstehen" - was ist damit im schulpädagogischen Zusammenhang gemeint? Ich kann nicht direkt auf die Antwort zusteuern. Zunächst muß ich ein mögliches Mißverständnis auszuräumen versuchen. In der Diskussion um Schulreform in der Bundesrepublik, übrigens auch in den USA, gab es in den letzten Jahrzehnten manche Strömungen und auch einige praktische Schulreformversuche, die mich zu folgender Bemerkung veranlassen: Schule und Unterricht sind schwerpunktmäßig weder psychotherapeutische Einrichtungen noch Freundschaftsclubs, und das gilt auch für eine grundlegend reformierte, kinder- und jugendorientierte Schule. Lehrerinnen und Lehrer sollen junge Menschen in der Schule und durch Unterricht in systematischer, kontinuierlicher und methodisch durchdachter Weise in die objektive, historisch gewordene Wirklichkeit und unser (gewiß immer begrenztes) Wissen von ihr einführen, und dazu gehören selbstverständlich auch die Dimensionen der wissenschaftlichen Naturerkenntnis, der Mathematik, der Technik, der industriellen Produktions- und Arbeitswelt usw. Diese Einführung aber soll so erfolgen, daß die nachwachsende Generation sich Voraussetzungen zum Verstehen dieser geschichtlichen Wirklichkeit, zur Urteilsbildung und zum Handeln in ihr aneignen kann. Sofern man eine konsequent demokratische Erziehung befürwortet, die an den Prinzipien der Befähigung des jungen Menschen zur Selbstbestimmung, zur Mitbestimmung und zur zwischenmenschlichen, sozialen und politischen Solidarität orientiert ist, muß diese Einführung in einem kritisch-prüfenden Sinne geschehen.

Aber - und erst damit komme ich zum Sinn des Begriffs "Pädagogi-sches Verstehen" -, diese Einführung in die historische Wirklichkeit wird Lehrerinnen und Lehrern nur dann in gründlicher, weiterwirkender, bildender Weise gelingen, wenn sie die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen jeweils neu in ihrer subjektiven Situation, mit ihren Voraussetzungen und Erfahrungen, Interessen, Schwierigkeiten und Nöten, im Zusammenhang ihrer Sozialisationskontexte und in den von den jungen Menschen gesetzten Bedeutungsakzenten zu verstehen versuchen, also hinsichtlich dessen, was die Jugendlichen als für sich selbst wichtig betrachten. Und das heißt: Lehrer müssen sich bemühen, Kinder und Jugendliche als ganzheitliche (- d.h. aber keineswegs immer: als harmonische -) junge Menschen zu verstehen, die auch in der Schule nicht nur Schüler sind. Wer junge Menschen in der Schule nur als Schüler betrachtet, versteht sie auch als Schüler nicht!

Dieses Prinzip, Kinder und Jugendliche auch in der Schule als ganzheitliche Personen zu verstehen, sie in ihrem oft schwierigen Entwicklungsprozeß ernstzunehmen, anzunehmen, anzuerkennen, Schule und Schülersein also im umfassenden Zusammenhang des Kinder- und Jugendlebens zu begreifen, ist eines der zentralen Bedeutungsmomente der Forderung nach der "humanen Schule" bzw. der "Humanisierung der Schule", die heute in verschiedenen Ländern der Welt von progressiven Pädagogen, von manchen Elterngruppen und von gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden, die an Schulreform interessiert sind, gefordert wird. Eine humane Schule ist oder wäre unter anderem eine Schule, in der Kinder und Jugendliche sich in ihrer Subjektivität, d. h. als werdende, individuelle Personen anerkannt und verstanden wissen. [1]

Erneut muß ich hier ein mögliches Mißverständnis abwehren: Mit dieser Aussage rede ich nicht einem neuen pädagogischen Subjektivismus das Wort. Ich unterstelle nicht, daß es möglich oder wünschenswert sei, eine undialektisch gedachte "Schule vom Kinde, vom Jugendlichen aus" zu gestalten. Denn die Voraussetzungen, Erfahrungen, Sozialisationseinflüsse, die Interessen, Schwierigkeiten und individuellen Bedeutungssetzungen auf der Seite der heranwachsenden jungen Menschen, die sie in die Schule sozusagen mitbringen, sind selbst keine "Naturprodukte", sondern sind immer schon Ergebnisse, besser: Zwischenergebnisse der reflektierten oder unreflektierten Aneignung der geschichtlich- gesellschaftlich vermittelten Wirklichkeit, die die jungen Menschen erfahren. Sie sind (vorläufige) Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit, also mit den Beeinflussungen durch die familiären und außerfamiliären Bedingungen des Aufwachsens, mit der Soziallage und den durch sie bestimmten Gegebenheiten des Alltags, mit Anforderungen und Möglichkeiten, die den objektiven Strukturen der jeweiligen Lebenssituation entstammen, z. B. einer eher ländlichen oder einer großstädtischen Umgebung. Auch und gerade eine Schule, die sich demokratischen und humanen Prinzipien verpflichtet weiß, die also Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit anbahnen will, muß pädagogisch begründete Angebote machen und Anforderungen stellen. In der Auseinandersetzung mit solchen Angeboten und Anforderungen der Schule können sich die vorher genannten Fähigkeiten entwickeln.

"Pädagogisches Verstehen" meint also das nie abschließbare und selbstverständlich immer nur begrenzt einlösbare Bemühen von Lehrerinnen und Lehrern, die unterrichtliche und außerunterrichtliche Lebens- und Lernsituation der Kinder und Jugendlichen von deren Seite aus zu erfassen, sozusagen einen Perspektivenwechsel zur Seite des individuellen jungen Menschen hin zu vollziehen und zugleich die objektiven Bedingungen und Anforderungen im Bewußtsein zu behalten. Gerade dadurch kann Schule dem jungen Menschen neue, zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen.

Mit diesen Überlegungen zum Problem des pädagogischen Verstehens nehme ich ein zentrales Motiv der pädagogischen Denktradition auf oder besser: ich halte an dieser Tradition einerseits fest und versuche andererseits, auf dieser Spur weiterzudenken. Ich meine Herman Nohls und Martin Bubers Auslegungen der Besonderheit der pädagogischen Einstellung und des pädagogischen Handelns im Unterschied von anderen sozialen Beziehungs- und Handlungsformen. Nohl sieht dieses Spezifikum in einer "Umdrehung" gegenüber allen Sichtweisen, die den jungen Menschen nur oder primär als Adressaten objektiver Ansprüche der Wissenschaft, des späteren Berufslebens, der Wirtschaft, der Kirchen, der Politik usw. betrachten. In der "Einstellung auf das subjektive Leben des Zöglings", so heißt es an einer Stelle des Hauptwerkes Nohls über "Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie", "in dieser eigentümlichen Umdrehung, die man sich in ihrer vollen Bedeutung vor Augen stellen muß, liegt das Geheimnis des pädagogischen Verhaltens und sein eigenstes Ethos ... In dieser Einstellung auf das subjektive Leben des Zöglings liegt das pädagogische Kriterium: was immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muß sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes (ich füge ein: das Kind steht hier stellvertretend für den jungen Menschen überhaupt; W. Kl.) für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte, und welche Mittel hat dieses Kind, um sie zu bewältigen?" (Nohl: Die pädagogische Bewegung und ihre Theorie. 4. Aufl. Frankfurt 1957, S. 127)

In Bubers berühmtem Vortrag "Über das Erzieherische" aus dem Jahre 1925 heißt es in der eigentümlich bilderreichen und emotional gefärbten Sprache dieses Denkers: Der Erzieher, der Lehrer, dessen Beruf es ist, "auf andere Menschen einzuwirken, muß immer wieder eben dieses sein Tun ... von der Gegenseite erfahren". Er muß, ohne daß sein pädagogisches Handeln "irgend geschwächt würde", zugleich "drüben sein, an der Fläche jener anderen Seele, die ... seine (des Pädagogen; W. Kl.) Handlung empfängt." Erst wenn der Erziehende, der Lehrende "von drüben aus sich selber auffängt und verspürt, 'wie das tut', wie das diesem anderen Menschen tut, erkennt er die reale Grenze" seiner pädagogischen Handlungsmöglichkeiten, kann er in einen pädagogischen Dialog mit den jungen Menschen eintreten, ihnen zur Entwicklung ihrer Möglichkeiten verhelfen und damit selbst zu einem Dialog Lernenden werden. Buber bezeichnet eine solche Einstellung auch mit dem Begriff der "Umfassung". (Vgl. M. Buber: Reden über Erziehung. Heidelberg 1953, S. 42/43)

Selbst wenn man solche idealtypisch gemeinten Aussagen aus den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in die nüchterne Sprache heutiger Erziehungswissenschaft oder der pädagogischen Alltagskommunikation übersetzt und dann nach Konsequenzen für die Lehrerbildung fragt, liegt spätestens an dieser Stelle der Stoßseufzer nahe: Nun wird der Lehrerbildung noch eine Aufgabe zugewiesen! Ist sie nicht sowieso schon mit zu vielen und zu hohen Anforderungen belastet? Sollte nicht eher über Entlastungen nachgedacht werden? Was ist zu diesem zunächst verständlichen Einwand zu sagen? Man könnte dieser Empfehlung im vorliegenden Fall folgen, wenn irgend etwas für folgendes Argument sprechen würde: Pädagogische Verstehensfähigkeit, die lernt man doch im Laufe der Berufspraxis ohnehin, auch ohne besondere, unterstützende Maßnahmen, und sei es, um als Lehrerin oder Lehrer überhaupt in diesem Beruf überleben zu können. Vielleicht trifft diese Behauptung für die eine oder andere Kollegin, den einen oder anderen Kollegen zu. Aber mit Sicherheit ist sie nicht verallgemeinerbar. Denn es sprechen zum einen grundsätzliche Einsichten in die Bedingungen, unter denen sich aus Erfahrungen so anspruchsvolle Einstellungen und Fähigkeiten entwickeln können, wie sie der Begriff des "Pädagogischen Verstehens" umschreibt, gegen jenes optimistische Entlastungsargument. Aber auch etliche Ergebnisse der jüngeren (und schon der historischen) Schulforschung sprechen dagegen. Alltagserfahrung und Schulforschung liefern vielmehr etliche Belege dafür, wie sehr es in vielen unserer Schulen an einer Atmosphäre mangelt, die seitens der Lehrerinnen und Lehrer von pädagogischem Verstehen geprägt ist.

Ich kann hier nur sehr kurz auf dieses Erkenntnismaterial hinweisen und unterscheide dabei vier Gruppen solcher Belege.

Erstens ist die in der Erfahrung vieler Lehrer, Eltern und Schüler sowie durch Forschung bestätigte Fülle von Schulschwierigkeiten, Schulunlust, Schulangst zu nennen. [2] - Zweitens sind Aussagen über die Wahrnehmung von Lehrern aus der Sicht von Schülern gemeint, die sich zum einen in literarischen Darstellungen, zum anderen in Biographien antreffen lassen. [3] - Drittens ist an die Hinweise zu erinnern, die jene Untersuchungen erbracht haben, in denen jüngere und ältere Schüler danach gefragt wurden, wie sie sich einen "guten Lehrer" bzw. eine gute Lehrerin wünschen. Unter den am häufigsten genannten Wunsch-Eigenschaften tauchen hier oft solche auf, die auf jene Fähigkeit des pädagogischen Verstehens hinweisen bzw. auf den Wunsch der Schüler, sich als werdende Personen verstanden zu wissen. [4] Jene Wünsche aber werden oft mit dem Urteil verbunden, daß diese Fähigkeit oder diese Bereitschaft bei sehr vielen Lehrkräften fehlt. - Es gibt noch eine vierte Gruppe von Belegen dafür, daß es in der Wirklichkeit unserer Schulen vielfach an pädagogischem Verstehen auf der Seite der Lehrkräfte fehlt. Ich meine jene Berichte und Einstellungsuntersuchungen, in denen belegt wird, daß Schülerinnen und Schüler nicht selten folgende Einschätzungen abgeben: Sie betrachteten ihren schulischen Lernweg weitgehend nicht oder kaum als bedeutsam für ihre persönliche Entwicklung. [5] Vielmehr sähen sie die Angebote der Schule und die Bewältigung ihrer Anforderungen vorwiegend als Mittel an, um den Zugang zu bestimmten Berufsausbildungswegen oder zu Hochschulstudien zu erlangen. Oft klingt in solchen Selbstaussagen der betroffenen Jugendlichen an, daß sie sich in ihren Problemen von Lehrern wie von Eltern unverstanden fühlen. Und genau dieses Nicht-verstanden-Werden scheint oft einer der entscheidenden Faktoren für die innere Distanz dieser Schüler zur Schule zu sein.

In welchem Umfang solche Einschätzungen zutreffen und wieweit sie als verallgemeinerbar gelten können, ist wissenschaftlich z. Z. noch eine weitgehend offene Frage. Aber man wird alle diese Hinweise ernst nehmen müssen. Denn sie widersprechen den programmatischen Ansprüchen, mit denen wir Schule und Unterricht oftmals rechtfertigen und mit denen wir die Bedeutung des Lehrerberufs zu unterstreichen pflegen.

Es gibt nun jedoch glücklicherweise Schulen, denen es in erheblichem Umfang gelingt, im Unterricht und im Schulleben eine Atmosphäre des Verstehens, der Beziehung von Lehrenden und Lernenden, von Erwachsenen und jungen Menschen zu schaffen, in der Kinder und Jugendliche ihren Entwicklungsweg in der Schule als für sie bedeutsame - d. h. aber keineswegs als konfliktfreie - biografische Erfahrung erleben können. Das gilt, wie nicht nur Beobachtungen und informelle Gespräche es nahelegen, sondern auch erziehungswissenschaftlich-biografische Untersuchungen erweisen, z. B. für die Laborschule in Bielefeld . [6]


III. Unterricht, der von pädagogischem Verstehen getragen wird

Im Zuge der bisherigen Überlegungen ist hoffentlich deutlich geworden, daß die Forderung nach Humanisierung der Schule und des Unterrichts und nach pädagogischem Verstehen auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer hier nicht als eine Art geschickte Verpackungsstrategie verstanden wird, mit der die derbe Kost des schulischen Lernens ein bißchen besser an die Schüler gebracht werden soll, die dem Kern der Lehr- und Lernprozesse aber äußerlich bleibt. In Wahrheit dürfte die Atmosphäre einer humanen Schule, eines humanen Unterrichts, der von pädagogischem Verstehen geprägt ist, höchstwahrscheinlich eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür sein, daß Lerninhalte und Lernprozesse den Schülerinnen und Schülern nicht äußerlich bleiben, also nur als Pflichtpensum absolviert werden, sondern daß die Lernenden die Bedeutsamkeit dieser Inhalte und Prozesse für die Entwicklung ihres Selbst- und Weltverständnisses, ihres Könnensbewußtseins und ihrer Lernbereitschaft erfahren können. Noch einmal: "Pädagogisches Verstehen" ist kein strategisches oder taktisches Hilfsmittel zur Steuerung von Unterricht, sondern ein konstitutives Moment sinnvollen, bedeutungshaltigen, bildenden Lehrens und Lernens. Und das heißt zugleich: Unterricht, der solche Lernprozesse ermöglicht, ist eine ständige Herausforderung für die Lehrerinnen und Lehrer zur Bemühung um pädagogisches Verstehen. Damit ist ein solcher Unterricht zugleich ein potentielles Lernfeld zur Entwicklung pädagogischer Verstehensfähigkeit. Ja er kann in einem besonderen Sinne individuelle Lehrer-Bildung ermöglichen: Der Lehrende erweitert dann nicht nur seine beruflichen Kompetenzen, sondern erfährt durch die dialogische Struktur solchen Unterrichts selbst eine Bereicherung als individuelle Person, seines eigenen Selbstverständnisses und seiner Mitmenschlichkeit. Daß solche Erfahrungen sich nicht Tag für Tag einstellen werden, versteht sich fast von selbst. Jene Möglichkeit bezeichnet aber den Endpol einer Skala von unterschiedlich anspruchsvollen Ausprägungsgraden, den Unterricht aufweisen kann, dessen kognitives, emotionales und soziales Klima von pädagogischem Verstehen geprägt ist.

Nun müßte man an dieser Stelle eigentlich einige anschauliche, ausführlich entfaltete Beispiele für einen solchen Unterricht darstellen. Das kann ich hier nicht tun. Ich muß es bei einer kurzen Skizze von zwei Beispielen belassen. Als erstes Beispiel weise ich auf die Konzeption verstehenden und "entdeckenden" Lernens hin, die Martin Wagenschein in jahrzehntelangem Wechselspiel von eigenem Unterricht und pädagogischer Reflexion entwickelt hat.

Wagenschein ist bekanntlich einer der Begründer der Idee des exemplarischen Lehrens und Lernens. [7] Der Sinn des schulischen Lernens besteht danach nicht darin, daß der Schüler sich in den einzelnen Schulfächern ein möglichst großes stoffliches Wissen aneignet, rezeptiv möglichst viele Kenntnisse anhäuft. Der Kern schulischen Lernens soll vielmehr darin bestehen, daß sich Schüler an einer begrenzten Zahl von prägnanten Kernproblemen fachlicher oder fächerübergreifender Art möglichst selbsttätig verallgemeinerbare Grunderkenntnisse, fundamentale Erkenntniskategorien und zentrale Erkenntnismethoden aneignen, jeweils auf dem Verständnisniveau der einzelnen Entwicklungsstufen. Das bedeutet, daß dieses Prinzip nicht erst in höheren Altersstufen, sondern von den ersten Anfängen schulischen Unterrichts an gilt. - Wagenschein hat später betont, daß der didaktische Grundgedanke seines Ansatzes nicht allein durch den Begriff "exemplarisch", sondern nur durch eine Dreiheit von Begriffen, nämlich "genetisch", "sokratisch" und "exemplarisch " [8] bestimmt werden kann.

"Genetisch" besagt dabei, daß einzelne Schüler oder eine lernende Gruppe solche exemplarischen Einsichten nur dann gewinnen werden, wenn sie die Struktur der betreffenden Erkenntniszusammenhänge schrittweise selbst noch einmal nachentdecken, selbsttätig nachvollziehen, also z. B. den Satz des Pythagoras in der Mathematik oder die Erklärung der Mondphasen in der Physik oder die Erkenntnis, was eigentlich ein physikalisches Modell ist. Dazu ist es notwendig, daß die Schüler sich zunächst bedächtig, oft über manche Irrwege hinweg an die Fragestellungen heranarbeiten, die solchen Erkenntnissen zugrunde liegen.

"Sokratisch" aber bezeichnet jene behutsame Art, in der der Lehrer solche zunehmend selbsttätigen und selbständigen Erkenntnisprozesse unterstützt. Er versteht sich vorwiegend als Helfer zum Selberlernen der Schüler. - Ein solcher Unterricht ist nicht in zerstückelten 45-Minuten- Einheiten möglich, sondern erfordert zusammenhängende Unterrichtsepochen. Er läßt den Schülern Zeit, geht von ihren Erfahrungen und Beobachtungen aus, läßt sie aspekt- und assoziationsreich den Weg von ihren subjektiven Eindrücken und Vermutungen und vor allem auch von ihrer Alltagssprache aus schrittweise zu intersubjektiv überprüfbaren, präzisen Fragestellungen, Hypothesen, methodischen Zugangsweisen finden. Die Arbeit an einzelnen Unterrichtsthemen kann sich in solchem Epochalunterricht über mehrere Wochen oder gar Monate erstrecken.

Ich muß leider darauf verzichten, hier auch nur eines jener Unterrichtsprotokolle nachzuzeichnen, in denen Wagenschein den Prozeß solcher Unterrichtsgänge und der darin ablaufenden Unterrichtsgespräche beschrieben hat. [9] Für unser Thema ist folgendes entscheidend: Dieser Unterricht vollzieht sich in einer Atmosphäre pädagogischen Verstehens. Er wird vom Lehrer nicht unter Zeit- und Leistungsdruck gestellt. Trotzdem oder gerade deshalb stellt er kognitiv, emotional und hinsichtlich der Anforderungen an die soziale Sensibilität und Kooperationsbereitschaft der Schüler höhere Ansprüche als üblicher Schulunterricht. Der Schüler erfährt, daß er zunächst auf dem jeweils gegebenen Stand seiner Erkenntnisfähigkeit als Subjekt anerkannt und zugleich auf seine noch nicht entfalteten Möglichkeiten hin angesprochen und gefördert wird. Jede Vermutung und all die emotionalen Momente, die die kognitiven Prozesse nicht nur begleiten, sondern oft entscheidend anregen, werden ernstgenommen.

Das zweite Beispiel entnehme ich dem Buch einer Grundschullehrerin, die seit langem an der Laborschule der Universität Bielefeld tätig ist, die Hartmut von Hentig 1973/74 begründet hat. Die Lehrerin, Heide Bambach, arbeitet in der dreijährigen Eingangsstufe, die vom 5. bis zum 7. Lebensjahr reicht, und in der zweiten Grundschulstufe dieser Schule, die das 3. und 4. Schuljahr umfaßt. Das Buch trägt den ein wenig geheimnisvollen Titel "Erfundene Geschichten erzählen es richtig"; den Untertitel - "Lesen und Leben in der Grundschule " [10] müßte man eigentlich um ein weiteres Element ergänzen: Lesen, Geschichten schreiben und Leben in der Grundschu-le.

Heide Bambach erzählt vor allem von ihrer Grundschularbeit, schwerpunktmäßig von ihrem Sprachunterricht, dessen Zentrum das Zusammenspiel zweier Elemente bildet: Täglich oder fast täglich liest sie innerhalb einer einstündigen Unterrichtsphase, die vor dem gemeinsamen Mittagessen in dieser Ganztagsschule stattfindet, aus Kinder- und Jugendbüchern vor. Diese Stunde nennen die Kinder die "Versammlung". In der zweiten Hälfte dieser täglichen "Versammlungsstunde" lesen jeweils drei oder vier Kinder aus ihren freien Texten vor. Oft handelt es sich um Fortsetzungsgeschichten, die die Kinder allein, zu zweit oder zu dritt, nicht selten über Wochen, ja Monate hinweg geschrieben haben, und zwar vorwiegend innerhalb einer anderen, ein- bis anderthalbstündigen Unterrichtsphase, die jeden Morgen unter der Bezeichnung "freie Arbeits- und Übungszeit" stattfindet. Sehr oft arbeiten die Kinder aber auch aus eigenem Antrieb zu Hause an ihren Geschichten weiter. - Dem Vorlesen in der "Versammlung" folgt jeweils eine besinnliche Gesprächsphase über die Geschichten.

Hier kann ich nicht auf das zugrundeliegende, sprach- und literaturdidaktische Konzept der Verfasserin eingehen. Mir geht es darum zu zeigen, daß hier im Medium von sensibler Literaturdarbietung und Literatur-Rezeption und ungemein fantasievollem Eigenschaffen der Kinder ein Unterricht gelingt, der zum einen von pädagogischem Verstehen der Lehrerin getragen ist und zum anderen durch das Bemühen der Kinder um wechselseitiges Verstehen bestimmt wird.

Ich hoffe, daß schon die wenigen Passagen, die ich hier aus der Fülle eindrucksvoller Szenen auswählen kann, für sich sprechen.

Frau Bambach sagt im Einleitungskapitel ihres Buches: "Ich erzähle aus dem Alltag einer Schule, die zumindest darin radikal anders ist als Schulen in der Regel: Sie läßt Erwachsenen Zeit und Freiheit, herauszufinden und zu tun, was Kindern gut tut. Wer Kindern zugetan ist, weiß: Ihnen tut ein Schultag gut, der ihnen Gelegenheiten gibt, sich ihrer selbst sicher zu werden und sich als Gruppe zusammenzuleben" (S. 19). Später heißt es: "In der Versammlung fängt für meine Schülerinnen und Schüler beides an, das Lesen und das Schreiben. Über dem Buch, das sie gemeinsam liebgewinnen, be-freunden sie sich miteinander und auch mit mir als der Erwachsenen, die es ihnen vorliest. Vielleicht ist es diese von Freundschaftlichkeit geschützte Situation, die in jedem dieser Kinder das Bedürfnis weckt, mit einem eigenen Text im Mittelpunkt der Zuwendung zu sein und den Texten, die es gehört hat, nachzugehen." (S. 61) - Ich habe einmal eine solche "Versammlung" miterlebt.

An einer Stelle berichtet die Verfasserin von einem neunjährigen Mädchen und einer Geschichte, die es sich ausgedacht und die es in mehreren Fortsetzungen vorgelesen hat. Die Geschichte handelt von einem jungen Gespenst. Dieses Gespenst ist nicht wie seine Eltern und seine Geschwister und alle anderen Gespenster der Fantasie-Insel weiß, sondern rot; daher hat die kleine Autorin ihm den Namen Roto gegeben. Weil es so anders ist als alle anderen Gespenster der Insel, deshalb nimmt auch die Schule Roto nicht auf. "Andere Kinder dürfen nicht mit ihm spielen, die Eltern mögen es nicht, kritisieren es nur oder übersehen es, die Geschwister quälen es, alle vergessen seinen Geburtstag, nur Julia nicht, die geliebte große Schwester". - Roto beschließt wegzulaufen. Sorgfältig und bedacht bereitet er - es handelt sich also um einen kleinen Gespensterjungen - die Flucht vor, versorgt sich mit allem Lebenswichtigen, schreibt Julia einen Abschiedsbrief und segelt mit dem Boot der Familie heimlich auf's Meer.

Ich kann hier nicht die ganze Geschichte skizzieren. In der Wiedergabe in dem Buche umfaßt sie nicht weniger als neun engbedruckte Seiten. Entscheidend ist folgendes: Heide Bambach sagt von dieser Geschichte: "Fast jedes Detail dieser von einem neunjährigen Mädchen im 4. Schuljahr geschriebenen Erzählung scheint mir etwas vom Innenleben der Autorin abzubilden und - allem Anschein nach - dem vieler anderer Kinder auch. Denn ich habe ... an den unsentimental einfühlsamen Einlassungen der Kinder erkannt, daß nicht nur die Fabel der Geschichte (ich-fühle-mich-fremd; ich-laufe-weg: ich-werde-getrennt) den meisten Kindern offenbar zutiefst vertraut, ja geradezu selbstverständlich ist, sondern auch der Überlebenswille, der in den überaus kompetenten Fluchtvorbereitungen zutage tritt" (S. 93) - Über die kleine Autorin heißt es: Sie "hatte in jenem Jahr den neuen Partner der Mutter samt dessen vier Kindern zu verkraften, und hinzu noch eine schwierige Phase ihres überaus durchsetzungsfähigen älteren Bruders; sie ist also wohl tatsächlich innerhalb der Familie 'untergegangen' und hatte aktuellen Anlaß für ihre Weglauffantasien. Aber die Resonanz, die ihr Text bei anderen Kindern fand, scheint mir darauf hinzudeuten, daß der Text eine Grundfigur kindlichen Erlebens abbildet, nämlich die Furcht, es nicht wert zu sein, geliebt zu werden, Diese Furcht wächst wohl besonders aus der Erfahrung, verlassen worden zu sein. Alltägliche Verlassenheit kostet heutigen Kindern viele Kräfte, nicht nur denen, die ein Elternteil verloren haben, sondern - in anderer Weise - auch dort, wo sie in scheinbar harmonischen Familien leben, in denen erst beim näheren Hinsehen deutlich wird, daß niemand richtig Zeit für das Kind hat."

Wie gehen die Kinder der Klasse nach dem Vorlesen mit der Geschichte um? Heide Bambach berichtet: "Obwohl der Schlüssel für die Geschichte auch für die Kinder geradezu auf der Hand zu liegen scheint - zumindest für diejenigen von ihnen, die von den Verhältnissen in der Familie der Autorin wissen -, bleiben alle Kinder mit ihren Äußerungen ganz und gar auf der Ebene der Geschichte ... Sie wollen wissen, wie groß Roto gewesen sei ..., sorgen sich, ob die zwei Goldtaler reichen werden zur Bezahlung alles dessen, was Roto eingekauft hat, weisen darauf hin, daß er dies alles unmöglich im Rucksack transportieren könne, und finden gemeinsam mit der Autorin die Lösung mit dem Bollerwagen. - Was die Kinder nicht tun ist, die Geschichte zu "entlarven", also sie zum Leben der Autorin in Beziehung zu setzen. Ist ihnen dieser Umstand so naheliegend, daß sie ihn für nicht erwähnenswert halten? Sind sie 'dis-kret', weil sie die gleiche Diskretion im Hinblick auf ihre eige-nen Texte erwarten? Oder ist dies alles unbewußt, 'passiert' es nur, daß sich ihre von ... Tapferkeit überdeckten Traurigkeiten und Ängste als Bilder zeigen, ohne daß die Kinder es beabsichtigen und merken?" (S. 105).

In dem Buch finden sich viele ähnliche Berichte und Szenen. Ich zitiere nur noch eine allgemeine Aussage dieser Lehrerin: "Vor allem ... gebe ich den Kindern viel Zeit und Gelegenheit, mit ihren Gedanken und Vorstellungen dem nachzugehen, was ihre Gemüter bewegt, weil ich weiß, daß Fantasie, Nachdenklichkeit und Einfühlsamkeit Zeit und Raum brauchen." (S. 32)


IV. Wie kann Lehrerbildung zur Entwicklung der Pädagogischen Verstehensfähigkeit beitragen?

Ich hoffe, daß die beiden kurzen Beispiele deutlich gemacht haben, was ich unter einem Unterricht verstehe, der durch das Bemühen von Lehrerinnen und Lehrern geprägt ist, Kinder bzw. Jugendliche zu verstehen, und in dem die jungen Menschen selbst die Fähigkeit zu gegenseitigem Verstehen entwickeln können. Im letzten Abschnitt wende ich mich der Frage zu: Wie kann Lehrerbildung gezielte Hilfen zur Entwicklung der pädagogischen Verstehensfähigkeit geben? Wir wissen bisher wenig Gesichertes darüber, weil die Aufgabe meiner Kenntnis nach systematisch noch kaum in Angriff genommen worden ist. Ich sehe vor allem vier Möglichkeiten, die in den drei Hauptphasen der Lehrerbildung in unterschiedlichem Maße verwirklicht werden könnten.

Erstens: Pädagogisches Verstehen kann man, so vermute ich, in behutsam teilnehmender Beobachtung und offenem Umgang mit Kindern und Jugendlichen lernen. Entsprechende Beobachtungs- und Begegnungssituationen dürfen aber in der Lehrerbildung nicht primär der Einführung in Forschungsverfahren dienen, weil damit - verfrüht und blickverengend - eine objekivierende Verfremdung ins Spiel käme. Bei der Einführung in Verfahren der Unterrichtsbeobachtung geht es um eine andere Aufgabe, die ich keineswegs geringschätze.

Und weiter: Teilnehmende Beobachtung und offenen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, durch die man pädagogische Verstehensfähigkeit entwickeln kann, werden angehende Lehrerinnen und Lehrer, jedenfalls in der ersten Phase der Lehrerbildung, also als Studentinnen und Studenten, nicht in Situationen verwirklichen können, in denen sie bereits als Lehrende für die Erreichung verbindlicher Ziele eines methodisch geplanten Unterrichts verantwortlich sind. Denn in diesen Situationen, die wiederum für eine andere, wichtige Aufgabe der Lehrerbildung geeignet sind, nimmt die Orientierung auf das Erreichen bestimmter Ziele des Unterrichts meistens den größten Teil der Aufmerksamkeit des Unterrichtenden in Anspruch. Pädagogisches Verstehen aber heißt zunächst: Erspüren, vermuten, zu erkennen versuchen, wie es auf der Seite des jungen Menschen aussieht, was ihn interessiert, was ihm Schwierigkeiten macht, wie er es gern machen würde, was er sich zutraut und was nicht, wie es ihm zumute ist, welche Lebensthemen ihn zum gegebenen Zeitpunkt besonders beschäftigen, also das Verhältnis zur Freundin oder zum Freund, das eigene Aussehen - Frisur oder Kleidung -, das eigene "Auftreten" als Form der Beziehung zu den anderen, die Enttäuschung über eine Selbsterfahrung, die das Kind oder der Jugendliche als Niederlage deutet; die Neugierde auf etwas, was einem noch verboten ist, usw. Solche Phänomene des kindlichen oder jugendlichen Lebens sind in der Schule und zumal im Unterricht normalerweise schwerer zugänglich als etwa in offenen Spielsituationen, in einer Diskothek, bei und nach einem Kino- oder Konzertbesuch mit jungen Menschen, innerhalb der eigenen oder einer befreundeten Familie, im Kinder- und Jugendclub usf.

Im Anschluß an solche Versuche teilnehmender Beobachtung und offenen Umgangs mit Kindern und Jugendlichen, die Studierende am besten zu zweit durchführen sollten, müßten sie nachträglich in kleinen Gruppen darüber sprechen, behutsam reflektieren, nachsinnen, damit jeder sich der eigenen Verstehensansätze bewußt werden kann, Einschätzungen anderer kennenlernt, Bestätigungen der eigenen Vermutungen oder aber Zweifel an ihrer Treffsicherheit erfährt und auf neue Beobachtungs- und Frageperspektiven aufmerksam wird. Dazu benötigt man nicht einen großen Apparat an Theorien und Fachtermini, sie könnten eher störend wirken.

Schaffen wir in der ersten Phase der Lehrerausbildung überhaupt oder in hinreichendem Maße Situationen, in denen man erste Ansätze zu einem so verstandenen pädagogischen Verstehen machen kann? Die bisher üblichen Praktika etwa, die m. E. nach wie vor im Hinblick auf andere, wichtige Aufgaben der Lehrerbildung notwendig sind, also die Erkundungspraktika und die Schulpraktika, ggf. zusätzliche Sozialpraktika, können das m. E. nicht leisten, es sei denn, sie seien lang genug und würden bewußt so angelegt, daß in solche Praktika Phasen einer noch nicht methodisierten teilnehmenden Beobachtung und offenen Umgangs eingebaut werden.

Auch für die zweite und dritte Phase der Lehrerbildung muß m. E. gefragt werden: Gibt es in nennenswertem Maße Anregungen zur Entwicklung bzw. zur Weiterentwicklung pädagogischen Verstehens? Hinsichtlich der zweiten Phase habe ich eher eine gegenläufige Vermutung. Damit möchte ich keine Schuldzuweisung an diejenigen vornehmen, die in dieser zweiten Lehrerausbildungsphase tätig sind. Meine Vermutung lautet aber: In vielen Fällen führen die Schwerpunkte der zweiten Lehrerausbildungsphase z. Z. bei vielen angehenden Lehrerinnen und Lehrern im Vergleich mit ihrer ersten Ausbildungsphase wahrscheinlich sogar zu Einstellungsänderungen und zu Gewohnheiten, die der Entwicklung pädagogischer Verstehensfähigkeit zuwiderlaufen, und zwar deshalb, weil eindeutig die Orientierung vorherrscht, die Referendarinnen und Referendare sollten zur Erteilung eines zielorientierten Unterrichts befähigt werden, eines Unterrichts, der überdies unter Prüfungskriterien von Ausbildern und ggf. auch externen Prüfern beurteilt wird. Wo der angehende Lehrer bzw. die Lehrerin sich unreflektiert diese Sichtweise als vorherrschende zu eigen macht, verengt sie sein bzw. ihr Blickfeld, reduziert sie die Möglichkeit eines ganzheitlichen pädagogischen Verstehens. An sich böte diese zweite Ausbildungsphase ebenso wie die Fortbildungsphase in der Zeit voll verantwortlicher Berufstätigkeit durch den Reichtum an pädagogischen Erfahrungsmöglichkeiten eine Fülle von Chancen, pädagogisches Verstehen zu kultivieren. Aber dazu wären andere Hilfen und Maßnahmen notwendig.

Zweitens: Die zweite Quelle von Anregungen zur Entwicklung pädagogischen Verstehens sind Kindheits- und Jugendbiographien bzw. autobiographische oder literarische Darstellungen, in denen Erfahrungswelten, Sichtweisen, Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen anschaulich und perspektivenreich geschildert werden, etwa Robert Musils "Zögling Törless", aber auch Falldarstellungen pädagogischer bzw. psychologischer oder psychotherapeutischer Art, die eine hohe literarische Darstellungsqualität oder mindestens große Anschaulichkeit aufweisen wie z. B. manche Kapitel aus Büchern Hans Zulligers [11] oder Virginia Axlines "Dibs " [12] oder Passagen aus Makarenkos "Pädagogischem Poem: Der Weg ins Leben " [13] .

Drittens: Eine weitere Quelle können vorliegende zeitgenössische Interviewstudien sein, die auf intensiven Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen beruhen, soweit solche Studien sich zu Fallstudien von hoher Anschaulichkeit verdichten . [14]

Viertens: Eine weitere, hilfreiche Form, Anstöße zur Entwicklung pädagogischen Verstehens zu geben, besteht darin, daß Studenten oder Referendare oder Lehrer in Lehrerfortbildungsveranstaltungen Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit und Jugend aufschreiben, sie wechselseitig vorlesen und sich darüber gesprächsweise austauschen. Es ist wichtig, daß man sich bei solchen Anregungen um die Schaffung einer Atmosphäre bemüht, die die Bereitschaft zum wechselseitigen Verstehen unter den Teilnehmern aufkommen läßt.

Ich gebe ein Beispiel aus dem Bereich eines Schulforschungsprojekts, in dem Forschung, schulnahe Curriculumentwicklung und Lehrerfortbildung eng miteinander verkoppelt wurden, also aus einem Vorhaben der Handlungsforschung: In dem von mir geleiteten Marburger Grundschulprojekt [15] haben Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen der Vorbereitung einer Unterrichtseinheit über ein deutsches Kinderbuch Erinnerungen an ihre eigenen kindlichen Leseerfahrungen und deren subjektive Bedeutung in längeren besinnlichen Gesprächen miteinander ausgetauscht, bevor sie die Planung jener Einheit in Angriff nahmen.

Daß die zuletzt genannten drei Formen in allen Phasen der Lehrerbildung eingesetzt werden können, bedarf keiner ausführlichen Erläuterung.


V. Schluß

Vielleicht habe ich mit meinen Ausführungen den Anschein erweckt, als ob ich den Aufgabenkomplex, den ich hier unter dem Begriff "Pädagogisches Verstehen" behandelt habe, als einen Gegenpol zum Prinzip der Wissenschaftlichkeit der Lehrerbildung verstünde. Das entspräche jedoch keineswegs meiner Auffassung. Eigentlich müßten wir in der Lehrerbildung m. E. auch eine theoretisch- systematische Hilfe zum pädagogischen Verstehen vermitteln, in der Form einer historisch-gesellschaftlich reflektierten pädagogischen Anthropologie der kindlichen und jugendlichen Persönlichkeitsentwicklung im Einflußfeld von Sozialisation und Erziehung. Aber ich meine, daß eine solche pädagogische Anthropologie jenen erfahrungs- und anschauungsgesättigten Zugang zum pädagogischen Verstehen voraussetzt, den ich hier darzustellen versuchte.


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Anmerkungen


[1] ) Vgl. meinen Beitrag "Perspektiven einer humanen und demokratischen Schule" in dem Band "Innere und äußere Schulreform", zusammengestellt von Ulf Schwänke, Hamburg 1989, S. 47 - 72.

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[2] ) Vgl. z. B. Arbeitsgruppe Schulforschung: Leistung und Versagen. Alltagstheorien von Schülern und Lehrern. München 1980. - H.-G. Beisenherz u. a.: Schule in der Kritik von Betroffenen. Weinheim 1982.

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[3] ) Vgl. z. B. W. Klett: Die Schulzeit in der Erinnerung großer Persönlichkeiten. Darmstadt 1961. - M. Reich-Ranicki (Hrsg.): Meine Schulzeit im Dritten Reich. Erinnerungen deutscher Schriftsteller. Köln 1982. - Themenschwerpunkt "Schulgeschichte(n) von der Kaiserzeit bis heute - Geschichte und Theorie der Schule in Erinnerungen", Zeitschrift "Pädagogik" 1989, H. 1, S. 6 - 44.

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[4] ) Vgl. z. B. G. - B. Reinert / S. Heyder: Der "gute" Lehrer: Impressionen zur Lehrerpersönlichkeit als tragender Determinante der Lehrer- Schüler-Beziehung. In: H. Gudjons / G.- B. Reinert (Hrsg.): Lehrer ohne Maske? Grundfragen zur Lehrerpersönlichkeit. Königstein/Ts. 1981, S. 101 - 116. - J. Gerstenmaier: Urteile von Schülern über Lehrer, Weinheim 1975.

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[5] ) Vgl. u. a. K. Hurrelmann: Schule als alltägliche Lebenswelt im Jugendalter. In: F. Schweitzer, H. Thiersch (Hrsg.): Jugendzeit - Schulzeit. Von den Schwierigkeiten, die Jugendliche und Schule miteinander haben. Weinheim 1983, S. 30 - 56. - Ders.: Schule wozu? Wie Jugendliche ihren wichtigsten Arbeitsplatz wahrnehmen. In: Pädagogische Beiträge 1988, H. 3, S. 33 - 41. - Ders., zus. mit B. Rosewitz und H. Wolf: Die Belastung von Jugendlichen durch die Schule. Bieten die gegenwärtigen Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarktbedingungen verbesserte Chancen der Persönlichkeitsentwicklung? In: Die Deutsche Schule 1984, H. 5, S. 381 - 391. - F. Bohnsack (Hrsg.): Sinnlosigkeit und Sinnperspektive. Die Bedeutung gewandelter Lebens- und Sinnstrukturen für die Schulkrise. Frankfurt/M. 1984.

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[6] ) Vgl. Karin Kleinespel: Schule als biografische Erfahrung. Die Laborschule im Urteil ihrer Absolventen. Weinheim/Basel 1990 (Studien zur Schulpädagogik und Didaktik Bd. 3).

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[7] ) Vgl. den Aufsatz "Exemplarisches Lehren und Lernen" in meinem Buch "Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik", 4., seit der 2. erweiterte Aufl. Weinheim 1991.

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[8] ) Vgl. M. Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch - Sokratisch - Exemplarisch. 9. Aufl. Weinheim 1991.

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[9] ) Vgl. Wagenscheins Beispiele aus dem Physik- und Mathematikunterricht in dem von Hans Christoph Berg herausgegebenen Band: Martin Wagenschein. Naturphänomene sehen und verstehen. Genetische Lehrgänge. Stuttgart 1980, Kapitel II: Die Kunst des genetischen Lehrens - Konzepte und Exempel, S. 89 - 342.

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[10] ) H. Bambach: Erfundene Geschichten erzählen es richtig. Lesen und Leben in der Grundschule. Konstanz 1989.

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[11] ) Hans Zulliger: Umgang mit dem kindlichen Gewissen. 2. Aufl. Stuttgart 1954. - Ders.: Helfen statt strafen. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1976.

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[12] ) Virginia M. Axline: Dibs. Die wunderbare Entfaltung eines menschlichen Wesens. 5. Aufl. Bern/München/Wien 1971

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[13] ) A. S. Makarenko: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Berlin 1985.

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[14] ) Vgl. z. B. Th. Heinze / H.-W. Klusemann: Ein biographisches Interview als Zugang zu einer Bildungsgeschichte. In: D. Baacke / Th. Schulze (Hrsg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München 1979, S. 182 - 225. - U. Steffens: Michaela: Wie Schüler mit Lernproblemen ihre Gesamtschule erleben. In: Die Deutsche Schule 1984, S. 134 - 157.

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[15] ) Vgl. dazu W. Klafki und Koautoren: Schulnahe Curriculumentwicklung und Handlungsforschung. Weinheim 1982, S. 147 f.

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