Klafki, Wolfgang: Selbsttätigkeit als Grundprinzip des Lernens in der Schule - Wiederaufnahme und Weiterentwicklung einer reformpädagogischen Idee und ihre Verwirklichung in der Schule. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k08.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Selbsttätigkeit als Grundprinzip des Lernens in der Schule - Wiederaufnahme und Weiterentwicklung einer reformpädagogischen Idee und ihre Verwirklichung in der Schule. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 111-134.


Wolfgang Klafki

Selbsttätigkeit als Grundprinzip des Lernens in der Schule - Wiederaufnahme und Weiterentwicklung einer reformpädagogischen Idee und ihre Verwirklichung in der Schule


1. Zur Erläuterung des Themas

Selbsttätigkeit oder Eigentätigkeit als generelles Prinzip der Erziehung und als Prinzip des Unterrichts in der Schule, das war eine der zentralen Leitideen der internationalen pädagogischen Reformbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Beginn unseres Jahrhunderts. [1] In den einzelnen Richtungen und bei verschiedenen Vertretern der Reformbewegung wird der Begriff "Selbsttätigkeit", den ich im folgenden synonym mit "Eigentätigkeit" verwenden werde, in etlichen Varianten ausgelegt, enger oder weiter gefaßt: also z. B. vorwiegend auf die kognitive Entwicklung und Förderung der Kinder und Jugendlichen bezogen oder auch auf die praktische, die ästhetische und die moralisch-soziale Erziehung; vorwiegend auf die selbständige Aneignung von Lernverfahren orientiert oder darüber hinaus auch auf die zunehmend selbständigere Entscheidung der Schüler über Ziele und Inhalte ihres Lernens. Das ließe sich zeigen, wenn man unter diesem Gesichtspunkt die verschiedenen Richtungen der internationalen Reformbewegung miteinander vergleichen würde: etwa die "progressive education" John Deweys und die Pädagogik Maria Montessoris, die Konzeption der Kunsterziehungsbewegung in verschiedenen Ländern, Varianten der deutschen Arbeitsschulbewegung von Kerschensteiner bis zu Gaudig, die frühsowjetische Produktionsschulkonzeption, die Elastische Einheitsschule der deutschen "Entschiedenen Schulreformer" und die französische Freinet-Bewegung, Peter Petersens Gemeinschaftsschulkonzept in seinem sogenannten "Jena-Plan", vergleichbare Ansätze in Japan, z. B. in Kunioshi Obaras Tamagawa-Schulkomplex, die Entwicklungspädagogik des Brasilianers Paolo Freire oder das radikale Entschulungskonzept des Mexikaners Ivan Illich. Aber bei allen Unterschieden bleibt doch ein gemeinsamer Kern.

Ich kann jedoch auf die historische Entwicklung der pädagogischen Idee, der junge Mensch müsse im Erziehungsprozeß durch Selbsttätigkeit zur Selbsttätigkeit befähigt werden, und ihre zahlreichen Varianten hier nicht ausführlich eingehen. Wollte ich es tun, so müßte der Gesichtskreis auch weit über die reformpädagogischen Bestrebungen der letzten rund 100 Jahre hinaus nach rückwärts ausgedehnt werden, z. B. bis zum antiken Sokrates zurück, mindestens aber bis ins 18. und 19. Jahrhundert: Rousseau und Pestalozzi, Schleiermacher, Fröbel und weitere Klassiker der Pädagogik müßten zur Sprache kommen. Ich muß mich jedoch auf die Gegenwart konzentrieren, und hier wiederum in systematischer Betrachtung, ohne einzelne zeitgenössische Autoren oder Bewegungen genauer charakterisieren zu können.


2. Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit

Meine Ausgangsthese lautet: Wenn man anerkennt, daß eines der allgemeinen Ziele einer humanen und demokratischen Erziehung unter den Bedingungen unserer historischen Epoche die Befähigung des jungen Menschen, sich selbst bestimmen zu können, abgekürzt also: Befähigung zur Selbstbestimmung sein muß, dann muß man zugleich Selbsttätigkeit als notwendiges pädagogisches Prinzip anerkennen. Dabei muß betont werden, daß "Selbstbestimmung" nicht subjektivistisch als Rechtfertigung individueller Willkür verstanden werden darf, sondern immer unter dem Gesichtspunkt der verantwortlichen Bezogenheit des einzelnen Menschen auf seine Mitmenschen, auf Kultur, Gesellschaft und Politik.

Selbstbestimmung meint die Fähigkeit eines Menschen, über seine individuellen, persönlichen Angelegenheiten, seine menschlichen Beziehungen und seine Überzeugungen aufgrund eigener Einsicht und nach eigenem Urteil entscheiden zu können: zum Beispiel über den Beruf, den er wählt, über persönliche Beziehungen zu anderen Menschen, nicht zuletzt über die Wahl seines Lebenspartners; weiterhin über seine moralischen und religiösen Überzeugungen, über das, was er ästhetisch schön findet, wie er seine Freizeit gestaltet, wofür er sich politisch entscheidet.

Man erkennt sicherlich sogleich, daß es sich dabei um eine sehr anspruchsvolle und komplexe Fähigkeit handelt. Genauer muß man sagen: Es handelt sich um die individuelle Synthese einer Reihe von Teilfähigkeiten: z. B. der Fähigkeit, selbständig Einsichten (Erkenntnisse) gewinnen zu können; der Fähigkeit, sich eigene Urteile bilden zu können; der Fähigkeit, im Sinne der eigenen Einsichten und Urteile dann auch selbst handeln zu können. Eine dieser Teilfähigkeiten, die zur komplexen Selbstbestimmungsfähigkeit gehören, ist die Fähigkeit, selbständig zu lernen.

Nun ist das Lernen ja die wichtigste Tätigkeit des Kindes bzw. des jungen Menschen in der Schule. Wenn die Schule also dazu beitragen soll und will, daß der Schüler Anregungen und Hilfen zur Entwicklung der Selbstbestimmungsfähigkeit erhält, dann muß sie bei dieser Haupttätigkeit des Schülers ansetzen: Er soll in der Schule lernen, möglichst selbständig lernen zu können. In der deutschen Didaktik gebrauchen wir dafür oft die Formel: Der Schüler soll "das Lernen lernen". Er soll beim Lernen schrittweise immer mehr vom Lehrer unabhängig werden. Ein anderer Ausdruck für die gleiche Sache lautet: Er soll möglichst "selbstgesteuert" lernen. Schließlich finden sich auch Formulierungen folgender Art: Der Schüler soll zum Subjekt seines eigenen Lernens werden;er soll nicht als ein Objekt betrachtet und "behandelt" werden, das darauf angewiesen ist, vom Lehrer ständig belehrt und gelenkt zu werden.

Warum ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und in diesem Rahmen zum selbständigen Lernen ein so wichtiges Erziehungsziel? Damit komme ich zu einem dritten Abschnitt.


3. Fünf Gründe für die Bedeutung der Fähigkeit, selbständig lernen zu können.

Erstens: Wir leben heute in einer Zeit, in der wir alle und vor allem die heranwachsende Generation nicht mehr damit rechnen können, daß das, was man einmal in der Schulzeit gelernt hat, ausreicht, um ein ganzes Leben lang damit auszukommen. Die Entwicklung der Technik, der Wirtschaft, der Wissenschaften schreitet schnell voran, und damit verändern sich unsere Lebensverhältnisse, die Anforderungen in den Berufen, aber auch die Lebensbedingungen außerhalb des Berufes. Immer wieder trifft man etwa auf folgende Informationen: Mindestens in den Naturwissenschaften und in technischen, angewandten Wissenschaften sind jeweils im Lauf von 10 Jahren etwa 50 % oder mehr der Erkenntnisse, die man am Anfang dieser Zeitspanne gewonnen hatte, am Ende eines solchen Jahrzehnts teilweise oder ganz veraltet, durch neue Erkenntnisse weitgehend verändert oder ersetzt. - Auch die Verhältnisse in der Gesellschaft und der Politik, in den internationalen Beziehungen, in der Kultur ändern sich in einem früher nicht gekannten Ausmaß. Und zwar bringen diese schnellen Veränderungen fast immer zwei Möglichkeiten zugleich hervor: neue Chancen zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen, aber auch neue Gefahren.

Daraus folgt: Wenn wir alle und vor allem, wenn die Angehörigen der heranwachsenden Generation nicht nur Objekte solcher Veränderungen sein wollen und sein sollen, Menschen, die gar nicht verstehen, was sich da verändert, warum es sich verändert und welche Bedeutung die Veränderungen für das Leben der Menschen haben, sondern wenn man die Veränderungen verstehen will, darüber ein eigenes Urteil gewinnen und auch darüber mitbestimmen will, in welche Richtung sich die Veränderungen vollziehen sollen und in welche nicht, dann muß man dazu fähig sein, auch nach der Kindheit und Jugendzeit immer wieder hinzuzulernen und neu zu lernen. "Lebenslanges Lernen" ist notwendig, so sagen wir in Deutschland; "life-long-learning" sagen die Engländer und Amerikaner, "éducation permanent" die Franzosen. Gewiß haben Sie als Japaner einen entsprechenden Begriff dafür.

Wenn diese Konsequenzen in besonderem Maße für die heute und in Zukunft heranwachsenden Kinder und Jugendlichen gelten, dann müssen wir ihnen helfen, daß sie die Fähigkeit zum möglichst selbständigen "lebenslangen Lernen" in der Schule und durch die Schule gewinnen.

Zweitens: Es gibt eine weitere Begründung für die Erziehung zum selbständigen Lernen. Sie würde meiner Meinung nach sogar schon allein ausreichen, um die Forderung nach Selbständigkeit zu rechtfertigen, auch wenn es nicht die schnellen wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Entwicklungen geben würde, die ich eben hervorgehoben habe. Man kann nämlich sagen, daß die Fähigkeit zum selbständigen, selbsttätigen Lernen zu einer reich entwickelten Persönlichkeit gehört, zur Freiheit des Menschen, sich ein Leben lang weiter zu entfalten, seine Möglichkeiten auszuschöpfen.

Drittens: Im Grunde ist alles spezifisch menschliche Lernen im Unterschied zum Lernen der Tiere so angelegt, daß es Momente der individuellen Selbständigkeit enthält. Menschliches Lernen ist nicht nur ein Prozeß der Anpassung an feststehende Lebensbedingungen, um überleben zu können; und es ist nicht nur ein Prozeß des Nachahmens von Verhaltensweisen, die andere einem vormachen. Vielmehr ist es ein Prozeß der aktiven Auseinandersetzung, den schon das kleine Kind in irgendeinem Grade selbsttätig, selbständig vollzieht. Und darin steckt von Anfang an die Möglichkeit, die Bedingungen des Lernens und das, was man lernt, zu verändern, umzugestalten. Erwachsene können dem Kind keine einzige Erkenntnis und keine einzige Fähigkeit wie ein fertiges Produkt oder eine fertige Technik "übergeben" oder "einpflanzen". Sie können den Kindern, wenn sie sie nicht nur dressieren wollen, nur dabei helfen, daß die jungen Menschen sich Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten selbsttätig aneignen. Derjenige, der sinnvoll lernt, übernimmt nicht einfach die Erkenntnisse und Fähigkeiten, die andere schon haben, sondern er muß solche Erkenntnisse und Fähigkeiten zwar mit Hilfe anderer, aber letzten Endes doch durch eigene Aktivitäten bei sich selbst hervorbringen. Was "objektiv", bei anderen schon entwickelt ist, muß der Lernende subjektiv, für sich selbst neu entwickeln.

Viertens: Ich nenne noch ein weiteres, ein psychologisches Argument: Jedes Kind, und zwar schon das ganz kleine Kind, will selbständig, selbsttätig lernen, will immer selbständiger werden. Es lernt gern aus eigenem Antrieb. Und wenn es dabei häufig noch Hilfe braucht, so möchte es meistens doch nicht, daß ihm die Größeren bzw. die Erwachsenen die Anstrengung des Lernens abnehmen, ihm einfach vormachen, "wie es gemacht wird". Vielmehr möchte es, daß sie ihm helfen, es selbst zu schaffen: Kinder wollen selbst laufen, selbst klettern, selbst mit dem Dreirad oder dem Fahrrad fahren. Sie wollen selbst ausprobieren, was man mit Materialien - mit Holz, Papier, Steinen, Wasser, Sand usw. usw. - machen kann. Kinder fragen von sich aus, beobachten von sich aus, spielen von sich aus usw.

Das alles ist nicht neu, und man kann diese Hinweise schon bei vielen klassischen Autoren der Pädagogik und der Psychologie finden. Ebensooft ist aber mit Recht betont worden, daß die Schule diese Beobachtungen, die auch jeder Laie an Kindern bzw. jungen Menschen machen kann, vielfach ignoriert und daß sie die Kinder häufig dazu zwingt, vorwiegend rezeptiv zu lernen. Aber mehr noch: Die Schule treibt den Kindern den Antrieb, die Motivation und den Mut, selbständig, selbsttätig lernen zu wollen, häufig aus. Sie führt nicht selten dazu, daß Kinder die Motivation und die Ansätze zum selbsttätigen Lernen, die sie in den ersten Kindheitsjahren schon entwickelt hatten, nun wieder verlernen.

Fünftens: Das fünfte Argument ist im Vorangehenden schon angeklungen. Eine demokratische politische Verfassung und eine demokratisch gestaltete bzw. sich demokratisierende Gesellschaft sind auf die Mitwirkung möglichst vieler Menschen, im Prinzip: aller Menschen der betreffenden Gesellschaft angewiesen, und zwar einer Mitwirkung aus eigener Einsicht, nach eigenem Urteil, in eigenverantwortlichem Handeln. M. a. W.: Die politische Reife einer Gesellschaft hängt davon ab, wie groß oder gering nach Quantität und Qualität die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Selbständigkeit, die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit unter den Menschen dieser Gesellschaft entwickelt ist. Erziehung durch Selbsttätigkeit zur Selbsttätigkeit enthält also immer auch eine politische Komponente.

Ich fasse das Ergebnis dieses Abschnitts in zwei Thesen zusammen:

  1. Die Fähigkeit zu selbständigem Lernen ist ein notwendiger Aspekt der Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen als eines allgemeinen Erziehungsziels. Wenn das Lernen in der Schule einen Beitrag zur Entwicklung eigener Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des aufwachsenden Menschen leisten will, dann müssen nicht nur die Inhalte, die der junge Mensch sich in der Schule aneignen und mit denen er sich auseinandersetzen soll, unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt werden, sondern es müssen auch die Lernprozesse entsprechend gestaltet werden: Der Schüler muß im Lernprozeß also die Erfahrung machen können, daß er zunehmend selbständiger, d. h. urteilsfähiger, entscheidungsfähiger und handlungsfähiger wird. Das ist nur durch selbsttätiges Lernen möglich.

  2. Diese Fähigkeit muß und kann vom Beginn der Schulzeit an (genauer: schon in der Vorschulzeit) angebahnt werden, nicht erst in höheren Schulstufen. Denn wenn Kinder sich in den ersten Schuljahren angewöhnt haben, immer nur oder vorwiegend auf Anweisung des Lehrers und unter seiner ständigen, direkten Kontrolle zu lernen, dann ist es später schwer, ihnen ein anderes Verständnis vom Lernen in der Schule zu vermitteln.


    4. Kinder lernen unterschiedlich, und deshalb muß es im Unterricht Phasen innerer Differenzierung geben

    Einzelne Kinder oder Teilgruppen von Kindern lernen unterschiedlich. Sie vollziehen daher auch das Lernen des selbständigen Lernens mindestens z. T. in unterschiedlicher Weise. Deshalb muß es im Unterricht Phasen innerer Differenzierung [2] geben.

    Die Erkenntnis, daß Kinder unterschiedlich lernen, ist gewiß keine besonders neue, revolutionäre Einsicht. Jeder Lehrer oder auch jeder andere Erwachsene, der mit mehreren Kindern zu tun hat, weiß das:


    Die Beispiele können genügen. Eigentlich liegt die Konsequenz aus dem Tatbestand, den die Beispiele zeigen sollen, nun schon klar auf der Hand. Ich formuliere sie zunächst negativ: Gerade, wenn Unterricht zur Entwicklung der selbständigen Lernfähigkeit beitragen soll, dann darf er nicht durchgehend so organisiert sein, das alle Kinder einer Klasse ständig unter direkter Leitung des Lehrers zur gleichen Zeit immer die gleichen Aufgaben in der gleichen Weise und im gleichen Lerntempo bearbeiten sollen. Positiv ausgedrückt bedeutet das: Der vom Lehrer geleitete Unterricht, bei dem alle Kinder einer Klasse sich zur gleichen Zeit mit dem gleichen Thema beschäftigen, muß ergänzt werden durch Phasen eines Unterrichts mit innerer Differenzierung (Binnendifferenzierung), der die Unterschiede beim Lernen der Schüler berücksichtigt. Wohlgemerkt: Unterricht im Sinne innerer Differenzierung soll und kann den direkt vom Lehrer geleiteten Unterricht nicht vollständig ersetzen, sondern er soll ihn ergänzen. Das heißt umgekehrt aber auch: Er soll die Alleinherrschaft des vom Lehrer direkt geleiteten Unterrichts erheblich einschränken. - Hier muß ich noch ein Mißverständnis abwehren: Meine Bemerkungen sind nicht so zu verstehen, daß in dem Teil des Unterrichts, der vom Lehrer direkt geleitet wird, nicht auch selbsttätiges Lernen angeregt werden kann und soll und möglich ist. Aber über diesen Aspekt selbsttätigen Lernens werde ich in diesem Beitrag nicht ausführlicher sprechen.

    Innere Differenzierung bedeutet also: Unterricht wird zeitweilig so organisiert, daß die Schülerinnen und Schüler einer Klasse, normalerweise unter Betreuung einer Lehrkraft


    Nun kann ich in diesem Vortrag nicht den gesamten Komplex innerer Differenzierung erörtern. Vielmehr möchte ich in den folgenden Abschnitten an zwei Beispielen verdeutlichen, wie selbsttätiges Lernen in der Schule angeregt und praktiziert werden kann.


    5. Zwei Beispiele für Unterricht, der zu selbsttätigem Lernen anregt

    Im ersten Beispiel werde ich eine von mehreren Grundformen der Unterrichtsgestaltung vorstellen, die dem Ziel dienen sollen, zu selbsttätigem Lernen durch innere Differenzierung anzuregen. Es stammt aus dem Bereich der Grundschule; in Deutschland umfaßt die Grundschule im allgemeinen nur vier Jahre. Die in meinem Beispiel dargestellte Unterrichtsform wird in Deutschland bzw. in der bisherigen Bundesrepublik meistens "Wochenplan-Unterricht" genannt , [3] bisweilen auch "Freie Arbeit". Aber der Ausdruck "Freie Arbeit" ist eigentlich, wie sich gleich zeigen wird, zu anspruchsvoll.

    Das zweite Beispiel stammt aus einem 9. Schuljahr, also aus dem Unterricht mit 14- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern.


    5.1. "Wochenplan-Unterricht" - eine Unterrichtsform zur Förderung selbständigen Lernens durch innere Differenzierung

    Diese Unterrichtsform ist in den letzten zwei Jahrzehnten in einer Reihe von offiziellen und inoffiziellen Schulversuchen zur Grundschulreform entwickelt worden. Sie bildete auch eines der Innovationselemente, die in einem von mir geleiteten Handlungsforschungsprojekt, dem "Marburger Grundschulprojekt", in Kooperation eines Forschungsteams mit mehreren Lehrergruppen erarbeitet, erprobt und evaluiert wurde. [4] Wochenplan- Unterricht findet in den letzten Jahren zunehmende Verbreitung, z. T. auch über die Grundschule hinaus, nämlich in Förder- bzw. Orientierungsstufen oder in Integrierten Gesamtschulen (Comprehensive Schools), also in Schulformen, in denen alle Schüler auch über das 4. Schuljahr hinaus gemeinsam unterrichtet werden.

    Der Begriff "Wochenplan-Unterricht" hat leider eine Schwäche. Er kann nämlich mit dem gesamten Stundenplan einer Klasse für eine Woche verwechselt werden. Er ist jedoch in einem engeren Sinne gemeint. Dieser Unterricht umfaßt nur einen Teil des gesamten Unterrichts, den eine Klasse im Laufe einer Woche erhält. In dem vorher genannten Marburger Grundschulprojekt arbeiteten die Lehrerinnen und Lehrer, die an dem Projekt teilnahmen, in ihren Klassen in unterschiedlichem Ausmaß im Sinne dieser Organisationsform des Unterrichts: einige nur etwa 3 Stunden in der Woche (von insgesamt 18 bis 25 Wochenstunden im 1. bis 4. Schuljahr), andere bis zu 10 Stunden pro Woche.

    Ich gebe ein Beispiel: Der Stundenplan einer 4. Klasse, in der "Wochenplan-Unterricht" durchgeführt wird, kann bei Halbtagsunterricht z. B. folgendermaßen aussehen:


    Beispiel: Stundenplan eines 4. Schuljahres (Halbtagsunterricht) mit "Wochenplanunterricht"

    Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
    1. Stunde Wochenanfangskreis xxx xxx xxx xxx
    2. Stunde xxx +++ +++ xxx +++
    3. Stunde +++ +++ +++ +++ +++
    4. Stunde +++ +++ +++ +++ xxx
    5. Stunde +++ (frei) +++ (frei) Wochenschlußkreis


    xxx = Wochenplan-Unterricht
    +++ = Übriger Unterricht


    Um den "Wochenplan-Unterricht" genauer kennzeichnen und in den Gesamtzusammenhang des Grundschulunterrichts einordnen, d. h. seine Möglichkeiten und seine Grenzen verdeutlichen zu können, muß ich hier eine Zwischenüberlegung einschalten, die den gesamten Unterricht dieser und weiterer Schulstufen betrifft.

    Quer durch alle Bereiche des Unterrichts hindurch kann man drei Hauptaufgaben unterscheiden:

    Erstens: In allen Unterrichtsbereichen bzw. Unterrichtsfächern müssen Lehrer in bestimmten Abständen in neue Erkenntniszusammenhänge, neue Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Kinder erlernen sollen, einführen: z. B. in eine Grundregel der Rechtschreibung, die den Kindern bewußt gemacht werden muß; in den Unterschied zwischen einer fantasievollen Erlebniserzählung und einer möglichst genauen Beschreibung eines Vorganges; in neue Rechenverfahren; in das Verständnis von Grundbegriffen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts, z. B. die Begriffe "Steuern" oder "Behörden", wenn es darum geht zu verstehen, woher eigentlich das Geld für die öffentlichen Ausgaben in einer Gemeinde, für den Verkehr, die Schulen usw. kommt und wer für die Durchführung solcher öffentlichen Aufgaben verantwortlich ist; weiter in das Verständnis geografischer Karten oder einer Zeitleiste als Hilfe für die Entwicklung des historischen Zeitbewußtseins usf.

    Zweitens: Solche Neueinführungen müssen dann aber immer wieder durch viele Übungen, Wiederholungen, Anwendungsaufgaben ergänzt werden. Die Kinder müssen sich also das neu Erlernte verfügbar machen, es sich einprägen, darin sicher werden, es in der Übertragung, der Anwendung auf ähnliche Aufgaben immer wieder neu erproben.

    Drittens: Über die beiden genannten Aufgaben hinaus sollte guter Unterricht schließlich freie Lernaktivitäten der Schüler ermöglichen, die nicht für alle verbindlich sind, sondern vom einzelnen nach Interesse und nach vorhandenem Spielraum über die obligatorischen Aufgaben hinaus wahrgenommen werden können.

    Die didaktische Funktion des Wochenplan-Unterrichts erstreckt sich vor allem auf die beiden zuletzt genannten Aufgaben, in geringerem Umfang auch auf den ersten Aufgabenbereich. Der Wochenplan enthält also Aufgaben


    Die Durchführung des Wochenplan-Unterrichts hat drei Voraussetzungen:

    1. Eine Lehrerin bzw. ein Lehrer muß in der betreffenden Klasse mehrere Fächer bzw. Fachbereiche unterrichten, also etwa den muttersprachlichen Unterricht, den Sachunterricht mit seinen beiden Hauptbereichen, dem naturwissenschaftlich-technischen und dem sozialwissenschaftlichen Teil, den Rechenunterricht und den Kunstunterricht oder mindestens einige dieser Fächer. In die Unterrichtsstunden, in denen Wochenplan-Unterricht stattfindet, gehen Teilelemente aus mehreren Unterrichtsfächern ein.

    2. Tische und Stühle müssen beweglich sein, also das Umstellen ermöglichen.

    3. Es müssen Arbeitsmittel - Bücher, Lernmittel, Übungskarteien, Spiele, verschiedene Materialien zum Bauen, Experimentieren, Basteln usw. - vorhanden sein oder von den Lehrern erarbeitet werden, ggf. zusammen mit den Schülern.

    Im folgenden skizziere ich kurz die wichtigsten Merkmale eines "Wochenplans" und der Durchführung des Wochenplan-Unterrichts. Manche dieser Merkmale sind schon angedeutet worden.

    1. An jedem Tag der Woche oder an einigen Wochentagen ist also eine feste Zeit - z. B. 45 Minuten täglich oder auch mehr oder weniger - für diesen Teil des Unterrichts vorgesehen.

    2. Eine Lehrerin oder ein Lehrer kann damit anfangen, einen solchen Unterricht zunächst nur für Teile eines Schulfaches einzuführen, z. B. im Bereich des muttersprachlichen Unterrichts nur für den Teilbereich der "Rechtschreibung" oder der "Grammatik" oder analog im Hinblick auf andere Unterrichtsfächer. Zweckmäßiger ist es aber, mindestens allmählich die für diese Arbeitsform geeigneten Aufgaben mehrerer Fächer zusammenzufassen.

    3. In der ersten Zeit der Einführung dieser Unterrichtsform legt die Lehrerin oder der Lehrer am Montag jeder Woche im Wochenanfangskreis (oder am Ende der vorangehenden Woche) den Plan für diesen Teil des Unterrichts fest. Allmählich geschieht das immer mehr unter Mitwirkung der Kinder. In einem solchen Plan können dann z. B. folgende Aufgaben benannt werden:


    Nun zum 4. Merkmal: Ein solcher Katalog von Aufgaben, wie ich ihn unter Punkt 3 skizzierte, ist gewöhnlich in drei Hauptbereiche aufgegliedert:


    Das Blatt enthält


    Unten auf dem Blatt sind die Tage der Woche durch Kästchen markiert; die Kinder streichen dann die jeweiligen Tage durch. Jedes Kind heftet den Plan an eine Leiste an der Klassenwand oder an seinen Platz und sammelt die bearbeiteten Arbeitsblätter später in einer Mappe.

    5. Jedes Kind erhält ein vervielfältigtes Blatt des Wochenplans.

    Sie sehen hier ein Beispiel:

    Beispiel eines Wochenplans (8 Stunden): Wochenplan für Klasse 4 vom 16.03. bis zum 20.03.
    Name: Maria Klein

    Wann angefangen? Hilf mir! Kontrolliert Fertig wann?

    I. Deutsch

    Schreiben:
    1. Suche Dir einen Partner. Diktiert Euch die Geschichte aus dem Sprachbuch, S. 24. Kontrolliert gemeinsam!
    2. Schreibe die (für Dich) schweren Wörter in Deine Rechtschreibkartei. Bilde mit jedem schweren Wort 3 Sätze.
    3. Wir haben vor einigen Tagen vom Telefonieren gesprochen. Denke Dir (wenn Du willst mit einem Partner) ein Telefongespräch zwischen zwei Freunden/Freundinnen aus. (Sie wollen sich verabreden. Oder: Es ist etwas Besonderes passiert. Oder: ...??) Schreibe/schreibt das Telefo- nat als Zwiegespräch auf. Zusatz: Geht in eine Ecke und spielt ein Telefongespräch mit unseren Spieltelefonen.

    Lesen/Soziale Studien
    Suche Dir eine Geschichte aus dem Lesebuch, Abschnitt "Freundschaft und Streit", oder aus den Büchern der Klassenbücherei Nr. 7, 9 oder 10 aus. - Wenn Du in den letzten 2 Wochen nicht an der Reihe warst: Bereite Dich auf das Vorlesen vor! Hole mich! Zusatz: Schreibe eine Geschichte/ein Erlebnis zum Thema "Freundschaft" oder "Streit" oder "Freundschaft und Streit". Wenn Du willst: Bereite Dich auf das Vorlesen vor!

    II. Rechnen:
    Rechenbuch, Aufgabe S. 14/15. nr. 1 - 10, 12, 14, 16 Zusatz: Nr. 11, 13, 15, 17 - 22. Und/oder: Denke Dir selbst ähnliche Sachaufgaben aus und löse sie. Wiederholung: Rechenkartei, Blatt 9 und 10

    III. Sachunterricht:
    In der nächsten Woche wollen wir mit dem Thema "Handwerker früher und heute" beginnen. Sieh Dir allein oder mit anderen zusammen die beiden großen Wandbilder, die ich aufgehängt habe, genau an. Was erkennst Du/erkennt Ihr auf jedem Bild? Vergleiche/vergleicht die Bilder! Was ist gleich oder ähnlich? Was ist unterschiedlich? Was verstehst Du/versteht Ihr nicht? Welche Fragen hast Du/habt Ihr? Sprecht über die Bilder. Schreibe/schreibt Stichworte und Fragen auf.

    IV. Freie Möglichkeiten:
    Die kennst Du ja schon. Aber: In der Klassenbücherei sind zwei neue Bücher und im Spielregal zwei neue Spiele!

    . . . .


    6. Die Kinder können jeweils selbständig über folgende Aspekte entscheiden:


    7. Jedes Kind ist verpflichtet, an jedem Tag kurz zu notieren, was es an dem betreffenden Tag in der Wochenarbeitsstunde gemacht hat. Wenn es seine Arbeit abgeschlossen hat, soll es sie selbständig - z. B. mit Hilfe von Kontrollblättern für Rechtschreibung, Rechnen usw. - kontrollieren oder von einem anderen Kind oder durch den Lehrer kontrollieren lassen und ggf. die Berichtigung machen. Die Kontrolle wird in der betreffenden Spalte des Wochenplans abgezeichnet.

    8. Am Ende der Woche wird gemeinsam in der Klasse oder einzeln im Gespräch mit dem Lehrer eine Rückschau gehalten: Was habe ich geschafft? Wer hatte an welcher Stelle Schwierigkeiten? Wie können wir da helfen? Was war in dem Wochenplan vom Lehrer unklar formuliert worden? Waren es zu viele oder zu wenige Aufgaben? usw.

    9. Die Lehrerin oder der Lehrer hat während der Wochenarbeitsstunden mehrere Aufgaben, die sie oder er variabel wahrnehmen muß:


    Was läßt sich über bisherige Ergebnisse des Wochenplan-Unterrichts sagen? Die Beobachtungen im Marburger Grundschulprojekt und etliche Berichte von anderen Lehrerinnen und Lehrern, die mit dem Wochenplan gearbeitet haben bzw. arbeiten, ergeben folgende Hauptresultate:

    Die meisten Kinder arbeiten gern, z. T. begeistert in dieser Arbeitsform. Die Lernergebnisse sind meistens besser als bei herkömmlichem Unterricht. Vor allem gehen sie in mehrfacher Hinsicht, dem Ziel dieses Unterrichtskonzepts entsprechend, über das hinaus, was normalerweise in traditionellem Unterricht gelernt werden kann. Die Kinder lernen in ersten Schritten, ihre Lernprozesse im Rahmen gewisser Vorgaben zu planen; dabei können sie allmählich ihren eigenen Lernstil finden, ihre Stärken und Schwächen abschätzen. Sie lernen, ihre Zeit einzuteilen und sich über eigene Interessen klarzuwerden. Sie lernen schrittweise, ihre eigenen Lernprozesse zu kontrollieren und sich darüber Rechenschaft abzugeben. - Damit das möglich ist, muß dieser Unterricht auch den Raum für begrenzte Risiken und immer wieder auch für Mißerfolge freizugeben. Es muß also immer wieder möglich sein, daß Kinder erfahren, daß sie sich z. B. falsch eingeschätzt haben, daß sie am Ende einer Woche vielleicht die verbindlichen Aufgaben nicht geschafft haben, sich zuviel Zeit für freie Betätigungen gelassen haben. Das darf nicht bestraft werden, aber es soll sachgemäße Konsequenzen haben: Man muß das Versäumte dann in der folgenden Woche im Wochenplan-Unterricht nachholen, und man hat dann weniger oder gar keine Zeit für freiwillige Tätigkeiten.

    Die Lehrerinnen und Lehrer, die diese Unterichtsform erprobt haben, beurteilen sie mindestens nach einer gewissen Einarbeitungszeit als pädagogisch sinnvoller und angenehmer, weil sie weitaus mehr auf einzelne Schüler eingehen können als im üblichen Unterricht, weil sie den Schülern häufiger positive Rückmeldungen geben können und weil sie sie als Individuen besser kennenlernen können.


    5.2. Selbsttätigkeit und Schülermitbestimmung in der Schule - ein Beispiel aus der Sekundarstufe I

    Ich komme nun zum zweiten Beispiel. Es stammt aus dem Deutschunterricht einer 9. Klasse einer Integrierten Gesamtschule. Deutsch gehört in dieser Schulform, meistens vom 6. oder 7. Schuljahr an, zu den Fächern, bei denen die Schülerinnen und Schüler in Niveaukurse eingeteilt werden, wobei im Halbjahresturnus je nach der Leistungsentwicklung ein Wechsel der Kursstufen möglich ist. Meistens werden drei Kursstufen eingerichtet, A, B und C. Der Unterricht, den ich schildern will, fand in einem A-Kurs statt, d. h. in der anspruchsvollsten Kursstufe. Verglichen mit Schulen des dreigliedrigen Systems entspricht sie etwa dem Niveau herkömmlicher Gymnasien. Jedoch ist zu betonen: Die Prinzipien, an denen sich die Lehrerin orientierte, in deren Kurs ich in der betreffenden Stunde hospitieren konnte, lassen sich erstens auch auf andere, niedrigere oder höhere Klassenstufen und zweitens auch auf Kurse mit geringerem Anspruchsniveau übertragen.

    Im Zusammenhang dieses Beitrags kann ich nur die Hauptlinien der betreffenden Unterrichtsstunde schildern, sie aber nicht ausführlicher didaktisch kommentieren. Ich hoffe aber, daß auch ohne Erläuterungen erkennbar werden wird, inwiefern es sich um ein Beispiel für einen Unterricht handelt, der u.a. am Grundsatz des selbsttätigen Lernens orientiert ist. Und zwar geht es in diesem Unterricht darum, daß die einzelnen Schülerinnen oder Schüler das, was sie sich individuell erarbeitet haben, in die ganze Klasse einbringen und dort zur Diskussion stellen; Diskussion ist ja eine weitere, und zwar eine kommunikative Form der selbsttätigen Erarbeitung und Verarbeitung.

    Die Unterrichtsstunde gehört in den größeren Zusammenhang einer mehrwöchigen Unterrichtssequenz zum Thema "Referat und Protokoll" als zwei Grundformen der selbständigen Erarbeitung, Darstellung und Verarbeitung von Informationen und Problemen.

    Das Thema "Referieren und Protokollieren" war in diesem Kurs seit etwa 3 bis 4 Wochen bearbeitet worden. Am Anfang hatte die gemeinsame Beschäftigung mit Aktivitäten der internationalen Umweltschutzorganisation Greenpeace gestanden. Die Schülerinnen und Schüler hatten kleine Referate gehalten und Protokolle geführt, und an diesen Beispielen waren generelle Gesichtspunkte gewonnen worden, wie man ein Referat ausarbeitet und welche Formen der Darbietung man wählten kann, wie man Referate und Diskussionen protokolliert und worauf es bei der schriftlichen Ausarbeitung eines Protokolls ankommt. Nach dieser Einführungsphase hatte die Lehrerin mit der Klasse besprochen, in welcher Weise nun diese beiden Arbeitsformen weiterbehandelt werden sollten. Sie hatte von den Schülerinnen und Schülern Vorschläge darüber eingeholt, welche Themen für neue Referate sie interessieren würden, und sie hatte zusätzlich eigene Vorschläge eingebracht. Als mögliche Bereiche, innerhalb derer jeder Schüler ein Thema, das ihn individuell interessierte, wählen konnte, wurden, ohne Vollständigkeitsanspruch, folgende genannt:


    Jeder Schüler hatte sich aus diesem Spektrum, das er individuell ergänzen konnte, für sein eigenes Referat ein Thema ausgesucht und für die Ausarbeitung zwei oder drei Wochen Zeit gehabt.

    Die Stunde, an der ich mit einem weiteren Hospitanten teilnehmen konnte, war einem Schülerreferat und der Aussprache darüber gewidmet. Ich zeichne nun ein kurzes Porträt der Stunde.

    Die Lehrerin - ich nenne sie hier: Frau Sommer -, der andere Hospitant und ich treten zusammen mit mehreren Schülerinnen in die Klasse ein. Von Anfang an hat man den Eindruck, daß hier eine sehr ungezwungene, freundliche Atmosphäre herrscht. Die Tische und Stühle sind in einem Rechteck angeordnet. In der Mitte der einen Seite des Rechtecks sitzt bereits eine 14- oder 15-jährige Schülerin, die Referentin dieser Stunde; sie heißt Ina. Frau Sommer und wir Hospitanten nehmen neben Schülern an einem der Tische an einer Seitenfront Platz. Frau Sommer begrüßt die Klasse unkompliziert und freundlich im Sitzen. Sie fordert den anderen hospitierenden Kollegen und mich auf, uns kurz vorzustellen, und wir tun das. Dann ergreift sie selbst das Wort, indem sie einigen Schülern, die in der letzten Sitzung protokolliert hatten, die von ihr durchgesehenen Protokolle zurückgibt. Ich kann einen Blick auf diese Protokolle werfen und sehe, wie gründlich Frau Sommer sie durchgearbeitet und mit Anmerkungen versehen hat. Frau Sommer empfiehlt den Schülerinnen und Schülern, die noch Schwierigkeiten hätten, in der jetzt anstehenden Stunde zusätzlich zu den bereits früher bestimmten Protokollanten zu protokollieren.

    Ina, die Referentin, sitzt während der ganzen Zeit locker und freundlich da und beobachtet ihr "Publikum". Ihre Miene zeigt ein wenig Anspannung. Aber sie ist im übrigen ganz gelassen und vermittelt den Eindruck, daß man in diesem Kurs keine Angst zu haben brauche. Weder in dieser Anfangsphase noch später habe ich das Gefühl, daß sie irgendwann von seiten der Lehrerin oder ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler Widerstand oder Skepsis, Konkurrenz oder unsachliche Kritik befürchtet.

    Ina wird nun aufgefordert, mit ihrem Referat zu beginnen. Sie erinnert daran, daß sie sich das Thema "Fantasie in der Schule" gewählt habe. Sie sagt kurz, worauf sie sich bei ihrem Referat stützt, nämlich auf eigenes Nachdenken über ihre Schulerfahrungen und auf kleine Interviews, die sie mit Schülerinnen und Schülern dieser Schule und mit Lehrerinnen und Lehrern geführt habe. Und dann sagt sie sinngemäß etwa folgendes: "Das Thema ist mir persönlich sehr wichtig. Ich entwickele gern eigene Vorstellungen und versuche, sie zu verwirklichen. Aber meiner Meinung nach kommt die Pflege von Fantasie in der heutigen Schule zu kurz, jedenfalls in der Schule, die ich früher erlebt habe, aber auch in einem Teil des Unterrichts dieser Schule! (Später wird diese Einschätzung von anderen Mitschülerinnen bestätigt.) - Besondere Chancen zur Pflege eigener Fantasie böten doch eigentlich, so sagt Ina, die Fächer Kunsterziehung und Musik".

    Dann grenzt sie das Thema auf den Kunstunterricht i. e. S. d. W. ein. Sinngemäß sagt sie etwa: "Ich male und zeichne sehr gern. Dieses Fach könnte eigentlich eines meiner Lieblingsfächer sein. Aber der Kunstunterricht an dieser Schule, jedenfalls der, den ich erlebt habe und noch jetzt erlebe, läßt nach meiner Einschätzung kaum Möglichkeiten, Fantasie zu entwickeln." An einer Stelle ihres Referats betont sie spürbar verärgert: "Mir geht es jetzt oft so, daß ich am liebsten wochenlang überhaupt nicht mehr zu diesem Unterricht hingehen würde." Sie nennt dafür zwei Gründe: Zum einen findet sie, daß die Themen, die im Kunstunterricht gestellt werden, viel zu eng gefaßt werden. Sie gäben ihr und anderen Mitschülern kaum Chancen, eigene Ideen zu entwickeln. Sie macht das an ein paar Beispielen deutlich, die dann später von anderen Schülern aufgegriffen und ergänzt werden. Zum Beispiel lautet eine Themenstellung nicht: "Stelle Dir eine südliche, tropische Landschaft am Meer vor, in der Du gern einen Urlaub verbringen würdest", sondern es heißt: "Tropische Insel im Meer", und dabei würden von vornherein weitere Festlegungen getroffen, z. B.: Die Insel müsse mitten im Meer liegen usw. - Zweitens werde dann, etwa beim malerischen Gestalten, auch die Farbskala, die bei den festgelegten Themen benutzt werde darf, noch einmal eng begrenzt, z. B. auf grün, blau und grau. Es gäbe für die Schülerinnen und Schüler dann gar keine Möglichkeit mehr, etwa ihre Lieblingsfarben ins Spiel zu bringen.

    Nach dem Referat, das etwa 8 Minuten gedauert hat, schaltet Ina eine kurze Diskussionsphase ein, die sie selbst leitet und die lebhaft verläuft. Allerdings beteiligen sich hier und später bis auf eine Ausnahme nur Mädchen an dieser Diskussion, und zwar etwa 8 von den 15 Schülerinnen. Sie bestätigen im wesentlichen Inas Einschätzung.

    Nach dieser Diskussionsphase sagt Ina, sie habe jetzt noch eine kleine Überraschung. Sie hat nämlich zwei Bilder mitgebracht, eines von ihrem jüngeren Bruder, das andere von einem Jungen, der nicht genannt werden wolle. Sie hängt diese Bilder an die Tafel und fordert ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auf, ihren Eindruck wiederzugeben und kleine Interpretationen zu versuchen. Die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler sind nach einer kleinen Überlegungspause sehr einfallsreich und durchaus unterschiedlich.

    Dann schließt sich eine weitere Diskussionsphase an, in der überraschenderweise folgende allgemeine Gesichtspunkte zur Sprache kommen: Die Einschätzung, die Rezeption und die Beurteilung von Bildern hängen offenbar von den Grundeinstellungen des Betrachters ab, möglicherweise von überdauernden Grundeinstellungen, möglicherweise aber auch von momentanen Stimmungen. (Ich schalte hier die Zwischenbemerkung ein: Die Schüler haben mit solchen Hinweisen im Ansatz einen wichtigen, generellen Aspekt des Problems der ästhetischen Rezeption erfaßt.) Daraufhin sagt eine Schülerin: "Wenn das so ist, dann muß man doch fragen: Wie ist es denn überhaupt möglich, Bilder, die Schüler im Kunstunterricht gestaltet haben, zu beurteilen? Kann es dann überhaupt objektive, allgemeine Maßstäbe für die Beurteilung geben?" Sie kritisiert an dieser Stelle ähnlich wie Ina wiederum, daß der Lehrer, der in dieser Klasse den Kunstunterricht erteilt, offensichtlich jeweils eine ziemlich feste Vorstellung von der Gestaltung eines bestimmten Themas vor Augen hat. Er lasse es nie auf ein Gespräch mit den Schülern darüber ankommen, was sie, die Schüler eigentlich an Gestaltungsideen und Vorstellungen in die bildnerische Gestaltung einbringen wollten.

    Am Schluß dieser Diskussion weiten mehrere Schüler die Perspektive noch einmal aus. Sie sagen sinngemäß: Die Pflege der Fantasie, die nach ihrem Eindruck in der Schule zu kurz kommt, hat nicht nur ihren Ort im Kunst- oder Musikunterricht, also in den ästhetischen Fächern, sondern sie ist z. B. auch eine notwendige Bedingung dafür, eine ganze Reihe von wichtigen gesellschaftlichen Gegenwarts- aufgaben in Angriff nehmen und lösen zu können. Sie verdeutlichen das am Beispiel der Bewältigung von Umweltproblemen. Hier sei heute und in Zukunft sehr viel kreative Fantasie, großer Einfallsreichtum notwendig, wenn man mit den ökologischen Gefahren fertig werden wolle.

    Die Lehrerin hat sich während der ganzen Stunde fast völlig zurückgehalten; das Gespräch ist im wesentlichen von den Schülern geführt und von Ina geleitet worden. Lediglich an einer Stelle, als es um die Deutung der Kinderbilder ging, hat Frau Sommer einen Jungen zum Mitdiskutieren aufgefordert. Sie sagte etwa: "Es wäre nett, wenn Du auch mal sagen würdest, was Du für einen Eindruck von dem Bild hast." - Übrigens hatte Ina den zweiten Hospitanden und mich in dieser Gesprächsphase ebenfalls aufgefordert, eines der Bilder spontan zu interpretieren, und wir haben das natürlich getan.

    Der Schluß der Stunde erhielt noch einen besonderen Akzent. Frau Sommer gab hier folgende Anregung, und ich habe sie in einem eigenen Diskussionsbeitrag nachhaltig dabei unterstützt: Es wäre schade, wenn das Ergebnis dieser Unterrichtsstunde nur innerhalb der Klasse bliebe. Die Schülerinnen und Schüler sollten doch einmal überlegen, ob sie die Argumente und die Kritik, die sie am Kunstunterricht geäußert hätten, und ihre konstruktiven Vorschläge aufschreiben und in die Kunsterzieherkonferenz einbringen wollten; Frau Sommer erklärt mir an dieser Stelle, daß die Schüler an dieser Schule offiziell das Recht zu solchen Eingaben hätten. - Die Kursgruppe hat diese Anregung aufgegriffen. Sie hat in der nächsten Kunststunde mit Frau Sommers Hilfe die kritischen Argumente und die Vorschläge in einem Brief an die Kunsterzieherkonferenz der Schule formuliert und um Diskussion gebeten.

    Die Darstellung des weiteren Verlaufs, über den ich mich informiert habe, würde das Thema dieses Beitrages überschreiten. [5] Es muß hier genügen, das bedauerliche, für die Schülerinnen und Schüler, für die Lehrerin und für uns Hospitanten enttäuschende Ergebnis mitzuteilen: Die Kunsterzieher-Konferenz hat die Anregungen des Kurses nicht aufgegriffen, sie vielleicht auch intern gar nicht diskutiert; jedenfalls hat sie der Kursgruppe nicht geantwortet oder ihr eine Diskussion angeboten. Die Kunstlehrer der Schule haben damit zweifellos eine wertvolle pädagogische Chance versäumt.

    Grenzen wir den Blick wieder auf die Arbeit der Lehrerin und ihrer Kursgruppe ein, so darf man trotzdem feststellen: Das Beispiel zeigt, welche produktiven Fähigkeiten schon bei 14/15jährigen Mädchen und Jungen durch einen Unterricht freigesetzt und gefördert werden können, der sich am Prinzip der Selbsttätigkeit als Hilfe zum Selbständigwerden junger Menschen orientiert.


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    Anmerkungen


    [1] ) Vgl. dazu folgende Quellenbände und Gesamtdarstellungen: Die Deutsche Reformpädagogik, hrsg. von W. Flitner und G. Kudritzki, Bd. I: Die Pioniere der Pädagogischen Bewegung. Düsseldorf/München 1961. - Bd. II: Ausbau und Selbstkritik. Düsseldorf/München 1962. (Beide Bände enthalten Quellentexte sowie Kommentare der Herausgeber.) - Die Reformpädagogik des Auslands, hrsg. von H. Röhrs. Düsseldorf/München 1965. - Wolfgang Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung 1900 - 1932. Eine einführende Darstellung. 7. Aufl. Weinheim/Basel 1980. - H. Röhrs: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa. 2. Aufl. Hannover 1983. - H. Röhrs (Hrsg.): Die Schulen der Reformpädagogik heute. Handbuch reformpädagogischer Schulideen und Schulwirklichkeit. Düsseldorf 1986.

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    [2] ) Vgl. W. Klafki / H. Stöcker: Innere Differenzierung des Unterrichts. In: W. Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 4. erw. Aufl. Weinheim 1994

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    [3] ) P. Huschke / M. Mangelsdorf: Wochenplan- Unterricht. Weinheim/Basel 1988. - I. Strote: Das Wochenplanbuch für die Grundschule. Heinsberg 1985. - M. Bönsch: Wochenplanarbeit - eine Form offenen Unterrichts. In: Die Deutsche Schule 1990, H. 3, S. 358 - 367. - M. Bönsch: Unterrichtskonzepte. Baltmannsweiler 1986. - M. Bönsch / K. Schittko (Hrsg.): Offener Unterricht. Hannover 1979. - J. Ramseger: Offener Unterricht in der Erprobung. München 1977. - D. Benner / J. Ramseger: Wenn die Schule sich öffnet. München 1981.

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    [4] ) Vgl. W. Klafki und Koautoren: Schulnahe Curriculumentwicklung und Handlungsforschung. Weinheim/Basel 1982, bes. P. Huschke: Wochenplan-Unterricht - Entwicklung, Adaption, Evaluation, Kritik eines Unterrichtskonzepts und Perspektiven für seine Weiterentwicklung, S. 200 - 277. - S. dazu die in Anm. 3 genannte Veröffentlichung von Huschke / Mangelsdorf.

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    [5] ) Ausführlicher habe ich den Vorgang in den Abschnitten V und VI des folgenden Beitrages dargestellt: Schülermitbestimmung in der Schule - ein fruchtbarer Ansatz und eine verspielte Chance: In: W. Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 4. erw. Aufl. Weinheim 1994.

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