Zusammenfassung:
Die Zeiten, in denen Augengläser etwas
Ungewöhnliches waren, sind heute längst vorbei. Beinahe jede(r)
Zweite trägt inzwischen ganz selbstverständlich eine Brille auf
der Nase und aus dem vormals unschönen ?Spekuliereisen? ist
längst ein modisches Accessoire geworden. Dass die Einstellung
der meisten Menschen zur Brille trotz allem zwiespältig ist,
wird gerade am Fehlen der Brille in vielen Bereichen deutlich:
Nach wie vor gibt es -- für das Kino Hollywoods ehernes Gesetz --
keine echten Filmstars mit Brille und wenn in einem Modejournal
attraktive Brillenträger(innen) abgebildet sind, dann handelt
es sich mit Sicherheit um die Werbeanzeige eines
Optikergeschäfts. Scheinbar unausrottbar -- und durch
psychologische Tests bestätigt -- ist aber nicht nur die
Auffassung, Brillen würden eine Person weniger attraktiv
erscheinen lassen, sondern auch die Behauptung, Brillenträger
seien besonders intelligent -- oder würden jedenfalls so
aussehen. Viele dieser Einschätzungen haben ihre Wurzeln in der
langen Geschichte der Brille. Rund 700 Jahre hat es gedauert,
bis sie sich vom einfachen Leseglas zum präzisen optischen
Instrument und vom Luxusartikel zum alltäglichen
Gebrauchsgegenstand entwickelt hat. Zu den entscheidenden
Voraussetzungen dieses Siegeszuges gehörten die technische
Verbesserung der Gläser und Brillengestelle, wichtige
Fortschritte in der Augenheilkunde, die Entstehung des modernen
Optikerwesens und nicht zuletzt die Einführung einer
öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Gleichzeitig ist die
einzigartige Karriere der Brille ein Stück "Augengeschichte":
Die Tatsache nämlich, dass sich korrigierende Gläser erst
innerhalb der letzten 150 Jahre in allen Gesellschaftsschichten
durchsetzten, hängt mit einer rapiden Veränderung der
Sehgewohnheiten in dieser Zeit zusammen. Durch veränderte
Arbeitsbedingungen, die Entstehung des modernen Straßenverkehrs
aber auch durch neue Freizeitbeschäftigungen wie Kino,
Unterhaltungslektüre oder Schaufensterbummel wurde scharfes und
rasches Sehen plötzlich zur wesentlichen Voraussetzung.
Menschen, die sich bis dahin kurz- oder weitsichtig durchs
Leben geschlagen, und oft kaum etwas von ihrer ?Behinderung?
bemerkt hatten, waren nun auf die Hilfe korrigierender Gläser
angewiesen. Seit ihrer Erfindung dient die Brille aber nicht
nur dem besseren Sehen, sie hat auch eine wichtige Bedeutung
als Stilmittel und modisches Accessoire. In ähnlicher Weise,
wie sich wohlhabende Bürger im 18. und 19. Jahrhundert mit
Scherenbrillen, Lorgnetten oder Monokeln in Szene setzten,
werden heute unterschiedliche Brillenfassungen zur
Unterstreichung und Inszenierung der eigenen Persönlichkeit
verwendet. In der vorliegenden Arbeit soll der Gegenstand
Brille aus all diesen Blickwinkeln betrachtet und dargestellt
werden. Der umfangreiche erste Teil handelt von der Geschichte
der Sehhilfe als technisches und medizinisches Instrument. Im
zweiten Teil wird beschrieben, wie sich das Sehen im Zuge der
Industrialisierung veränderte und welche anderen Umstände die
Ausbreitung von Brillen förderten. Während in den ersten
Abschnitten die optischen Linsen im Vordergrund standen,
beschäftigt sich der dritte Teil mit den Brillenfassungen. Hier
sollen Moden, Manieren, Gesten und Rituale rund um die Brille
untersucht werden. Zum einen interessiert dabei die Vielfalt
der Fassungsarten im ausgehenden 19. Jahrhunderts, zum anderen
die heutige Brillenmode.