Zusammenfassung:
Vilém Flusser, 1920 als Tscheche in Prag geboren und 1991 als Brasilianer bei Bor u Tachova in der Tschechoslowakei tödlich verunglückt, wirkte als Philosoph, Publizist, Dozent und Medientheoretiker in fünf Sprachen und vier Ländern.
Seine Flucht aus Prag 1940 und die Ermordung seiner Familie erfuhr Flusser als prägende existentielle Krise dauerhaft anhaltender Bodenlosigkeit. Seine Zielsetzung, an der Herausbildung einer neuen Gesellschaft in Brasilien mitzuwirken, zerschlug sich, so daß er 1973, nach drei Jahrzehnten in São Paulo, nach Frankreich zog. Weil sein Werk in vier Sprachen verfaßt, über viele Verlage verstreut und zudem einseitig als Medientheorie vermarktet worden ist, wurde er als phänomenologisch orientierter Kulturtheoretiker und –kritiker bislang nur marginal wahrgenommen. Allerdings wächst heute, 18 Jahre nach seinem Tod, Flussers Ruf als ausgesprochen origineller Philosoph, vor allem in Brasilien, Mitteleuropa und seit kurzem auch in englischsprachigen Ländern.
Vilém Flussers Schriften kreisen um den epochalen Übergang von einer Kultur des „linearen Denkens“ (das auf der Schrift basiert und Kritik und Geschichtlichkeit impliziert) hin zu neuen Formen der Kommunikation mittels technischer Bilder und digitaler Codes. Die von Flusser skizzierte Hoffnung besteht dabei darin, daß die Implementierung der neuen Kommunikationstechnologien trotz ihres Gefährdungspotentials im Sinne einer diskursiven Massifizierung eine telematische Gesellschaft ermöglicht, die von der Anerkennung Anderer im Dialog geprägt ist.
Die Dissertation ist als kritische Gesamtdarstellung Flussers – als erster Versuch dieser Art überhaupt – angelegt. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist die Repositionierung Flussers als Kommunikationsphänomenologen mit auf die Gesellschaft gerichteten Wirkungsabsichten.
Auf eine einführende, biographische Darstellung Flussers folgt eine Untersuchung verschiedener Aspekte von Flussers Denken. Breiten Raum nimmt die Evaluation der Kritik an Flusser sowie seine Rezeptionsgeschichte ein. Auf eine kritische Darstellung der Themenkomplexe der medialen Codes, des Dialogs und des Apparats folgt die des flusserspezifischen Konzepts der „Menschwerdung“.
Hierbei verbinden sich medienphänomenologische, kommunikationstheoretische und kulturanthropologische Fragestellungen mit einer genaueren Untersuchung des ganz konkreten tschechisch-deutschen und jüdisch-altösterreichischen Umfelds, aus dem heraus Flusser seine Überlegungen und Thesen entwickelt hat. Aus einer topographisch-ideengeschichtlichen Perspektive kann Flusser als einer der letzten aktiven Vertreter der kurzen aber ungeheuer ergiebigen kulturellen und geistigen Blüte des jüdisch-tschechisch-deutschen Kulturraums Böhmens und Mährens angesehen werden, der mit dem Einmarsch der Deutschen in Prag 1939 ein jähes Ende fand. Die unter Einbeziehung dieser altostmitteleuropäischen Hintergründe entwickelte These lautet, daß es für ein fruchtbares Verständnis von Flussers Denkentwicklung nützlich ist, in ihr eine Projektion der Prager Vergangenheit auf die brasilianische Zukunft zu erkennen. In einem entsprechenden Licht sind auch die Konsequenzen zu sehen, die Flusser aus dem Scheitern des „Projekts Brasilien“ zog.
Die Denkbemühungen des Flussers dieser späten Phase zielen auf die Entwicklung einer Theorie der technischen Bilder als Grundlage einer umfassenderen Kulturtheorie. Die Theorie der Technobilder versteht sich als Kritik des „allgemeinen Kulturapparats und der Stellung des Menschen in ihm“, denn die „gegenwärtige Kulturrevolution ist technisch, nicht ideologisch“.
Im Laufe seines Lebens wandelte sich Flusser vom politischen Kulturpraktiker zu einem phänomenologischen Kulturtheoretiker, der sich kommunikationsphilosophischer Mittel bediente, um überlieferte Philosophie unter medialen Bedingungen neu zu formulieren. Er verfolgte dabei nicht allein das Ziel der Sinnstiftung des Einzelnen, sondern vor allem (und hier entwickelt Flusser Martin Bubers Konzept vom „dialogischen Leben“ entscheidend weiter) der Gesellschaft: Die Zirkulation neuer Information in in der Gesellschaft ist ein kulturelles Erfordernis. Sie kann nur im Dialog geschehen.
Aufgrund der Situation, in der er lebte, mußte sich der Kulturphilosoph Flusser als Kommunikologe betätigen; er mußte mehr sein als ein Medientheoretiker: Kulturtheoretiker und Philosoph. Als übergeordnetes Interesse seines Denkens wird die Verbindung der Sinngebung Einzelner im Dialog mit dem Funktionieren von Gesellschaft erkennbar. Flusser strebte an, eine theoretisch fundierte Grundlage für die Erhaltung der Entwicklungsmöglichkeit und Gestaltung gegenwärtiger und künftiger Kultur unter von Apparaten dominierten Kommunikationsbedingungen zu schaffen.