Klinische Ethikberatung in der Neonatologie in Deutschland – eine Bestandsaufnahme
Die Behandlung Frühgeborener an der Grenze zur Lebensfähigkeit und Reifgeborener mit komplexen Fehlbildungen ist durch verbesserte intensivmedizinische Maßnahmen zunehmend möglich, so dass immer mehr Neugeborene auch bei extremer Unreife oder Fehlbildungssyndromen, kurz- oder langfristig überleben k...
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Contributors: | |
Format: | Doctoral Thesis |
Language: | German |
Published: |
Philipps-Universität Marburg
2022
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Summary: | Die Behandlung Frühgeborener an der Grenze zur Lebensfähigkeit und Reifgeborener mit komplexen Fehlbildungen ist durch verbesserte intensivmedizinische Maßnahmen zunehmend möglich, so dass immer mehr Neugeborene auch bei extremer Unreife oder Fehlbildungssyndromen, kurz- oder langfristig überleben können. Allerdings gelingt dies oft nur zu dem Preis von Komplikationen und/oder Einschränkungen. In der Neonatologie entstehen daher vielfach diffizile Situationen, die Entscheidungen erfordern, die nicht alleine durch die medizinische Sachlage zu lösen sind. Neonatologische Behandlungsteams sind daher im Rahmen ihrer Tätigkeiten häufig auch wertbehafteten, ethischen Konflikten ausgesetzt, beispielsweise wenn es um Fragen einer Therapiebegrenzung oder eines Therapieabbruchs geht. Alle Beteiligten können in diesen kritischen Situationen durch klinische Ethikberatung unterstützt werden. Es handelt sich um ein Instrument, dessen Implementierung in deutschen Krankenhäusern im letzten Jahrzehnt erheblich ausgebaut wurde und immer mehr Anwendung und Anerkennung erfuhr. Es lagen jedoch keine Informationen zur Frage der Implementierung von Ethikberatung im noch relativ jungen Fachgebiet der Neonatologie vor. Deren medizinische Möglichkeiten, aber auch die zu bewältigenden Herausforderungen, sind in den letzten Jahrzehnten immer weiter angewachsen, wobei sie sich relevant von der Erwachsenenmedizin unterscheidet. Gerade deshalb ist die Frage, ob und in welcher Form Ethikberatung in der deutschen Neonatologie etabliert ist, von besonderer Relevanz. Die vorliegende Arbeit widmete sich daher der Frage, ob und wie Ethikberatung auf neonatologischen Intensivstationen in Deutschland implementiert, genutzt und wie sie von den Behandlungsteams bewertet wurde.
Zur Versorgung der kleinsten Patient*innen sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten Perinatalzentren (PNZ) etabliert worden. Es handelt sich dabei um Einrichtungen für die interdisziplinäre Versorgung von Risikoschwangeren und Frühgeborenen sowie Reifgeborenen mit besonderen Problemen. Die pädiatrischen Chefärzt*innen (CÄ) (n=213) [FB A] sowie die Leitenden der jeweiligen NICU (Oberärzt*innen/Pflegepersonal) [FB B] dieser deutschen PNZ sind mittels zweier Fragebogen [FB A+B] zur Etablierung, Nutzung und Bewertung von Ethikberatung angeschrieben worden. Die Fragebögen enthielten quantitative Fragen und Freitexte. Die anonymisierten Daten wurden mit den Methoden deskriptiver Statistik und qualitativer Freitextauswertung analysiert. Neunzig Prozent der CÄ (Rücklauf des FB A 39%) gaben an, dass Ethikberatung überwiegend in Form eines klinischen Ethikkomitees (78%) etabliert sei und für ihr PNZ zur Verfügung stehe. Jedoch wurde Ethikberatung in 17% gar nicht und in 49% nur selten (alle 4-6 Monate) genutzt. Ethikberatung wurde insgesamt als (sehr) hilfreich bewertet (7,9). Die Einschätzung, wie hilfreich Ethikberatung ist, unterschied sich hoch signifikant in den Gruppen unterschiedlicher Nutzung (F(3,76)=4,869, p=0,004). Von den Leitenden der NICU [FB B] (20 CÄ, 56 OÄ, 52 PP) gaben 70% an, Ethikberatung zu nutzen. Sie wurde dabei überwiegend als sehr nützlich (8,3) und als Unterstützung im klinischen Alltag wahrgenommen (8,5). Die Anzahl der Ethik-Fallberatungen korrelierte signifikant sowohl mit der Einschätzung der generellen Nützlichkeit (r=0,224, p=0,033) als auch mit der empfundenen Unterstützung (r=0,41, p<0,001). Die Pflegenden (M=8,8, SD=1,4) fühlten sich durch Ethikberatung etwas mehr unterstützt als die Ärzt*innen (M=8,0, SD=2,0) (t=-2,298, p=0,23, cohen´s d=0,42).
Die Beratungsanlässe ließen sich überwiegend drei ethischen Themenfeldern zuordnen: (1) gewünschte strukturierte Reflektion im Team bei prognostischer Unsicherheit / Unklarheit, (2) (moralischer) Dissens sowie (3) moralische Konflikte. Inhaltlich drehten sich die Fragestellungen größtenteils um Therapiebegrenzung bzw. -umstellung bei Früh- oder Reifgeborenen mit Komplikationen. Von der Mehrheit der Teilnehmenden wurden positive Effekte durch Ethikberatung benannt: reflektierte, strukturierte Entscheidung unter Einbezug einer „neutralen Instanz“ und aller beteiligten Professionen, erhöhte (rechtliche) Sicherheit, emotionale Entlastung und Verbesserung der Kommunikation im Team. Als Hürden wurden sowohl interne (Abhängigkeit von Hierarchien und der Einstellung der Teammitglieder zur Ethikberatung) als auch externe Gründe (logistische Schwierigkeiten, fehlende zeitliche Ressourcen, hohe emotionale Herausforderungen oder fehlendes neonatologisches Hintergrundwissen der Berater*innen) genannt.
Es kann daher festgestellt werden, dass auf deutschen neonatologischen Intensivstationen klinische Ethikberatung überwiegend zur Verfügung stand, aber eher selten genutzt wurde, obwohl sie von ärztlichem wie pflegerischem Personal als nützlich und hilfreich empfunden wurde. Es bestand ein Zusammenhang zwischen der Nutzung und der positiven Bewertung von Ethikberatung, wobei aufgrund des dahinterstehenden Kausalitätsproblems nicht beantwortet werden kann, ob die Nutzung von der Bewertung oder die Bewertung von der häufigeren Nutzung abhing. Die unterschiedliche Bewertung der Ethikberatung von Ärzt*innen und Pflegenden weist auf Effekte der Versorgungsnähe hin, außerdem ist die unterschiedliche Bewertung ein starkes Argument für eine niederschwellige Zugänglichkeit von Ethikberatung. Letzteres würde auch durch den Abbau logistischer Schwierigkeiten befördert. Ethikberater*innen sollten zudem für Moderationen auf der NICU über spezifisches neonatologisches Hintergrundwissen verfügen.
Die (noch) eher zurückhaltende Nutzung von Ethikberatung auf den neonatologischen Intensivstationen legt nahe, dass Ethikberatung im Rahmen von niederschwelligen, präventiven Angeboten noch dienlicher sein könnte. Ethikvisiten und Liaisondienste nach dem Marburger Modell könnten Ethikberatende darin unterstützen, mit neonatologischen Fragestellungen Erfahrung zu sammeln, und gleichzeitig das interprofessionelle und interdisziplinäre Behandlungsteam für ethische Fragen zu sensibilisieren und ethische Kompetenzen zu stärken. |
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DOI: | 10.17192/z2023.0606 |