Klafki, Wolfgang: Vorwort. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k02.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Vorwort. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 1-7.


Wolfgang Klafki

Vorwort

Den in diesem Band zusammengefaßten neun Beiträgen liegen Vorträge zugrunde, die ich während einer Vortragsreise in Japan in der Zeit vom 15.10. bis zum 06.11.1990 an staatlichen und privaten Universitäten in Tsukuba, Tokyo (Tamagawa-Universität), Osaka (Kansei-Gakuin und Staatliche Universität), Kyoto (Universität, Vortrag in Verbindung mit dem Goethe-Institut), Hiroshima, Fukuoka (Universität/ Pädagogische Hochschule) und Kagoshima sowie im Rahmen einer Tagung der Japanischen Gesellschaft für Philosophie der Erziehung in Tokyo und im Forschungskreis für deutsche Bildung und Erziehung (im Nationalen Institut für pädagogische Forschung in Tokyo) gehalten habe. Insgesamt handelte es sich um 12 Vorträge, die - mit einer Ausnahme - mit anschließenden Aussprachen und mehrfach auch mit Seminaren verbunden waren.

Mir liegt daran, in diesem Vorwort zunächst Freude und Dank zum Ausdruck bringen, dafür

Besonderen Dank sagen wir


Die Vorträge bilden keinen systematisch geschlossenen Zyklus, denn die Themen sind aus einem größeren Angebot, das ich vor der Reise übersandt hatte, von den Kollegen der verschiedenen Universitäten bzw. pädagogischen Gesellschaften nach dem dort jeweils vorwaltenden Interesse ausgesucht worden. Aber die Probleme, die ich behandelt habe, weisen doch viele wechselseitige Beziehungen auf, und ich habe bei den Vorträgen und besonders in den überarbeiteten Druckfassungen oft darauf hingewiesen. Vor allem sind die einzelnen Beiträge durch die Orientierung an grundlegenden pädagogischen Prinzipien miteinander verbunden, denen ich mich in meiner erziehungswissenschaftlichen Arbeit und in meinen Bemühungen, eine praxisbezogene, reformorientierte Forschung und Theoriebildung zu betreiben, verpflichtet weiß: den Prinzipien einer humanen und demokratischen Erziehung. Ihre Bedingungen angesichts sich wandelnder geschichtlicher Verhältnisse aufzuklären und ihre Verwirklichungsmöglichkeiten zu ermitteln und zu fördern, betrachte ich als die zentrale Aufgabe der Erziehungswissenschaft; ich konzipiere sie deshalb als eine kritisch-konstruktive Disziplin. Dabei ist mir im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden, daß die jeweils besonderen pädagogischen Probleme jedes Volkes und jedes Staates zu den übergreifenden internationalen Aufgaben, Bedrohungen und Möglichkeiten in Beziehung gesetzt werden müssen, mit denen wir heute konfrontiert sind und mit denen sich die nachwachsende Generation wird auseinandersetzen müssen. Auch für die praktische Erziehung und die Erziehungswissenschaft gilt in zunehmendem Maße: Wir leben letztlich in einer Welt, für deren Gestaltung wir gemeinsame Verantwortung tragen. Das schließt kulturelle, gesellschaftliche, politische Vielfalt nicht aus, sondern könnte sie in neuer Weise freisetzen: als tolerantes Miteinander-Leben, wechselseitige Anregung und Förderung, Kooperation an den universalen Aufgaben unter Anerkennung unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten.

Der erste Teil des Bandes umfaßt drei Beiträge zur Theorie der Erziehungswissenschaft. Der erste Vortrag stellt - konzentriert auf die m. E. bleibende Bedeutung, aber auch auf die Grenzen und die notwendigen Veränderungen - noch einmal jene Richtung der Erziehungswissenschaft dar, die in der japanischen Pädagogik, in Fortsetzung der Herbart-, Pestalozzi- und Fröbel-Rezeption, unter den Richtungen der deutschen Pädagogik unseres Jahrhunderts nach meiner Kenntnis bisher die meiste Beachtung gefunden hat: die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, aus deren Gedankenkreis ich ursprünglich herkomme. - Ihre Leistungen gehen in jenes Konzept ein, das ich seit etwa 20 Jahren unter dem Titel "Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft" zu entwickeln versuche und dessen Grundlinien das Thema des zweiten Vortrages bilden: eine am Humanisierungs- und Demokratisierungsgedanken orientierte Konzeption, die, methodisch gesehen, historisch-hermeneutische, empirische und gesellschaftsanalytisch-ideologiekritische Verfahren in ihrer wechselseitigen Bezogenheit miteinander verbindet. - Ein zentraler Aufgabenkomplex dieses umfassend angelegten Theoriekonzepts bildet das Thema der dritten Vorlesung: Es geht um den Beitrag einer so verstandenen Erziehungswissenschaft zur positiven Bestimmung von Zielen der Erziehung. Indem ich hier die Diskursethik von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel in die Überlegungen einbeziehe, bringt dieser Beitrag eine wesentliche Erweiterung meiner früheren Veröffentlichungen zur kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft zur Sprache. [*] .

In den Beiträgen des zweiten Teils dieses Sammelbandes lege ich die Akzente auf Konsequenzen, die aus meinem Ansatz für die Gestaltung der Schule und der Lehrerbildung folgen. Im Mittelpunkt des vierten Vortrages, der Grundzüge internationaler Erziehung entwickelt, steht die These, daß in einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Schule - insbesondere in den sogenannten entwickelten Gesellschaften angesichts ihrer globalen politischen, ökonomischen und humanitären Verantwortung - die Auseinandersetzung mit "Schlüsselproblemen" unserer historischen Epoche einen der Schwerpunkte ihrer inhaltlichen und methodischen Arbeit bilden muß: mit Krieg und Frieden, mit der Erhaltung oder Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, mit dem Abbau gesellschaftlicher Ungleichheit innerhalb und zwischen sozialen Klassen und Schichten, Völkern, Staaten, Erdteilen bzw. Weltregionen, mit Liebe und Sexualität als Grundphänomenen menschlicher Beziehungen usf. Das hat weitgehende Konsequenzen für die Gestaltung der Curricula, der Beziehung von Schule und außerschulischer Wirklichkeit, für die Neugestaltung des Verhältnisses von fächerübergreifendem Unterricht und Fachunterricht, für die Unterrichtsorganisation, die pädagogischen Methoden usf. - Damit wird zugleich die Leitfrage des fünften Vortrages gestellt: die Frage nach Kriterien für eine zeitgemäße, humane und demokratische Kinder- und Jugendschule, eine "gute Schule", die von jungen Menschen ebensosehr als ein hier und heute sinnvoller Raum kind- und jugendgemäßer Erfahrungen, Begegnungen und Lernprozesse als auch als eine Einführung in die Anforderungen und Möglichkeiten der voraussehbaren Zukunft erlebt und begriffen werden kann. - Eine solche Schule, die dem Aufwachsenden zur Herausbildung eigener Erkenntnis-, Urteils- und Handlungsfähigkeit verhelfen will, immer verbunden mit der Entwicklung sozialer und politischer Verantwortlichkeit, muß sich zentral am Grundsatz der Selbständigkeit als Prinzip des Lernens orientieren; sie muß diesen Kerngedanken der internationalen Reformpädagogik unseres Jahrhunderts, in der unter anderem auch Bestrebungen wie die Kunioshi Obaras und Sukeichi Shinoharas ihren Ort haben, aufnehmen und weiterdenken. Dazu soll der sechste Vortrag über "Selbsttätigkeit als Grundprinzip des Lernens - Wiederaufnahme und Weiterentwicklung einer reformpädagogischen Idee und ihrer Verwirklichung in der Schule" Anregungen geben. - Diesen Zweiten Teil des Bandes schließt der siebente Beitrag über "Pädagogisches Verstehen - eine vernachlässigte Aufgabe der Lehrerbildung" ab. Er macht auf eine wichtige Bereitschaft und Fähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer aufmerksam, die für fruchtbare Erziehungs- und Lernprozesse, für die humane Atmosphäre einer "guten Schule", für die menschlichen Beziehungen zwischen Lehrenden und jungen Menschen fundamental ist: die Bereitschaft und die Fähigkeit, Kinder und junge Menschen als Personen mit eigenen Sichtweisen, Wünschen, Interessen, Schwierigkeiten und Nöten wahrzunehmen, also von der Erwachsenenperspektive immer wieder zur Perspektive der jungen Menschen hinüberzuwechseln. Eine solche Einstellung ist erlernbar. Ich habe aber den Eindruck, daß die Lehrerbildung nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern der Welt die Bedeutung dieses Problems nicht hinreichend erkannt hat und daher wenig Anregungen und Hilfen zur Entwicklung einer solchen Sichtweise und der entsprechenden Kompetenzen angehender oder praktizierender Lehrerinnen und Lehrer bereitstellt. Der Vortrag mündet in entsprechende Vorschläge aus, die Aufgabe konkret in Angriff zu nehmen.

Der dritte Teil könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als ginge es darin allein um ein spezifisches Problem der jüngeren deutschen Geschichte in ihrer Bedeutung für Erziehung und Erziehungswissenschaft. Indessen: Der Faschismus trat in unserem Jahrhundert bekanntlich als international bedeutsames Phänomen auf, in einer Mehrzahl politischer Varianten; der deutsche Nationalsozialismus war zwar seine extremste, furchtbarste Ausprägung, aber keineswegs die einzige. Überdies haben Teilelemente des historischen Faschismus - so etwa Rassendiskriminierung, Nationalismus als Übersteigerung des Lebensrechtes der Nationen zum Herrschaftsanspruch einer Nation über andere Völker, Militarismus, autoritäre politische Herrschaftsstrukturen, totalitäre Formierung der Gesellschaft, insbesondere der Jugend u. ä. - den Untergang des Nationalsozialismus und das Ende einiger anderer faschistischer Systeme überlebt. Insofern kann man die seit einigen Jahren in der deutschen Erziehungswissenschaft sehr kontrovers geführte Diskussion darüber, ob zwischen der deutschen Pädagogik vor 1933 - auch der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik - und dem Erziehungs- bzw. Formierungsprogramm des Nationalsozialismus wirklich ein tiefer Bruch eingetreten ist oder ob es hier mindestens starke, bis heute weitgehend verschwiegene Kontinuitätslinien gegeben hat, als einen Versuch betrachten, die in der Gegenwart nachwirkende Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten, anders formuliert: als ein deutsches Exempel für die generell bedeutsame Frage, unter welchen historisch-politischen Bedingungen und infolge welcher Denk-Defizite theoretische und praktische Pädagogen für Ideologien moderner Diktaturen anfällig werden können. Das ist die übergeordnete Leitfrage des achten Vortrages. - Der neunte und letzte Vortrag dieses Bandes beleuchtet den Problemkomplex "Erziehung und Nationalsozialismus" unter anderem Blickwinkel: Ich stelle Ergebnisse eigener und verwandter Forschungen zur Frage dar, wie sich die Einflußfaktoren - Familie, Schule, NS-Jugendorganisationen, Propaganda, Begegnungen mit Systemkritikern, Widerständlern und Opfern des NS-Systems - sowie die Formen und die Wirkungen der Erziehungs- bzw. Formierungspraxis während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland in biographischen Darstellungen von Personen spiegeln, die, wie ich selbst, ihre Kindheit und Jugend ganz oder weitgehend in der Zeit zwischen 1933 und 1945 erlebten. Ich vermute, daß der Vergleich von Erscheinungsformen und Wirkungszusammenhängen kindlicher und jugendlicher Entwicklung im Nationalsozialismus und in anderen Diktaturen des 20. Jahrhunderts trotz inhaltlicher Unterschiede oder sogar Gegensätze der politischen Systeme zahlreiche Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen aufweist.

Abschließend danke ich meinen Mitarbeiterinnen, Frau Christel Rincke und Frau Heide Held, für die Anfertigung der Manuskripte und Frau stud. phil. Barbara Wendler für etliche technische Hilfen.

Marburg, im Mai 1991
Wolfgang Klafki [**]


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Anmerkungen


[*] ) Vgl. W. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, ins Japanische übersetzt von M. Ogasawara und M. Morikawa, Tokyo 1984.

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[**] ) In diesem 1993 hergestellten Typoskript habe ich die 1991 für die Übersetzung ins Japanische vorgelegte Textfassung an wenigen Stellen sprachlich geringfügig korrigiert und bei einzelnen Beiträgen einige Anmerkungen ergänzt. -
Internetfassung (Juni 1998): Dietmar Haubfleisch.

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