Zusammenfassung:
Geiselstellungen, von Werner Ogris unter die „Archetypen des Rechts“ gezählt (ders., Geisel, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2., völlig überarb. und erw. Aufl., Berlin 2008, Sp. 2006–2010, hier: Sp. 2006), waren während des gesamten Mittelalters ein gängiges Instrument, Vertrauen zu schaffen und einen Vertrag u. ä. abzusichern. Diese Dissertation untersucht die diesbezüglichen hoch- und spätmittelalterlichen rechtlichen Normen. Hauptquellen hierfür sind das Corpus Iuris Civilis sowie das Corpus Iuris Canonici. Darüber hinaus werden andere Rechtsquellen wie königliche Konstitutionen und Urkunden, territoriale oder städtische Rechte (iura propria), Rechtsbücher etc. und deren Interpretation durch die mittelalterlichen Juristen in Bezug auf die Regelungen der Geiselstellung analysiert.
Der (ost-)römische Kaiser Justinian (Herrschaft: 527–565) erließ zwischen 529 und 534 mit späteren Novellen verschiedene Rechtswerke, die seit dem 13. Jahrhundert zusammenfassend als Corpus Iuris Civilis bezeichnet werden. Im Zuge der justinianischen Rückeroberungen ehemals römischer Gebiete im lateinischen Westen wurden diese Legislationen z. B. auch in Italien formal in Kraft gesetzt. Von besonderem Interesse sind hierbei die Digesta oder Pandectae (erlassen 533), eine bearbeitete und interpolierte Auswahl von Schriften klassischer römischer Juristen, insbesondere des 2. und 3. Jahrhunderts. Im gesamten Corpus Iuris Civilis werden Geiseln (lat. obsides) nur darin, und zwar an vier bzw. fünf Stellen, direkt erwähnt (Dig. 28.1.11, Dig. 48.4.1 § 1, Dig. 48.4.4 pr., Dig. 49.14.31–32).
Innerhalb des Corpus Iuris Canonici – eine zusammenfassende Bezeichnung für mehrere kanonische Rechtskompilationen, angefangen mit dem Decretum Gratiani (um 1140), ein privates Sammelwerk des in Bologna dozierenden Gratians – sind Geiselstellungen einmal im Decretum und zweimal in dem durch Papst Gregor IX. 1234 promulgierten Liber extra angeführt (DG C. 23 q. 8 c. 18, X 1.43.11, X 2.24.9). Hierbei stehen die Geiselstellungen selbst allerdings nicht im Mittelpunkt des Interesses, sondern sind jeweils in andere Kontexte eingebettet. Dennoch sind diese Erwähnungen zum einen aufschlussreich über die pontifikale Einbindung in die Übergabe von Geiseln; andererseits zeichnen sie die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umbrüche nach, die das lateinische Europa ab dem hohen Mittelalter erfassten.
Die Normen der Hauptquellen zu Geiselstellungen werden in einen dia- und synchronen Vergleich gebracht, der insbesondere die Interpretation dieser Rechtsstellen durch die hoch- und spätmittelalterliche legistische und kanonistische Jurisprudenz berücksichtigt. Speziell für das römisch-justinianische Recht muss diese mittelalterliche Exegese mit dem antiken Sinn der Normen gegenübergestellt werden, da im lateinischen Westen keine durchgehende Beschäftigung mit den justinianischen Rechtstexten bestand, die zwischen dem 7. und 11. Jahrhundert großteils in Vergessenheit gerieten. Deren ‚Wiederentdeckung‘ führte die Jurisprudenz zu einem neuen Höhepunkt, der untrennbar mit der Entstehung der Rechtsschule von Bologna verbunden ist. Im ganzen lateinischen Europa kamen in der Folge weitere Rechtsschulen/Universitäten auf, an denen römisch-ziviles und kirchlich-kanonisches Recht akademisch adaptiert, verbunden und – oftmals als ‚utrumque ius‘ (‚beide Rechte‘) oder, nicht immer deckungsgleich, als ‚ius commune‘ (‚Gemeines Recht‘) bezeichnet – argumentativ verschmolzen wurden.
Die Dissertation zeigt, wie die hoch- und spätmittelalterlichen Juristen, u. a. Accursius, Bartolus de Saxoferrato, Henricus de Segusio oder Nicolaus de Tudeschis, die Geiselnormen aufgrund beider Rechtssphären bewerteten und bearbeiteten. Darüber hinaus wird die Forschungsfrage untersucht, ob die ‚Wiederentdeckung‘ der justinianischen Rechtsquellen sowie die aufkommende legistische und kanonistische Jurisprudenz Einfluss auf die gegenüber früheren Epochen starken Veränderungen der Geiselstellungspraxis seit dem 11. und 12. Jahrhundert nahmen. Die kritische Betrachtung historischer Beispiele legt dar, inwiefern rechtliche Normen und tatsächlicher Ablauf der Geiselschaft im hohen und späten Mittelalter übereinstimmten.