Häufigkeit und Gründe ambulanter Arztkontakte - Eine Pilotstudie

Seit 2008 gilt im ambulanten Sektor Deutschlands eine zum Teil pauschalierte Vergütung. Dadurch lässt sich nicht mehr sicher sagen, wie viele Arztpraxis-Kontakte mit einem Quartalsabrechnungsfall verbunden sind, da nicht mehr jede Einzelleistung vergütet und zeitlich dokumentiert wird. Die Belastung...

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Main Author: Pham, Hung Son Christian
Contributors: Geraedts, Max (Prof. Dr.) (Thesis advisor)
Format: Doctoral Thesis
Language:German
Published: Philipps-Universität Marburg 2025
Subjects:
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Description
Summary:Seit 2008 gilt im ambulanten Sektor Deutschlands eine zum Teil pauschalierte Vergütung. Dadurch lässt sich nicht mehr sicher sagen, wie viele Arztpraxis-Kontakte mit einem Quartalsabrechnungsfall verbunden sind, da nicht mehr jede Einzelleistung vergütet und zeitlich dokumentiert wird. Die Belastung der Praxen und das Potenzial für vermeidbare Kontakte, etwa im Hinblick auf das 2024 eingeführte E-Rezept oder telefonische Krankschreibungen, sind daher nicht mehr quantifizierbar. Diese Pilotstudie testete daher, ob diese Informationen mithilfe einer teilnehmenden Beobachtung erhoben werden können und wie viele Arztpraxis-Kontakte aufgrund welchen Anlasses stattfinden. Hierfür nahmen 11 Praxen aus Mittelhessen teil, die das Spektrum der Haupt-Fachrichtungen, Standorte (Stadt/Land), Praxisarten und Öffnungszeiten ambulanter Arztpraxen in Deutschland repräsentieren sollten. Es wurden prospektiv alle Praxiskontakte innerhalb einer Arbeitswoche (5 Tage) in der Mitte des Quartals (Wochen 3-10) im Zeitraum 03/20-03/21 erfasst. Anhand der Planungsgruppen der Bedarfsplanungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses wurden folgende Versorgungsgruppen gewählt: hausärztlich (4), allgemein fachärztlich (6; Dermatologie, Gynäkologie, Neurologie, Orthopädie/Unfallchirurgie, Pädiatrie, Urologie), sowie spezialisiert fachärztlich (1; Kardiologie). Bei jedem Kontakt wurden der Kontaktanlass (akute Beschwerde; Kontrolle bei akuter Erkrankung; anderer Kontrolltermin/Monitoring bei chronischer Krankheit wie regelmäßige Kontakte im Rahmen von Disease Management Programmen, andere vorbekannte Erkrankungen zur regelmäßigen Kontrolle sowie sonstige Anlässe, die nicht in vorgenannte Kategorien fallen) und die Kontaktart (mit Arzt, ohne Arzt, nur Rezeptabholung, Arbeitsunfähigkeit, sonstige) sowie Geschlecht und Altersgruppe der Patienten erfasst. Zusätzlich ergänzten die Praxen aus ihren Routinedaten die Kontakthäufigkeit der jeweiligen Patienten im Beobachtungs- und Vorquartal. Nach der jeweiligen Beobachtungswoche übermittelten die Praxen die Anzahl der im Beobachtungsquartal insgesamt angefallenen Behandlungsfälle, um die Relation von Kontakt zu Fallzahl zu bestimmen. Die gewonnenen Daten wurden mit Excel® sowie SPSS® (Version 27) deskriptiv und inferenzstatistisch analysiert, wofür probatorische Chi2-Tests erfolgten. Es konnten alle studienrelevanten Daten erhoben werden. Insgesamt erfasste die Pilotstudie 3266 Praxiskontakte (57% durch Frauen, 43% durch Männer) in den jeweiligen Beobachtungswochen. Bezüglich der Kontakthäufigkeit eines Individuums, zeigte sich nach Geschlecht kein signifikanter Unterschied. Im Praxisdurchschnitt erfolgten 12% der Kontakte durch Minderjährige, 49% in der Altersgruppe 18-59, 28% bei 60-79-Jährigen und 11% bei über 79-Jährigen. Die Anlässe verteilten sich auf akute Anlässe zu 25%, Kontrolle eines akuten Anlasses zu 15%, andere Routine-Kontrollen zu 31% und sonstige zu 27%. Durchschnittlich erfolgten 62% der Praxiskontakte mit persönlichem Arztkontakt, 19% nur zur Rezeptabholung, 7% nur mit den Medizinischen Fachangestellten, (zum Beispiel zur Blutentnahme, Urinkontrolle), 2% nur für eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und 10% mit sonstigen Praxiskontakt-Gründen (zum Beispiel Abholen von Laborwerten, Hausbesuche, telefonische, nicht zur Terminvereinbarung erfolgte Kontakte). Hierbei zeigten sich teils deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Praxisgruppen: so dienten bei Hausärzten 33% der Praxis-Kontakte lediglich zur Rezeptabholung, bei Fachärzten 11%. Die Anzahl der Praxis-Kontakte pro Patient betrug durchschnittlich 2,2 in der Mitte des Beobachtungsquartals (Hausärzte 2,9; Fachärzte 1,8). Durchschnittlich hatten Patienten im Vorquartal (einschließlich derer, die keinen Kontakt im Vorquartal hatten) 2,0 Kontakte (Hausärzte 3,6; Fachärzte 1,1). Auf ein Jahr hochgerechnet, ergibt sich eine Kontakthäufigkeit von 16,9 Kontakten pro Jahr. Ein Abrechnungsfall geht im Durchschnitt mit 2,3 Kontakten (Hausärzte 3,3; Fachärzte 1,7) einher. Die Studie liefert Hinweise zum Ausmaß vermeidbarer Kontakte, beispielsweise indem knapp 43% der Hausarztpraxis-Kontakte bei über 60-Jährigen nur der Rezeptabholung dienten und 40% der Kontakte bei Fachärzten Routine-Kontrolltermine darstellten, für deren Frequenz wenig Evidenz vorliegt. Als Pilotstudie dürfen die Ergebnisse der Studie jedoch nur hypothesengenerierend interpretiert werden. Aufgrund der Stichprobengröße ist die statistische Aussagekraft nur eingeschränkt. Die Demographie Mittelhessens ist hinsichtlich der Alters- und Geschlechtsverteilung mit derjenigen der Bundesrepublik vergleichbar. Der Anteil von Praxiskontakten mit Arztkontakt unterscheidet sich deutlich von bisherigen Studien. Mögliche Ursachen hierfür kann die unterschiedliche Methodik, deren Bias-Möglichkeiten und der Einfluss der Covid-19-Pandemie sein. Die errechnete Relation von Kontaktzahl zu Abrechnungsfällen, ebenso wie die Anzahl der Kontakte pro Jahr liegt zwischen den im Arztreport 2008 (2,5 Kontakte pro Abrechnungsfall, 17,7 Kontakte pro Jahr; [Daten aus 2007]) und Arztreport 2022 (1,8 Kontakte pro Abrechnungsfall, 15,1 Tage mit abgerechneten Leistungen [Daten aus 2020]). Die Einschätzung aus dieser Studie erscheint demnach probat. Wesentliche Indikatoren bezüglich der Kontakthäufigkeit und Kontaktart sind das Alter sowie die Praxisgruppe, insbesondere ob Fach- oder Hausarzt. Erste Hinweise auf einen Einfluss des Praxisstandortes sind gegeben, bedürfen jedoch weiterführender Untersuchungen. Die Kontaktarten, insbesondere „nur Rezeptabholung“, die mit 19% (bei Hausärzten 33%) der Kontakte ausmachen, zeigen Potentiale zur Senkung der Nachfrage nach Praxisleistungen, wie durch das 2024 eingeführte E-Rezept.
DOI:10.17192/z2025.0149